Soziale Dreigliederung ist ein Kernthema in der anthroposophischen Selbst- und Welterkenntnis. Sie kann nicht implementiert werden. Sie ist ein Werkzeug, soziale Prozesse zu verstehen. Joan Melé sprach mit Xavier Moretti darüber, wie das Soziale gelingt und wie wir daran wachsen können.
Wie hat die soziale Dreigliederung dein Leben bereichert?
Dreigliederung hat mich gelehrt, zu erkennen, dass wir alle miteinander verbunden sind und dass jede Entscheidung, die wir treffen, uns alle betrifft und sich auf die Erde auswirkt. Mit anderen Worten: Für mich ist die Dreigliederung weder eine Formel noch eine Methode, sondern eine Art, die Welt zu betrachten.
Gibt es Vorraussetzungen für eine gelingende Dreigliederung?
Theoretisch ist das Gelingen überall möglich, aber die Beteiligten müssen es vorbereiten. Manchmal fragen mich Waldorfschulen: «Können Sie uns bei der Umsetzung der sozialen Dreigliederung helfen?» Und ich sage: «Wenn ihr es so ausdrückt, kann ich es nicht.» Man kann sie nicht anwenden. Ich kann nur lehren, diese organischen Prozesse zu beobachten. Wenn Menschen in einer Gemeinschaft zusammenkommen, bilden sie einen menschlichen Organismus. Dabei ist jeder Mensch eine Zelle dieses Organismus. Daher erfordert eine gelungene soziale Dreigliederung große Arbeit an der Selbsterkenntnis. Wenn es keine permanente Arbeit der Selbsterkenntnis gibt, scheitern wir daran – es ist dann nur der Versuch, eine Formel anzuwenden, und das wird nicht funktionieren. Heute ist es notwendig, die Idee der Dreigliederung zu durchdringen, das heißt die Erkenntnis des Menschen zu gewinnen, damit sie im Sozialen fruchtet. Es braucht nur den Willen. Was nicht möglich ist und was die heutige Welt versucht, ist, dass alles schnell und einfach ist. Aber es ist weder schnell noch einfach getan. Das erfordert Ausdauer und Arbeit.
Die Erkenntnis der sozialen Dreigliederung ist nützlich: für eine Lerngruppe, für eine Schule, für ein Unternehmen oder ein Land. Wenn wir zusammenkommen, bilden wir einen Organismus. Deshalb müssen wir verstehen, was diesen Organismus krank und was ihn gesund macht. Auf diesem Erkenntnisweg gibt es drei Dimensionen: Den spirituellen Teil; du bist ein geistiges Wesen mit einer Lebensaufgabe. Aber deine Lebensaufgabe ist nicht nur dein und du musst sie in Beziehung mit anderen erfüllen. Also musst du lernen, in Beziehung zu treten. Und du hast einen Körper, der Bedürfnisse hat, die erfüllt werden müssen. Sie werden von der Erde gedeckt. Es gibt also drei Sphären: die individuell-geistige, die Beziehungssphäre und den Bereich der Erde. In jeder Organisation muss man diese drei Dimensionen respektieren. Wenn die Individualität einer Person in einer Organisation nicht respektiert wird, kommt es zu Problemen. Wenn an den Beziehungen nicht gearbeitet wird, kommt es zu Problemen. Wenn die Erde oder die leiblichen Bedürfnisse nicht respektiert werden, kommt es zu Problemen.
Wenn jemand mit der Idee antritt, soziale Dreigliederung in eine Gemeinschaft einzubringen, aber die anderen diese Idee nicht klar verstehen, kann es dann funktionieren?
Das wird nie funktionieren. Auch wenn der Mensch, der die Idee einbringt, sie sehr gut versteht, funktioniert eine Umgestaltung nur durch und mit den anderen. Wenn der soziale Organismus diese Idee als Fremdkörper empfindet, wird er sie abstoßen. Es muss eine gemeinsame Arbeit aller sein.
Wie verhält sich das Geld im sozialen, dreigegliederten Organismus?
