Erinnerung an Traute Lafrenz Page

Der Tod von Traute Lafrenz Page am Abend des 6. März 2023, zwei Monate vor ihrem 104. Geburtstag, wurde in vielen Tageszeitungen gemeldet; in Radio- und TV-Sendungen wurde ihrer gedacht, der letzten Überlebenden der studentischen Widerstandsgruppe Weiße Rose. Trautes Freunde Hans und Sophie Scholl, Christoph Probst, Alexander Schmorell und ihr Lehrer, der Philosophieprofessor Kurt Huber, waren 1943 hingerichtet worden. Hans und Sophie Scholl und Christoph Probst wurden keine 25 Jahre alt, Traute mehr als 100.


Zwei Jahre nach der Befreiung aus dem Gefängnis ging Traute Lafrenz 1947, mit 28 Jahren, in die USA, wurde dort Ärztin, arbeitete mit ihrem Mann, dem Augenarzt Vernon Page, in Kalifornien, später in Chicago. Dann begann sie ihre Tätigkeit in einer heilpädagogischen Tagesschule für seelenpflegebedürftige Kinder und Jugendliche aus sehr armen Familien lateinamerikanischer Einwanderer. Die Schule wurde 1969 gegründet: Esperanza – a school where ‹hope› is an active part of education. Traute arbeitete dort zuerst heileurythmisch, dann immer mehr ärztlich. Sie wandte auch Rhythmische Massage an, leitete schließlich die große Schule (für bis zu 100 Kinder), inmitten ihres Teams. «Es war eine so freudige bewegte Zeit.» «So viele liebe Menschen guten Willens.» Wusste sie in Esperanza in einer sozialen Situation nicht weiter, ging sie mitunter zur Köchin, die aus armen Verhältnissen stammte und elf Kinder hatte. «Ann, was denkst du, wäre gut zu tun?» Traute war das souveräne Zentrum des Ortes, der von den Chicagoer Behörden gefördert wurde und auch ein ansehnliches Kulturprogramm anthroposophischer Ausrichtung auf die Beine stellte. Sie staunte immer wieder über die Kinder: «Manchmal, wenn ich mich sehr anstrengte, mit einem der Kinder in Esperanza Heileurythmie zu machen, dann kam es vor, dass so ein Menschlein mich anschaute mit einem Blick, als wollte es sagen: Was plagst du dich so ab? Ich weiß ja genau, was in dem IAO lebt und was es eigentlich ist.» (Brief an Peter Selg vom 9.10.2014) Eine Waldorfschule gab es damals, Anfang der 1960er-Jahre, noch nicht in Chicago; Traute begann mit intensiven Sommerschulkursen über sechs Wochen im Vorort Evanston, wo sie auch wohnte.

Weiterbildung in Buchenbach und Arlesheim

1952/53 war sie zur Vertiefung in die Anthroposophische Medizin mit zwei Kindern nach Buchenbach gekommen und hatte bei Friedrich Husemann und seinen Ärzten gelernt (Vernon Page war zu dieser Zeit als Arzt im Koreakrieg); 1961 kam sie mit inzwischen vier Kindern ein weiteres Jahr zur ärztlichen, heileurythmischen und heilpädagogischen Fortbildung, diesmal nach Arlesheim, in den Sonnenhof und in die Ita-Wegmans-Klinik. Sie befreundete sich mit Julia Bort, Werner Pache, Julie Wallerstein und Hellmut Klimm – den hervorragenden Heilpädagoginnen und Therapeuten des Sonnenhofs. Damals erlebte sie auch mit, wie Willem Zeylmans van Emmichoven die niederländische Landesgesellschaft wieder mit dem Goetheanum verband; sie kannten sich aus den USA und abends gab es ein Fest in der Arlesheimer Klinik, wo sie sich lange unterhielten.

