So viele neue Praktiken gehen auf Rudolf Steiner zurück: Eurythmie, Waldorfpädagogik, biologisch-dynamische Landwirtschaft, anthroposophisch erweiterte Medizin. Immer nennt er als Quelle ‹Geisteswissenschaft›. Wer war er als Forschender?
Rudolf Steiners grundlegende Innovation war wohl die Geistesforschung, die Erweiterung des Erkennens in dem Bereich des Übersinnlichen. ‹Erkennen›, so sagt er in seinen philosophischen Frühschriften, beinhalte die Verknüpfung von Wahrnehmung und Begriff. Das gilt gleichermaßen für sinnliche und für übersinnliche Erkenntnis. Jeweils wird die Wahrnehmung durch Organe vermittelt. Während die sinnlichen Organe uns Menschen normalerweise angeboren sind, müssen wir die übersinnlichen selbst entwickeln. Die Sinnesorgane werden mit dem Leibsein gegeben. Die seelischen Organe übersinnlicher Wahrnehmung sind zwar in jedem Menschen veranlagt, aber zunächst tief begraben und nicht entfaltet.
Wäre es anders, könnte man sie nicht betätigen und zugleich frei sein. Das mag in grauer Vorzeit der Fall gewesen sein. Genau genommen waren die übersinnlichen Organe einst zur Hälfte wirksam und wurden dann verschüttet. Wird jetzt die zweite Hälfte entwickelt, treten auch die alten Anlagen wieder hervor. Manche Menschen möchten zurückkehren zur früheren Zeit und übersinnliche Wahrnehmung durch Aufgabe individueller Freiheit und Verantwortung erlangen. Rudolf Steiner geht es hingegen um deren Verbindung. Individuelle Freiheit ist die Frucht der modernen Zeit und der mit ihr einhergehenden zeitweiligen Einschränkung des Bewusstseins auf sinnliche Wahrnehmung. Soll menschliche Zivilisation auf Dauer nicht absterben, sollte diese Beschränkung heute allmählich überwunden werden, wozu Geistesforschung einen Weg bahnt.
In der Wirklichkeit sind Wahrnehmung und Begriff eins. Die Vorstellung der Wirklichkeit nach dem Muster der Wahrnehmung allein ist deshalb unzulänglich und halbierend. Für die Sinneserfahrung erfolgt die Trennung automatisch durch den leiblichen Organismus. Wer sie im Erkennen wieder vereint, wacht in der eigentlichen Sinneswirklichkeit auf und bildet sich aus als freies Sinneswesen. Die Ausbildung von Organen übersinnlicher Wahrnehmung bewirkt zwar zunächst die Trennung, aber wer im Erkennen übersinnliche Wahrnehmungen mit angemessenen Begriffen verknüpft, überwindet diese Trennung, erwacht in der übersinnlichen Wirklichkeit und bildet sich selbst als freies und verantwortungsvolles höheres Wesen (aus).
Mensch und Kosmos
Die einzelnen Gebiete von Rudolf Steiners Geisterkenntnis sind zu zahlreich, um alle genannt zu werden. Sie reichen von der Ätherwelt zum nachtodlichen Dasein der Seele und der Wiederverkörperung des Geistes. Der Zusammenhang des Menschen mit dem Kosmos wird aufgedeckt. Beide werden in ihrer evolutiven Verbundenheit betrachtet. Diese Betrachtung reicht hinein in ferne Vergangenheit und weite Zukunft. Das zutage Geförderte erweist sich als fruchtbar und zumeist als wahr, ist aber keineswegs generell gegen jeden Irrtum gefeit.
Denn jeder Mensch ist fehlbar. Anspruch auf Unfehlbarkeit hat auch Rudolf Steiner nie erhoben. Alle Forschung ist von sich aus fallibel. Erkenntnis ist in Wirklichkeit im Fluss. Es kommt nicht darauf an, sich nie zu irren, sondern auf die Fähigkeit, eventuelle Fehler zu erkennen und zu berichtigen. Könnte die menschliche Organisation nur das Gegebene widerspiegeln, wäre sie daran gebunden. Gegen diese irrtümliche materialistische Auffassung spricht schon unsere Irrtumsfähigkeit. Insofern weist schon das urmenschliche Vermögen des Irrens über diese unhaltbare Meinung hinaus, auf die Realität des übersinnlichen Geistes.
