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Erkenntnis ist Teilnahme, Schicksal und Weltgeschehen

Für die Vorbereitung der Stuttgarter Tagung ‹Erkenntnis ist Teilnahme› verfasste Bodo von Plato diesen Essay, in dem er die Konturen einer Freien Hochschule für Geisteswissenschaft zu beschreiben versucht sowie die Erkenntnis­substanz, die in dieser Hochschule leben kann.


Das große Geheimnis

Die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft, die Rudolf Steiner 1923/24 einrichtete und in deren Zusammenhang heute Menschen überall auf der Welt tätig sind, ist öffentlich. Sie ist kein Geheimnis. Aber es geht ihr um das Geheimnis. Um das große Geheimnis, um das Mysterium des Menschen. Eine Schule, die davon ausgeht, dass der Mensch unsagbar, unerklärbar ist – Mysterium. Sie ist in diesem Sinne eine Mysterienschule

Sie achtet eine Dimension von Mensch und Welt, die über die rationale Erfassbarkeit hinausgeht – ohne damit etwa Vernunft, Verstand und Verstehbarkeit gering zu schätzen. Vielmehr ist es dieser Schule ein Anliegen, im Sinne Goethes die Ratio, das Verständnisvermögen, ja das Bewusstsein schlechthin so zu entwickeln, dass es dem Geheimnis mehr und mehr gerecht wird, dass dieses Bewusstsein nicht nur Wirklichkeit spiegelt oder abbildet, sondern an ihrem Zustandekommen teilnimmt und sie (verantwortlich) mitgestaltet.

So wird sie zur Hochschule und heißt Goetheanum

Das Goetheanum als eine hohe Schule, die das Mysterium des Menschen und der Welt, in der er lebt, in den Mittelpunkt rückt, meint mit Geisteswissenschaft nicht in erster Linie die Erforschung und methodisch reflektierte Befragung menschlicher Leistungen im Geistesleben, in Wissenschaften, Kunst und Kultur im Unterschied zu den Naturwissenschaften. Anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft sucht und beschreitet Wege, auf denen Geist als ein lebendiges, schöpferisches Prinzip erfahrbar wird, ja als Wesen, das allem Dasein und aller Erscheinung (unsichtbar) innewohnt.

Diese Wege sind so vielfältig, wie es Menschen gibt, die sie suchen und beschreiten, und sie führen in und durch alle Gegenden und Gebiete des Lebens und der Welt. Sie können weder im Vorhinein noch von anderen als den Betroffenen selbst bestimmt werden – und doch sind sie alles andere als willkürlich, sie haben eine ihnen eingeschriebene Ordnung, die über den einzelnen Menschen hinausreicht. Darin liegt ihre esoterische Qualität, die nicht in der Geheimhaltung, wohl aber in der Treue zu den eigenen Entschlüssen und der stillen Hingabe an die eigene Wegschaft und das ‹Weltwesen› (Steiner) zum Tragen kommt.

Geisteswissenschaftliche Praxis ist in jeder ihrer Äußerungen wie das sie praktizierende Wesen selbst, sie sieht und versteht Zusammenhänge (wie die Wissenschaft), macht sichtbar (wie die Kunst) und verbindet die sichtbare und unsichtbare Welt im täglichen Leben (wie die Religion). Wissenschaft, Kunst und Religion sind in der gelingenden Geisteswissenschaft nicht mehr getrennt, sie durchdringen einander in der individuellen Praxis eines Lebens, ob auf dem Feld, in der Schule oder in Produktionshallen, in der Meditation, der Reflexion oder jeder Gestaltung.

Die Form und der öffentliche Raum

Und so sehr die geisteswissenschaftliche Praxis individuell, innerlich und zugleich in allen denkbaren Lebenswirklichkeiten zu Hause ist, so wenig kann sie weder normative Vorgaben brauchen noch das Irgendwie isolierter Selbstverwirklichung. Sie sucht einen offenen Raum, in dem sich ihre verschiedenartigen Äußerungsformen wahrnehmen, prüfen, weiterentwickeln können. Einen freien und befreienden Raum.