In den 1970er- und 1980er-Jahren arbeitete sie, neben Esperanza, im Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft in den USA mit; sie liebte die Zusammenkünfte; die Freunde kamen aus allen Gegenden des riesigen Landes. «Weißt Du, in Hamburg wäre ich vermutlich lebenslang nie in die Gesellschaft gegangen, viel zu eng.» In Chicago hielt sie Klassenstunden – und auf Wunsch an anderen Orten, bis 1993, dann hörte sie, 74-jährig, auf: «Weißhaarige Leute sollten nicht Anthroposophie repräsentieren.» Auf Wunsch ihres an Leukämie erkrankten Mannes zogen sie 1995 in die Südstaaten, nach Yonges Island in South Carolina, auf ein großes Landgut am Wasser, wo ihre Tochter, die Ärztin Renée Meyer, mit ihrer Familie lebte – in ein kleines, behagliches Holzhaus.

Esperanza School Chicago

NS-Studien

Traute wusste damals nicht, dass ihr noch einmal 28 Jahre gegeben sein würden. Auch nicht, dass viele der frühen Themen zurückkehren würden. Sie half dann jedoch der Pflegewissenschaftlerin und Professorin Susan Benedict in ihren Forschungen zur Rolle der Krankenpflegerinnen und Hebammen in der NS-Zeit, zu widerständigen deutschen und österreichischen Krankenschwestern wie Maria Stromberger in Auschwitz; sie setzten sich mit den Euthanasie-Verbrechen und vielen kleinen, weitgehend unbekannten Widerstandsgruppen auseinander. Gemeinsam waren sie an den Gedenkorten und in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem in verschiedenen Archiven. Traute übersetzte für Susan die Dokumente und sie sprachen viel. Freilich hatte Traute das Thema des Nationalsozialismus und des deutschen Völkermords in den Jahrzehnten zuvor nie völlig verlassen, auch wenn das Interesse am deutschen Widerstand in den USA lange Zeit begrenzt war – und 1952/53 in Buchenbach und 1960 in Arlesheim niemand fragte und niemand etwas wissen wollte. Traute hielt den Kontakt zu Inge und Elisabeth Scholl und Otl Eicher aufrecht, die sie regelmäßig in Stuttgart und in Rotis besuchte; auch zu ihrer alten, ebenfalls inhaftiert gewesenen Lehrerin Erna Stahl in Hamburg. In Dornach war sie immer bei ihrer Freundin Eve Nägele, verheiratete Ratnowsky, zu Gast, die ebenfalls mit Familie Scholl und mit Alexander Schmorell befreundet gewesen war.

Hellwach, hochintelligent und mutig

Ich kannte Traute seit 2005, seit 2006 schrieben wir uns viele Briefe; ich besuchte sie öfter in den USA, in South Carolina, und sie kam nach Arlesheim und Freiburg. Einmal hatten wir zusammen einen herrlichen Tag in New York, nach Vorträgen zum ‹Fünften Evangelium› vor 200 Menschen; wir entkamen ‹in time› und waren in vier Museen an einem Tag (von Frick Collection bis Modern Art), es regnete in Strömen und wir lachten viel. Damals war sie 93.

Sie, die es nach South Carolina mit seiner verschlafenen Metropole Charleston verschlagen hatte, liebte Städte «wie eine Inspiration». Im November 2011 schrieb sie mir von einem anderen New-York-Besuch: «Eine Riesenstadt so voller Leben und junger Menschen, dazu volle Konzertsäle am Abend, Brahms und Liszt, Lieder und Klavierkonzerte. Kaum zu glauben, so viel Lebensfreude.» Wir sprachen auch viel über die Weiße Rose und sie war froh, noch einmal manches erzählen zu können, was sie den Journalisten nicht sagte – beginnend mit Erna Stahl, ihrer geliebten Lehrerin an der Lichtwarkschule («Erna Stahl verdanke ich viel, eine ganze Umwendung zu einem auch inneren Dasein»), die das selbständige Denken förderte, eine geniale Literatur- und Kunstpädagogin war, mit ihren Schülerinnen und Schülern die Ausstellungen zur ‹entarteten Kunst› besuchte, einen Lesezirkel unterhielt und Traute auf das Werk Rudolf Steiners hinwies. Traute erzählte hervorragend und präzise von allen Vorgängen. Später las ich die Protokolle ihrer Gestapo-Verhöre, die im Institut für Zeitgeschichte in München aufbewahrt sind; man kann sehen, wie sie sich in den Verhören hielt, hellwach, hochintelligent und mutig. «Hatten Sie keine Angst?», fragte 2018 ‹Spiegel›-Reporter Claas Relotius, der keineswegs alles erlogen hat. «Nein, nie. Ich wusste ja, dass es das Richtige war.» 