Auch wenn Rudolf Steiner über das Sinnliche hinausging und den Weg zum übersinnlichen Erkennen wies, steht seine Geistesforschung doch immer in Bezug zur Sinneswelt und den leiblichen Menschen. Das gilt sogar für seine Karmaforschung. Auch den sinnlichen Boden verlor er nie unter den Füßen. Seine Geistesforschung ist im Irdischen eminent fruchtbar. Die Sektionen der von ihm gegründeten Hochschule für Geisteswissenschaft beackern durchaus Gebiete der irdischen Welt. Aber diese Welt ist im Kern geistig. Wenn man die Balance wahrt, ist Geisterkenntnis deshalb auch überall im Sinnlichen ertragreich. Man kann wahrlich sagen: Je höher man zum Geiste aufzusteigen vermag, desto tiefer durchdringt man auch die sinnliche Welt und desto innovativer sind die Ergebnisse.
Wenn man die Geistwelt bewusst erkennend betritt, bleibt man dabei frei. Nicht von ungefähr steht am Anfang von Rudolf Steiners publizistischem Wirken eine ‹Philosophie der Freiheit›. Ihr Augenmerk richtet sich zunächst auf eine Verlebendigung des Denkens. Später ging es ihm dann darum, die Entwicklung aller Fähigkeiten zur höheren Erkenntnis, die in jeder Menschenseele veranlagt sind, anzufachen. Verstandesmäßige Gedanken und Vorstellungen sind ungeeignet für Kunst und für übersinnliches Erkennen. Lebendige Gedanken nicht.
Rudolf Steiner gab unzählige Anweisungen zur Entwicklung der Organe übersinnlicher Wahrnehmung. Da sie aus Gruppierungen seelischer Eigenschaften und Gewohnheiten bestehen, muss man sie erst ausbilden. Geistiges ist objektiv, offenbart sich aber in der Seele. Zentral sind Meditation und Kontemplation. Es gibt viele Formen der Meditation, zum Beispiel ausgehend von einem Bild, einem Spruch oder einem reinen Gedanken. Ihre Übung sollte immer verbunden werden mit der Pflege der sogenannten ‹Nebenübungen›.
Ebenso führte Rudolf Steiner die Voraussetzungen zu den Stufen der höheren Erkenntnis aus. Er unterschied Imagination, Inspiration und Intuition. Das sind Hauptmittel der Geistesforschung. Sie bedingen eine Umwandlung der Seelenkräfte Denken, Fühlen und Wollen. Handelt es sich bei der Imagination um eine Art inneren Sehens und bei der Inspiration um eine Art inneren Hörens, könnte man die Intuition als ein inneres Wissen bezeichnen. Ein geistiges Wesen kann in der Imagination als Sinnbild erscheinen und sich in einer Inspiration sprechend offenbaren, während es in einer Intuition mit dem erkennenden Ich gewissermaßen zur Einheit verschmilzt. Das Ich wird in der Intuition selbst zum Erkenntnisorgan. Die höhere Erkenntnis wird so stufenweise immer intimer und sicherer. Charakteristisch für eine Imagination ist, dass etwas, das in der Sinneserkenntnis ausgedehnt erscheint, in ihr gleichzeitig und tableauartig erlebt wird. Ein lebendiger Gedanke eignet sich daher zu ihrer Erfassung. Eine Imagination offenbart sich der menschlichen Seele zweidimensional, eine Inspiration sinnlich gesehen als linearer Strahl aus dem Überzeitlichen in die Zeit hinein und eine Intuition in Gestalt eines erfüllten Quellpunktes. So führen sie stufenweise aus dem Sinnesraum hinaus.
Die Organe der Geisterkenntnis können heute von sich aus regsam werden. Werden die sich allmählich lockernden Sinne nicht frei ergriffen und entfaltet, stehen gegenwärtig übersinnliche Wesen bereit, sich unter Umgehung menschlicher Freiheit ihrer zu bedienen. Die Alternative ist ein Verdorren dieser Organe. Sowohl den Organen des Einzelnen als auch unserer gesamten Zivilisation drohen gegenwärtig zwei Gefahren: Spielball fremder Mächte zu werden oder letztendlich abzusterben. Da sie einen gangbaren Weg hindurch weist, tut Geistesforschung heute not.
Vielen Dank für den Überblick über das Thema Geistesforschung! Was mich zur Zeit beschäftigt ist die Frage, wie sich die Geistesforschung zu den Aussagen Rudolf Steiners über die sich gegenseitig bedingende Selbst- und Welterkenntnis verhält. Ist es nicht so, dass die Ausbildung der höheren Wahrnehmungsorgane sehr viel Selbsterkenntnis erfordert? Und zu dieser Selbsterkenntnis ist doch ein waches in der Welt Stehen nötig. Die höheren Sinne wiederum vertiefen dann die Welterkenntnis.