Die moralische Krise, in der die westliche Welt sich heute befindet, ist keine der Werte. Sie ist eine der Empfindung. Können ein Unbehagen oder ein Bauchgefühl – Regungen im Vorfeld der Intuition – urteilsfähig machen?
Selbst wenn man dies bejahte, wäre ja kein Automatismus damit verbunden. Nach der Anerkennung eines Unbehagens als relevanter Haltung in komplexen Debatten bleibt es dem Subjekt, das es artikulierte, frei, ihm als solches Gewicht beizumessen oder aber es zu verwandeln. – Viele politische Minenfelder der Gegenwart haben mit dem Genetisch-Biologischen zu tun, dem Blutsmäßigen, etwa die Flüchtlingsfrage und die geschlechtliche Identität. Gesellschaftliche Zäsuren – die Ehe für alle, das vom deutschen Bundesverfassungsgericht zugelassene dritte Geschlecht, ebenso die durch die Migration hervorgerufene Konfrontation mit dem Rollenbild der arabischen Frau – haben zu Zweifeln auch bei Bürgern geführt, die sich als tolerant bezeichnen. Dabei muss man unterscheiden zwischen einem reflektierten Unbehagen, das in Allgemeinmenschlichem gründet, und demjenigen, das sich selbst genießt und interessegeleitet geschürt wird. Dass es den AFD-, Front-national- oder FPÖ-Wähler wurmt, wenn in seinem Stadtteil mehr Minarette als Kreuze zu sehen sind, ist etwas anderes als das unwillkürliche Irritiertsein von Kindern beim Anblick von Transvestiten, denn Kinder verfügen in dem Sinne noch über keine Moral. Indes kann man gerade deshalb nie mit solchen Hinweisen argumentieren, in dem Fall gegen Transvestiten; es wäre nicht lauter, sondern suggestiv, und der öffentliche Diskurs ist vergiftet von solchen Suggestionen. Eine spontane Empfindung ist zunächst weder gut noch schlecht, richtig oder falsch, sondern eine Realität. Nur betrachtet kaum einer noch ein Gefühl zunächst ganz ruhig, um es zu verstehen und anzuerkennen. Es wird bagatellisiert, denunziert oder dämonisiert, als sei es etwas Gefährliches, das man verbieten muss. (Ein Beispiel solcher Doppelmoral war auch die heuchlerische Empörung über den Leiter einer Essener Tafel, der aus schierer Überforderung kurzfristig Nichtdeutsche von der Ausgabe ausschloss.) Gefährlich sind Gefühle erst, wenn sie zum alleinigen Motor des Handelns werden. Für das vielzitierte Zeitalter der Bewusstseinsseele muss sich Ausschließendes nebeneinanderstehen, und vermutlich generiert nur diese Haltung eine zeitgemäße Ethik: Die Bewusstseinsseele kann etwas befremdlich und sogar abstoßend finden und dies denken und fühlen und aussprechen – und zugleich alle Würde und allen Schutz auch für den geschlechtlich umgewandelten Nachbarn und die kopftuchtragende Mitbürgerin mit Händen und Füßen verteidigen. Sie tut es in dem Vertrauen, dass diese Arbeit am Ressentiment, das bewusste Verwandeln des seelisch unwillkürlich Auftretenden, keine Einbahnstraße ist.
Zeichnung: Philipp Tok