Schulklasse mit Erna Stahl. Lichtwarkschule Hamburg 1933/34. Hintere Reihe: Heinz Kucharski drei Köpfe links von Erna Stahl, Traute Lafrenz mit Zöpfen rechts neben ihr. Privatbesitz.

Die Hölle erlebt

Ihr Leben setzte sie oft aufs Spiel, nicht nur beim Transport der Flugblätter nach Hamburg. Ihr ist es zu verdanken, dass Hans und Sophie Scholl bestattet werden konnten; Traute gelang es, den Leichnam der Freunde aus der Pathologie zu bekommen, aufgrund ihres Medizinstudiums und mit etwas Geld («Leichen abgekauft, um zu beerdigen.» Tagebuch). Dadurch wurde die Beisetzung im Perlacher Forst, wenn auch unter Gestapo-Beobachtung, möglich. Der 18. Februar – der Tag der Festnahme der Geschwister Scholl – und der 22. Februar, der Tag, als die Geschwister und Christoph Probst hingerichtet wurden, waren jedes Jahr schwer für sie. Am 15. Februar 2013 schrieb sie mir, fast 94 Jahre alt: «Und nun sind es wirklich 70 Jahre. Dabei ist es manchmal so, als wäre es gestern, u. ich habe es nicht immer leicht, es aus dem Gedächtnis rauszuschieben.» Auf ihrer Veranda in South Carolina oder in Briefen erzählte sie davon, und setzte dann den Punkt. «Und damit genug von alten Geschichten. – And now enough about my life.» Manche Fragen aber beschäftigten sie bis zuletzt, so der Verrat ihres Mitschülers Heinz Kucharski, der die ganze Gruppe in Hamburg, unter Einschluss von Erna Stahl, der Polizei auslieferte – und die Frage der Moral. Über das Furchtbarste wollte sie nicht sprechen, und ich fragte auch nicht, so über ihre Erlebnisse in Bergen-Belsen kurz nach der Befreiung des Lagers. «Es war wirklich das Fürchterlichste, das ich je erlebt habe. Kein Rest von Menschen-Sein schien noch möglich. Wenn man sich eine kalte, erststarrte Hölle vorstellen kann, so war’s.» (28.9.2010)

Mit der innerlichen Einordnung ihres Freundes Hans Scholl rang sie über viele Jahre; die Überhöhung der Weißen Rose war nicht ihre Sache, sie wusste, wie jung sie alle gewesen waren, und hielt Hans Scholls Übermut für tollkühn. Aber mit allen und allem machte sie schließlich ihren Frieden, auch wenn es hart war und lebenslang hart blieb. «Es war doch etwas Ritterliches in diesen jungen Menschen. Zwar gibt es keine Ritterorden mehr, aber dafür auch keine Ordensgelübde und am Ende hat jeder nun nur sich selber und sein Tun zu bestimmen. Na und so weiter.» (12.11.2010) Als ich Traute kennenlernte, bat ich sie, doch noch ihre Erinnerungen aufzuschreiben; vieles wusste nur sie. Sie fing auch kurz vor ihrem 90. Geburtstag an, hörte aber bald wieder auf. «Und nun habe ich wirklich angefangen zu schreiben, im Kopf schon ganz gut – auf dem Papier etwas langsam. Und wenn ich dann einmal wirklich alt bin – ha ha ha – dann gebe ich es alles dir – denn eigentlich schreibe ich so, als wenn ich mich mit dir unterhalten wollte – ohne rotes oder lila Zimmer und in die Augen schauen. Jedenfalls denke ich so – seit Tagen.» Als sie 101 war, schrieb sie mir an einem Morgen um fünf Uhr von einem Traum, in dem Hans Scholl zurückgekommen war; ganz zuletzt sandte sie mir noch einen Brief von Werner Scholl vom Dezember 1942 – Werner, der nach der Bestattung seiner Geschwister als 21-Jähriger wieder an die Ostfront abkommandiert wurde und nie wieder zurückkehrte.

