Entwicklungs­chancen des Lebenslaufs

Mathias Wais sucht den Zukunftskeim in der Krise. Sein Buch ‹Ich bin, was ich werden könnte› bietet eine erfahrungssatte Überschau über Phasen und Wendepunkte biografischer Entwicklung, Anregungen zur Arbeit an der eigenen Biografie inklusive.


Biografische Phänomene werden beispielhaft aus dem Leben gegriffen und so verständlich, erfahrbar und zur Selbstreflexion verfügbar. Beim Blick in die menschliche Seele erfahren die Lesenden, wie ureigen innere Widerstände dem Wesen des Menschen sind. Wie der Mensch immer wieder dazu aufgefordert ist, den eigenen Schatten zu bekämpfen, Grenzen zu erfahren und dabei in die Zukunft zu wachsen. Oder in den Worten des Autors: «Immer aber wird die tätige Selbsterkenntnis darin bestehen, die Sprache der Krise so zu hören, dass ein Klang aus der Zukunft ertönt.»

Der erste Teil des Buches handelt von der Konstruktion menschlichen Schicksals. Davon, wie wir selbst zum Schöpfer des Schicksals werden. Wie entscheidend und lebensbejahend dieser aktive Schicksalsbegriff doch ist: Das Leben ergreifen, statt es passiv erleiden. Hier schon spricht sich der positive Geist aus, von dem das ganze Buch getragen ist. Der zweite Teil gibt einen Einblick in biografische Phänomene und ist insofern für alle Lesenden relevant. Im dritten Teil führt der Autor in die Beratungsarbeit ein. Ein Übungsweg gleichsam für Ratsuchende und Beratende. Schließlich endet das Buch mit einem umfassenden Gastbeitrag von Uwe Meinardus zum Verhältnis von Biografiearbeit und Psychotherapie. Ein Abschnitt, der nicht frei von Polemik und interessanter für die therapeutische Perspektive ist.

Mathias Wais zeichnet ein zukunftsoffenes Bild des Menschen. Ein Bild, das sich nur in Anteilen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auffinden lässt. Ein Teil unseres Ich liegt verborgen in der Zukunft. Schon das kleine Kind hat heute so viel mehr Persönlichkeit als noch vor 100 Jahren. Das Leben steht von Anbeginn unter neuen Vorzeichen: eine Flut von Möglichkeiten, Informationen, Begegnungen. In diesen Strom hineingestellt, wird Selbstverwirklichung zunehmend wichtiger. Was treibt den Menschen heute um? Die Suche nach seiner Identität.

Das Buch zeigt, wie menschliche Biografien trotz aller Verschiedenheit nach ähnlichen Gesetzmäßigkeiten verlaufen. Der Mensch wird geboren, wächst heran, durchlebt verschiedene Stadien, Krisen und Wendepunkte. Diese können entwicklungsbedingt aus dem Menschen herauskommen oder vom Kosmos herrühren. Manche Geschehnisse sind bedingt durch den leibgebundenen Siebenjahresrhythmus. Andere sind vielmehr kosmisch, etwa durch die wiederkehrenden Mondknoten alle achtzehndreiviertel Jahre. Ereignisse, die wie Entwicklungsmotoren wirken. Plötzlich geschieht etwas, zudem sich der Mensch neu in Beziehung setzen muss. Eine neue Verortung des Ich zur Welt und sich selbst will errungen sein. Dazu kommt Hilfe von oben. Das alltägliche Ich wird durch das Höhere Ich impulsiert, unterstützt von Engelwesen. Es versucht so, im Fortgang des Lebens dem eigenen Urbild, den Motiven seines Erdengangs näherzukommen.

Mathias Wais führt hier auch in die Wirkensbereiche und den Umgang mit Engeln ein. Er zeigt, wie Engel in dem scheinbar zufällig Beiläufigen erscheinen und dazu herausfordern, das Alltags-Ich zu überwinden und Anschluss an die Impulse des höheren Ich zu finden.

Die Grundannahme einer geistigen Welt ist Basis von Mathias Wais’ Arbeit, die trotz des anthroposophischen Weltbilds der Lebenswirklichkeit so nahe kommt, dass sie auch für die eher agnostischen Lesenden einen Versuch wert sein könnte.

Mathias Wais lädt mit seinem Buch, das inzwischen ein echter Klassiker ist, die Lesenden ein, nach dem Zukunftskeim zu suchen. Ganz im Gegensatz zur Psychoanalyse, die den Blick in Vergangenes, in Kausalitäten menschlichen Seins richtet. Der Grundgedanke seiner Biografiearbeit besteht in der Frage: Was will da werden? Und nicht: Wie hätten Sie es gern? Insofern macht das Buch Mut, das Fremde, Neue und Ungewisse willkommen zu heißen. Erfahrungsreich. Wissend. Gütig. Beispielhaft. Menschlich und verblüffend. Dazu auch noch sprachlich schön und klar gegliedert. Eine echte Empfehlung für alle Menschen. Ein Buch, das man immer wieder lesen kann.


Buch Mathias Wais, Ich bin, was ich werden könnte. Entwicklungschancen des Lebenslaufs. Anregungen für die Biographiearbeit. Info3-Verlag, Frankfurt am Main 2020

Grafik Fabian Roschka

Print Friendly, PDF & Email

Letzte Kommentare