Die erste Sache, die man verstehen muss, ist, dass Geld kein Gegenstand ist, sondern dass Geld eine Beziehung zwischen Menschen abbildet. Geld ist nutzlos, wenn es keine Beziehung gibt. Es gibt drei Arten der Geldverwendung: kaufen, sparen, spenden oder schenken. Natürlich hat das mit Dreigliederung zu tun, denn wir legen ‹Geschwisterlichkeit› in der Wirtschaft als ethischen Maßstab für eine gesunde Dreigliederung an. Geschwisterlichkeit ist ein sehr missverstandenes Wort, denn es gibt Leute, die sagen: «Geschwisterlichkeit bedeutet, dass man sich gegenseitig wie Geschwister lieben muss.» Geschwisterlichkeit ist aber ein wirtschaftliches Konzept, denn in der Wirtschaft gibt es das sogenannte Prinzip der gegenseitigen Abhängigkeit. Alles, was ich heute gegessen habe, wurde von anderen angebaut, gekocht und serviert. Was ich zum Leben brauche, wird durch die Arbeit anderer erstellt. Und weil wir voneinander abhängig sind, müssen wir uns gegenseitig unterstützen. Geschwisterlichkeit könnte gegenseitige Unterstützung oder Zusammenarbeit heißen. Eine Möglichkeit, einander zu unterstützen, besteht darin, Geld bewusst zu verwenden. Geschwisterlichkeit ist nicht allein: Wer mehr hat, sollte mehr zahlen. Das ist ein Aspekt. Aber Geschwisterlichkeit bedeutet, Geld bewusst zu nutzen. Ich kann keine Kleidung von einer Firma kaufen, von der ich weiß, dass sie Menschen ausbeutet oder dass sie die Umwelt verschmutzt usw. Geschwisterlich zu leben, bedeutet, an die anderen zu denken: Wie wird deine Entscheidung sie beeinflussen? Deshalb führt eine geschwisterliche Wirtschaft dazu, dass man nicht mehr über den Preis spricht, sondern über Wert: nicht, wie viel Geld etwas kostet, sondern welchen Wert das hat, was ich kaufe. Für die alltägliche Beachtung dieser Realität brauchen wir keine großen Theorien, sondern Fragen. Bevor du etwas kaufst: Was kaufe ich? Warum kaufe ich es? Und wo kaufe ich es?
Was ist die Aufgabe der Jugend in diesem Kontext?
Der erste Schritt wäre, zu verstehen, dass Arbeit eine geistige Sache ist. Geistig meint, dass man bestimmte Fähigkeiten hat und diese durch die Arbeit entwickelt und sie in die Welt hinausträgt. Deshalb sage ich jungen Menschen: «Arbeite an deiner Selbsterkenntnis. Finde heraus, wer du bist, was du kannst, und wenn du das herausgefunden hast, sag, was du der Welt geben willst, damit die Welt dank dir eine bessere wird.» Was du tust und was du bezahlt bekommst, müssen zwei unabhängige Dinge sein. Suche nicht eine Arbeit wegen des Geldes, sondern weil du siehst, dass du dich dort als Mensch entwickeln kannst. Und zweitens: Achte darauf, wie du dein Geld verwendest, weil andere von dir abhängig sind. Wir leben in einer Zeit, die uns zu leichter Arbeit verführen will – wenig Arbeit, viel Geld. Doch meine Erfahrung ist, dass Menschen, die mit Nichtstun viel Geld verdienen, nicht glücklich sind. Das Ziel zu haben, für andere nützlich zu sein, ist für mich der beste Sinn des Lebens.
Titelbild Joan A. Melé links und Xavier Moretti rechts im Gespräch; Screenshot.
Abgesehen von der Frage ob es überhaupt Arbeit gibt, worin man sich nicht entwickeln kann – inhaltlich, wenn Grenze an ungesunde Arbeitszeiten und -konditionen gestellt sind – ist das geschwisterliche an Arbeit und Ökonomie, daß es gezielt ist auf den Andern, nicht auf die eigene Entwicklung. Sonst wäre es Geistesleben oder Hobby.
Ich stimme der großen Tendenz des Artikels zu. Zu diesem Teil des Textes würde ich gerne ins Gespräch kommen:
„Die erste Sache, die man verstehen muss, ist, dass Geld kein Gegenstand ist, sondern dass Geld eine Beziehung zwischen Menschen abbildet. Geld ist nutzlos, wenn es keine Beziehung gibt. Es gibt drei Arten der Geldverwendung: kaufen, sparen, spenden oder schenken.“
Ja, Geld spiegelt die Beziehungen. Fehlende Beziehung: Kein Spiegelbild.
Aber auch: Überschaubare Beziehungen (Familie, Großfamilie) brauchen kein Geld, Geld ist unnötig.
Es gibt fünf vorgeldliche soziale Beziehungen bezogen auf Eigentum:
Die Intentionen von Teilen, Schenken, Tauschen, Rauben, Stehlen.
Die gibt es immer noch und sie spiegeln sich im Geld, weil das Bewusstsein nicht mehr ausreicht, alle Beziehungen zu umfassen. Das „Geld des Teilens“ (Dividende) ist heute grob vernachlässigt, indem das Teilen durch Tauschen (SOLL/HABEN) simuliert wird.
Wie sähe das Geld aus, das die „Liquidation der Arbeitsteilung“ wäre, wie es Rodbertus 1842 fragte? Wenn Arbeitsteilung auch heisst, das Arbeitsergebnis zu teilen, dann muss die Verteilung von den Produktionsstätten zu den Stätten des Konsums organisiert werden. Das Mittel dazu in einer große, anonymen Gesellschaft könnte ein Geld sein, das nicht hier weggenommen werden muss, um dort addiert zu werden. Das sich nicht so obszön bei denen akkumuliert, die sowieso schon mehr haben, als sie konsumieren können.
Von Rodbertus, dem „Antipoden von Marx“ könnte man heute einige Anregungen aufnehmen.