Traute Lafrenz, Anfang der 1940er-Jahre.

Tolstoi, Stifter und Fontane

Traute lebte innerlich mit der ganzen Anthroposophie, aber auch mit viel Literatur und kannte unzählige Gedichte auswendig, bis hin zum ‹Stundenbuch› Rilkes, seit ihrer Abiturarbeit über seinen Armutsbegriff. «‹Denn Armut ist ein großer Glanz von innen.› Da hätten wir ja noch viel zu bereden.» Ich sandte ihr Bilder von den Innenräumen von Château de Muzot, das ich überraschend besuchen konnte, und sie antwortete mit Gedichten. Immerhin schafften wir es zusammen nach Weimar in die Häuser von Goethe und Schiller sowie zu einer Klassenstunde – es war die 17. – im dortigen Steiner-Haus. «Ich las gerade in Prokofieffs Schiller-Studie über die himmlische Freundschaft zwischen Schiller und Goethe. Mir scheint es mehr eine hart errungene und geistig notwendige Vereinigung – so, wie wenn man alles rauslässt, was einem sonst das Leben bietet, und im Aufschwingen dann doch noch zu freudigem Erleben kommt. Nicht einfach.» (2.9.2011) Sie war aber auch bei Stifter und Fontane bestens zu Hause, bei Tolstoi oder in der neuesten Moderne; sie las und dachte mit Leidenschaft, glasklar, voller Elan und Leben. «Den ganzen März habe ich mich dann mit Tolstoi beschäftigt, so ein Genie – so ein Kenner von Menschen und Natur – eine Seele so weit wie das Meer. Da sieht es in unseren Reihen doch etwas ärmlich aus. Vielleicht wollen wir zu viel und können zu wenig oder besser gesagt wir können nicht gut genug ‹wollen›. Weiß Gott, der Wille ist unser Problem.» (21.4.2010)

Sie konnte sehr ernst und sehr humorvoll sein, immer geistesgegenwärtig, nachdenklich und mit Feuer. Sie verfügte über einen außerordentlichen Geschichtshorizont und studierte im Alter über Wochen und Monate scheinbar entlegenste Epochen und Gestalten mit speziellen Fragen («Und da kommt es einem eben, wie groß man denken muss, wenn man Geschichte denken will – und Entwicklung des Menschenseins. ‹Wie ist das klein, womit wir ringen – / Was mit uns ringt – wie ist es groß.› Rilke») Dass in Berichten über sie die Anthroposophie nicht vorkam, störte Traute nicht; sie selbst machte nie einen Hehl aus der Bedeutung Steiners und der anthroposophischen Geisteswissenschaft für ihr Leben. «Ich bin überzeugte Anthroposophin und denke, dass man nach bestem Wissen und Gewissen so leben muss, wie es der eigenen Überzeugung entspricht», sagte sie im Interview zu Sibylle Bassler. Auch mit der Filmregisseurin Katrin Seybold, die ihr viel bedeutete, sprach sie sehr offen über alles.