Ganz natürlich und ohne formelle oder institutionelle Aspekte bildet sich dieser Raum zwischen einzelnen Menschen.Diese natürliche Form suchender Gemeinsamkeit beschränkt sich gewöhnlich auf Einzelschicksale, sie bleibt begrenzt und ihr privater Charakter verleiht ihr eine Intimität und Gültigkeit, die sich nicht unbedingt an fremden Sichtweisen zu messen braucht. Will diese Form aber wachsen, will Geisteswissenschaft eine gesellschaftliche und über engere Freundeskreise hinausgehende Dimension des allgemein Menschlichen gewinnen, braucht sie Formen, die sichtbar und nachvollziehbar sind.

Zugänglichkeit und Nachvollziehbarkeit sind die beiden ausschlaggebenden Kriterien, an denen sich die Öffentlichkeit einer Form bemisst, in der Menschen sich begegnen, miteinander etwas tun und ihr Miteinander eine gesellschaftliche Gestalt gewinnt. Eine Institution ist als gesellschaftliches Gebilde in dem Maße öffentlich, in dem sie zugänglich ist und die sie bestimmenden Qualitäten und Strukturen nachvollziehbar macht. Mit der institutionellen Form beginnt der öffentliche Raum.

Als ‹esoterische Institution› (Steiner, GA 270/I, 15.2.1924) zeigt die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft drei wesentliche Qualitäten, die ihr Leben und ihre Form bestimmen. Diese Charakteristika sind seit ihrer Gründung bis heute maßgeblich. Je nach beteiligten Menschen, nach Ort und Zeit suchen und zeigen sie ihre besondere Ausprägung. Diese jeweilige Ausprägung kann mehr oder weniger Nähe zu Idee und Wirklichkeit aufweisen, mit der die Hochschule ihrem Wesen nach verbunden ist.

Im Ich

Das erste Charakteristikum der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft ist ihr genuiner Erkenntnisbegriff, auf dem ihre Arbeit in allen Disziplinen gründet. Bereits in seiner jugendlichen Auseinandersetzung mit der Wissenschaft des Erkennens (Epistemologie) suchte Steiner nach einer Überwindung der engen Grenzen, in die das Erkennen vor allem seit der Aufklärung gezwungen worden war, bis es durch die bald alles beherrschende Rolle der Ratio eigentlich keine andere ernst zu nehmende Alternative im Geistes- und Wissenschaftsleben mehr gab als einen diesseitsorientierten Reduktionismus. Die Arbeit an der Praxis und die Formulierung einer geistig-physisch umfassenden Dimension des Erkennens durchzieht Steiners ganzes Leben und Werk. Früh wurde ihm dabei klar, was später und bis heute die gesamte Architektur der Hochschule bestimmen sollte: «Nicht die erste Gestalt, in der die Wirklichkeit an das Ich herantritt, ist deren wahre, sondern die letzte, die das Ich aus derselben macht.» (GA 3, 6. Kapitel) In seiner Autobiografie beschreibt er diese «wirklichkeitsgemäße Erkenntnis» vielleicht am unverwechselbarsten: «Erkenntnis im Menschen ist dessen Teilnahme an dem, was sich die Wesen und Vorgänge in der geistigen und physischen Welt zu sagen haben.» (GA 28, 22. Kapitel) Alles Erkennen in diesem Sinne lässt den Menschen «zum Mitschöpfer an der Welt» (ebd.) werden. Welt ist nicht mehr ein unabhängig von mir selbst gegebenes und (objektiv) abzubildendes Außerhalb, sondern Teil einer schöpferischen Tätigkeit. Indem dieses Teilhaben bewusst wird, tritt die geistige Dimension des Erkannten und des Erkennenden, das Wesen von Welt und Selbst, ins Bewusstsein. Dabei handelt es sich um einen fortlaufenden, lebendigen Prozess – «Erkenntnis ist auf jeder Lebensstufe anders». (Mysteriendramen, Die Pforte der Einweihung, 8. Bild).