Persönliche Erinnerung von Traute Lafrenz Page, September 2019

Taten zählen

Trautes Gabe oder ausgebildete Fähigkeit der sicheren Menschenbeurteilung, verbunden mit Milde und Toleranz, suchte ihresgleichen. «So ist es eben; und über die Vielschichtigkeit der menschlichen Seele könnte man Bände schreiben – wenn man klug ist, schweigt man besser», schrieb sie einmal, und in einem anderen Brief: «So ist es eben mit uns Menschen – und dann braucht man so viel Liebe in dieser Welt, um das zu sehen und ertragen zu können.» Nach einem Familientreffen mit 96 Jahren hieß es: «Es gibt so Familientreffen, wo man den wirklichen Kern des anderen erkennt, liebt – hütet, weil er in einem Leben nie ganz zur Verwirklichung kommt – und alles andere schiebt man mit viel Humor und Lachen zur Seite.» (8.5.2015) Ja, das konnte und das tat sie, mit «viel Humor und Lachen», und einer leuchtend hellen Intelligenz. Das Geheimnis des Menschen und die praktische Menschenkunde – darunter die Anthroposophische Medizin – interessierten sie bis zuletzt und sie studierte sie fort und fort. «Renée ist dabei, einige Patientenbehandlungen ‹zu veröffentlichen›! Nicht einfach, wenn du das alles mit modernem Wissen und geisteswissenschaftlichem Wissen vereinen willst. Verschreib ganz harmlos Carbo und du bringst die ganze Erdenentwicklung und Menschwerdung mit ins Bewusstsein. Wer kann das schon so tagein-tagaus aufrechterhalten. Aber reden wir von anderem.» So in einem Brief vom Januar 2016, der dann zu Napoleon und Zar Alexander I. überging … Sie nahm zur Kenntnis, dass die Kriege und das Böse weiter ihre Bahnen ziehen, auch nach dem 20. Jahrhundert, und reagierte mit großer Betroffenheit. Es fiel ihr nicht leicht, nicht mehr eingreifen zu können, in ungute Entwicklungen größeren oder kleineren Ausmaßes. Sie wollte handeln und nicht nur zusehen, aber war in ihrem letzten Lebensviertel eingeschränkt – und weitgehend auf die innere Arbeit verwiesen. Nachdem sie viel Hölderlin und Hegel gelesen hatte, schrieb sie mir: «Was mir durch den Kopf geht: dass zukünftig Taten zählen – Willensakte, nicht Worte. So wie der kleine Josef Schulz, Soldat in der deutschen Armee, und als man in einem Dorf in Jugoslawien einen Racheakt in Gang setzte und unschuldige Dörfler gegen einen Heustapel aufstellte, um sie zu erschießen, macht er einfach nicht mit – zog seinen Helm ab und ging mit an die Seite der Dörfler, um auch erschossen zu werden.» Es war am 20. Juli 1941 gewesen und Schulz ein junger Soldat der 714. Infanteriedivision.

Von Freundschaft beseelt

Wenn man fast 104 Jahre alt wird, hat man all seine Freunde verloren und verabschiedet, Krankheiten miterlebt und mitdurchlitten – sie nahm immer Anteil und vergaß keinen. Traute war von einem Genius der Freundschaft beseelt, völlig unsentimental und konkret; sie hielt den Menschen die Treue. Mit ihrer kranken Freundin Lucia aus Montevideo machte sie noch im hohen Alter eine lange Schiffsreise; sie lasen Werke von Rudolf Steiner, waren auf Deck und zusammen. «Schrecklich – man wundert sich immer, mit welcher Härte und beinahe Grausamkeit das Leben immer so weitergeht … So ein inniger, lieber Mensch», schrieb sie auf die Nachricht von der Erkrankung Sergej O. Prokofieffs (21.5.2011).

Traute Lafrenz Page gemalt von Vebjørn Sand. Aus dem Katalog: ‹Paintings 2010–2011. Scenes from the Second World War›, Gallery Sand, 277 West 4th Street, New York City.

Sie hatte ein überragendes Format, unterhielt sich drei Tage glänzend mit Marion Gräfin Dönhoff, schätzte Freya von Moltke – und blieb völlig bescheiden und anspruchslos, dabei sehr elegant. Zur Leipziger Buchmesse, wo ihre Biografie vorgestellt wurde, wollte sie nicht. «Dieses peinliche Gefeiert werden um nichts und wieder nichts. Nur weil man damals da war – dabei war – und eben so war, wie man eben ist. Also ich denke nein.» (9.1.2012) «Na und der ganze Trubel mit der Weißen Rose … ist eigentlich auch nur peinlich – weil es eben ganz anders war, wie diese Zeitungsleute es haben möchten, ‹Der Erdenrest› – alle sind sie hinter dem Erdenrest –, zu tragen Dein ‹Ich› – und dabei ist alles viel tiefer angelegt.» (24.10.2018) Dennoch nahm sie mitunter Ehrungen und Preise an, aus Höflichkeit und stellvertretend für die unbekannten anderen, die auch im Widerstand waren, wie sie einmal in Hamburg sagte. Vebjørn Sand malte sie 2013 unter ihren riesigen Bäumen in Yonges Island (‹Angel Oak Trees›) und sie ging in seine Galerie in New York («I did my best to keep up with this lively, young lady at the age of 93. Traute is like a light. She is warm, wise, rich and yet curious and challenging at the same time.» Sand)

Sehnsucht nach Europa

Als sie um die 90 Jahre alt war, überlegte sie, doch noch einmal nach Europa und in die Nähe des Goetheanum zu ziehen, ehe sie sich am Ende dagegen entschied, nicht zuletzt wegen der Familie. Mit 97 Jahren, im Mai 2016, sandte sie eine Postkarte vom Kreuzgang der Abtei Saint-Pierre in Moissac und schrieb dazu: «Diese Kreuzgänge haben mirs angetan! Wenn ich mir erlaube, Sehnsucht nach Europa zu haben – dann sind es diese Kreuzgänge im Süden Frankreichs und Spaniens.» Dort, in Südfrankreich, nahm sie oft an klassischen Musikfestivals teil, zusammen mit Lucia, ihrer anthroposophischen Freundin. Dem Goetheanum und seiner Freien Hochschule für Geisteswissenschaft blieb sie – trotz aller Schwierigkeiten seiner Geschichte und den wechselnden Mühen – immerzu verbunden. Auch hier blickte sie auf die besten Kräfte und Anstrengungen der Menschen; dass vieles nicht das Niveau hatte, das sie, Traute Lafrenz Page, für notwendig hielt, war klar. Aber sie blieb tolerant und gerecht, sah über manches großzügig hinweg und freute sich über alle positiven Leistungen. Wenn etwas schief- oder danebenging, brachte sie das nie aus der Fassung, und kritische Briefe hätte sie nie geschrieben – «wir haben eigentlich einen viel längeren Atem» (19.7.2007). «Die Mühlen des Lebens mahlen eben langsam und wenn man an Menschenfortschritt denken will, muss man in Menschengenerationen denken.» (9.1.2012) Sie zitierte Thanausis, den Berater der Kaiserin Galla Placidia: «Wozu traurig sein, ein altes gotisches Runenwort sagt: Von jeder edlen Regung der Lebendigen nähren sich die Toten und die Ungeborenen.»

Traute Lafrenz Page vor der ‹Angel Oak› in Charleston, South Carolina, usa. Gemalt von Vebjørn Sand, Öl auf Holz, 73 × 103 cm. Aus dem Katalog: ‹Paintings 2010–2011. Scenes from the Second World War›, Gallery Sand, 277 West 4th Street, New York City.

Einmal hieß es in einem Brief: «Vielleicht bräuchten wir viele Goetheanum – hier eins – dort eins – in China eins: scheinbar sind wir in einer Zeit, wo die Seelen sich zusammenfinden wollen, so im Sinne des Morgenstern-Gedichtes: Die zur Wahrheit wandern … Eine Weile geh’n wir – scheint es – im Chor. Und dann ein Goetheanum in dem Sinne, wie Rudolf Steiner es in diesem erschütternden Vortrag am 31. Dezember 1923 beschrieben hat, ein Gebäude, das jeden Eintretenden wie hochzieht zum Geist. Es ist so eine erschütternde Vorlesung. Die Zuhörer müssen doch entweder wie genagelt an den Stühlen sitzen geblieben sein – oder gleich umgefallen beim Aufstehen.»