Zwischen Menschen

Dieses Mitschaffen an und in der Welt – anstelle der Vorstellung eines Nachschaffens oder Abbildens – wird am ehesten und unmittelbarsten in der zwischenmenschlichen Beziehung bemerkbar oder nachvollziehbar. Jeder Mensch erfährt, dass die Art, wie andere Menschen ihn sehen, beflügelt oder lähmt. Wie ich jemanden verstehe oder missverstehe, anerkenne oder verkenne, hat nachhaltige Auswirkungen auf sein Selbsterleben und sein tatsächliches In-der-Welt-Stehen. Bei anderen Wesen, Vorgängen oder auch Dingen ist es wohl weniger offensichtlich, darum aber nicht unbedingt weniger naheliegend. Mehr noch als in jeder Hochschule, jeder wissenschaftlichen oder künstlerischen Einrichtung spielen das Miteinander der Tätigen oder Forschenden, der Diskurs oder Dialog und die Wechselseitigkeit in der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft eine entscheidende Rolle. Verwandelt das Teilnehmen im Erkennen den Erkennenden wie das Erkannte, so sind die Folgen im Zwischen- und Mitmenschlichen unmittelbarer und erheblicher: Schicksal bleibt nicht eine scheinbar gegebene, wenig zu beeinflussende Notwendigkeit, sondern es wird zu einem schöpferischen Feld, in dem ein ethischer Individualismus mehr als irgendwo anders folgenreich wird. Besonders in den menschlichen Konstellationen, die zu bestimmten Fragen, Aufgaben oder Initiativen zusammenkommen, macht die teilnehmende Erkenntnis aus dem Miteinander inspirative Felder, die ein nicht vorhersehbares Potenzial entfalten. Zwischen Menschen entfaltet die teilnehmende Erkenntnis ihren weitesten, weil menschlichsten Horizont. Der Horizont der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft ist vertikal.

In der Welt

Diese Art des teilnehmenden und schicksalbildenden Erkennens gehört «nicht allein zum Menschen, sondern zu dem Sein und Werden der Welt». (GA 28, 22. Kapitel) Das In-der-Welt-Sein wird hier zur existenziellen Erfahrung. Die Verantwortung, die der Erkennende für sein Erkennen und das Erkannte, also für die Welt hat, wird hier greifbar. Zugleich – und auf den ersten Blick wie im Widerspruch dazu – wird deutlich, dass Welt und menschliches Schicksal auch immer eine Ordnung meinen, die zwar entwicklungsoffen, aber nicht beliebig ist. Gerade in einer geistig initiativen Haltung wird «geschehen, was geschehen soll». (Mysteriendramen, Der Seelen Erwachen, 1. und 14. Bild) Die übliche, aber wirklichkeitsfremde Theorie-Praxis-Spaltung verliert im geisteswissenschaftlichen Erkennen ihre Geltung. Ob körperliche Arbeit oder Meditation, ob Gestaltungs- oder Reflexionsvorgang, eine soziale Dienstleistung, eine Rede oder die tägliche Pflege eines hilfsbedürftigen Menschen – alle Tätigkeit und jeder Beruf können zum Gegenstand und Ausdruck der Geisteswissenschaft werden, die in der Freien Hochschule Vertiefung und Öffentlichkeit sucht.

So bedingungslos zugänglich die spirituellen Perspektiven der allgemeinen und berufsorientierten Gliederungen der Hochschule sind, die in der Wirklichkeit ihres Tätigkeitsfeldes selbst ihre Bedingungen finden, so ist eine entschiedene individuelle Verbindlichkeit für die spirituelle Erfahrung nötig und gefordert, die sich auf einem mantrischen Meditationsweg der Wirklichkeit geistiger Wesen nähert. Allgemein menschliches wie berufliches Leben (Sektionen) und mantrische Meditationspraxis (Klassenstunden) bilden das Ganze einer Hochschule, die dem offenbaren Geheimnis in einer zunehmend vom Menschen abhängigen Welt verpflichtet ist – und Verantwortung übernimmt.


Dieser Artikel erschien zuerst in den ‹Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland› von Dezember 2018.

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