Was sie mitunter im Alter vermisste, waren die Stunden der Ersten Klasse im Therapiehaus der Arlesheimer Klinik, gehalten von Madeleine van Deventer. Überhaupt war Traute der Auffassung, wirklich entscheidend sei die Bemühung um den inneren esoterischen Kern der Anthroposophie; hier, in diesem Bereich, sei viel mehr Arbeit und Entwicklung nötig. Das Studium der Anthroposophie führte sie immer weiter fort, staunte jeweils neu und über alles Mögliche, über die Bücher, die Vortragskurse – oder über Rudolf Steiners Hinwendung nach dem Tod von Sophie Stinde: «Unwahrscheinlich weit und groß war das Maß der Liebe und Sorgfalt, das er an alles, was an ihn herantrat, verausgabte. Es ist kaum zu fassen.» (29.6.2011) Auch die ‹Philosophie der Freiheit› aus den Münchner Tagen der Weißen Rose blieb ihr lebenslang wichtig. Noch im Juli 2018, 75 Jahre später, mit 99 Jahren, hieß es: «Lese viel; lese in wunderbarer Ruhe durch die ‹Philosophie der Freiheit›. Jeder Satz so klar – so jung durchdacht.» Rudolf Steiner sei für sie der «ständigste» und «beste» Begleiter – «manchmal etwas sehr ‹demanding›. Dann schütze ich Müdigkeit und Alter etwas vor.» (2.12.2014)

Denken und Schauen

Die letzten Lebensjahre waren naturgemäß nicht einfach. «Mir geht es gut, ich werde nur immer weniger», teilte sie am Heiligen Abend des Jahres 2014 mit, nicht wissend, dass ihr noch über acht Jahre bevorstanden. «Beklage mich nicht. Tatsache ist nur, dass ein langes Leben mit einer großen Vereinsamung zu tun hat.» (2.12.2015) «Ich sitze abends viel auf der Veranda und wundere mich. Wundere mich, wie alles so gekommen ist und wie anders es hätte kommen können.» (21.8.2016) Mit 98 Jahren beschrieb sie mir den langen Weg über den Steg zum Schwimmen: «Mit mir geht es also eigentlich immer so weiter. Immer etwas unbeständiger im Gehen und vergesslicher mit Namen. Anfang November war es noch warm genug zum Schwimmen und wenn ich dann den langen Steg entlanglaufe, dann muss ich entweder ganz fest die heileurythmische Übung machen ‹links, rechts; sicher – standhaft – sicher – standhaft› usw., oder ich deklamiere lange Gedichte, um sicher anzukommen. Schillers ‹Das Lied von der Glocke› würde mich ganz ans Ende bringen, nur fehlen mir dort zu viele Passagen. ‹Der Taucher›, ‹Die Bürgschaft›, ‹Die Kraniche des Ibykus› gehen alle gut. Goethe auch, ‹Der Zauberlehrling›, ‹Der Getreue Eckart›, ‹An den Mond› und andere.» (16.11.2017)

Fast fünf Jahre später, im Mai 2022, nach dem 102. Geburtstag, hieß es dann: «Mit mir geht es scheinbar immer so weiter. Sarah und Thomas haben mir eine herrliche Bank geschenkt – ganz am Wasser – und da sitze ich immer und denke und schaue. Herrlich. – Herrlich das starke Grün der vollen Blätter – das Blau des Wassers – des Himmels – und dann noch Boote u. Menschen. Manchmal denke ich: wie, wenn R. Steiner so lange hätte leben müssen?? Sie – wir – hätten ihn zerfetzt und in alle Richtungen getrieben. Hierhin u. dort. Aber für mich – ich meine hier in meinem Hiersein – kann ich nur tiefen Dank sagen, so wie es geschehen ist.»

Schon ist mein Blick am Hügel, dem besonnten,
dem Wege, den ich kaum begann, voran.
So fasst uns das, was wir nicht fassen konnten,
voller Erscheinung, aus der Ferne an –
und wandelt uns – auch wenn wirs nicht erreichen,
In jenes, das wir, kaum es ahnend, sind;
ein Zeichen weht – erwidernd unserm Zeichen …
Wir aber spüren nur den Gegenwind.

Rainer Maria Rilke

Als das Jahr 2023 sich zur Passionszeit neigte, zwei Tage nach Ita Wegmans Todestag, durfte sie sich dann endlich auf den Weg machen, auf den großen Gang «in jenes, das wir, kaum es ahnend, sind».


Titelbild Traute Lafrenz Page, Privatbesitz

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