Für Michael Kurtz, der am 25. April 2024 auf die andere Seite ging.
Am Anfang war ein großes Staunen. Das war 1988, als im Bärenreiter-Verlag eine Biografie über den Komponisten Karlheinz Stockhausen erschienen war. Der Autor: Michael Kurtz. Nie gehört. Hatte ich doch Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre an der Musikhochschule in Köln, an der Stockhausen lehrte, studiert. Aber von einem Michael Kurtz war da nie die Rede. Doch eine innere Stimme sagte mir: Du musst es lesen, und ich habe es nicht bereut. Ob biografische oder werkimmanente Details, seine Darstellungen waren stets aufregend-erregend, zugleich fachlich kompetent und lehrreich, ohne je belehrend zu sein. Und dies angesichts der höchst anspruchsvollen Thematik, die die elektronische Musik nun einmal mit sich bringt. Vierzig Jahre bewegter Entwicklungsgeschichte(n) der Neuen Musik aus der Feder von Michael Kurtz berührten mich zutiefst.
Etliche Jahre später hörte ich, dass der Autor ein Waldorflehrer aus Bochum ist, der verschiedentlich auch im Rahmen der Sektion für Redende und Musizierende Künste am Goetheanum über seine Forschungen in Sachen zeitgenössischer Musik berichtete. Diese Gelegenheit galt es zu nutzen und schon bald haben wir anlässlich seiner Dornachaufenthalte an den Abenden stundenlange Gespräche über Musik, aber auch Bildende Kunst und natürlich Rudolf Steiner geführt. Es war dann seine Idee, mit zeitgenössischen Komponistinnen und Komponisten Kontakt aufzunehmen und sie um eine Komposition zu Wandtafelzeichnungen von Rudolf Steiner zu bitten, die Anfang der 1990er-Jahre ihre Tour durch namhafte Museen in der ganzen Welt begonnen hatten. Ich war zunächst sehr skeptisch, aber als ich Michael Kurtz im Gespräch mit der vielfach preisgekrönten finnischen Komponistin Kaija Saariaho erlebte und später mit Toshio Hosokawa (Tokyo), Frank Michael Beyer (Berlin), Eve Duncan (Melbourne) und noch einigen anderen, war ich berührt und fasziniert von dem großen Respekt, den all diese Komponierenden Michael Kurtz entgegenbrachten, und zugleich auch beeindruckt, mit welcher Unbeschwertheit und wirklichen Hingabe sie sich mit den Tafelzeichnungen und damit auch den Inhalten der Anthroposophie auseinandersetzten.
Meister der Vermittlung
Michael Kurtz war ein wahrer Meister der Vermittlung zwischen so verschiedenen Welten. Und so wurden an die zehn Kompositionen in verschiedenen Museen weltweit im Rahmen der Eröffnung von Ausstellungen der Wandtafelzeichnungen uraufgeführt. Einige davon kamen auch in der Schreinerei am Goetheanum zur Aufführung, darunter das Werk ‹Essay 3/Steiner› für Cello solo von Luca Lombardi, ursprünglich für die Tafel-Ausstellung in der Galerie der Universität La Sapienza in Rom komponiert. Thema war hier die soziale Dreigliederung, die es dem Komponisten ganz besonders angetan hat. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Für Michael Kurtz war aber auch die Zeit als Waldorflehrer, zunächst in Ottersberg, dann als einer der Gründungslehrer der Widar-Schule in Bochum-Wattenscheid, von großer Bedeutung. Vor allem der Wechsel nach Bochum sollte für ihn zu einer Erweiterung seiner Musikerfahrungen führen, rückte er doch näher an Jürgen Schriefer heran, der 1972 die Leitung der von der Sängerin Valborg Werbeck-Svärdström begründeten ‹Schule der Stimmenthüllung› übernommen hatte. Schriefers Vorträge und Kurse waren für Michael Kurtz eine Offenbarung. Zugleich widmete er sich unvermindert der zeitgenössischen Musik, führte mit bedeutenden Repräsentanten und Repräsentantinnen der Neuen Musik Gespräche und verarbeitete all die damit verbundenen Erlebnisse in weiteren Publikationen. Ein Werk der besonderen Art ist seine Biografie über die russische Komponistin Sofia Gubaidulina, die zusammen mit Edison Denisov und Alfred Schnittke die ‹musikalische Avantgarde› in Russland bildete. 1986 kam es zu einer ersten Begegnung mit der Komponistin und es sollten knapp 80 Interviews mit Freunden, Verwandten, Musikerinnen und Komponisten in zehn Ländern folgen. 2001 erschien dann die Biografie, deren Chronik am Schluss des Buches endet mit: ‹Verleihung der Goethe-Medaille in Weimar› (18.4.2001).
‹Festtage› in Dornach
Als diese kenntnisreiche, zutiefst ergreifende Biografie erschien, war Michael Kurtz schon unterwegs nach Dornach, um der Musik im Rahmen der Sektion für Redende und Musizierende Künste den Platz einzuräumen, der ihr gebührt. So hat er in zahlreichen Konferenzen, Symposien, Festveranstaltungen und Konzerten dem Musikimpuls von Rudolf Steiner und auch zahlreichen Musikern, die sich intensiv damit auseinandersetzten, eine Stimme gegeben und zugleich den Dialog mit der zeitgenössischen Musik gesucht und im Goetheanum ‹Festtage› mit Werken von Sofia Gubaidulina, die auch persönlich anwesend war, inszeniert.
Was unser Dasein substanziell macht
Das wohl gewichtigste Werk von Michael Kurtz aber ist seine knapp 600 Seiten umfassende Studie ‹Rudolf Steiner und die Musik, Biografisches – Geisteswissenschaftliche Forschung – Zukunftsimpulse›. Ausgangspunkt war das Erscheinen des Heftes Nr. 26 der ‹Nachrichten der Rudolf Steiner Nachlassverwaltung› (späterer Reihentitel: ‹Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe›) im Jahre 1969 unter dem Titel ‹Wortlaute von Rudolf Steiner über Musik›, herausgegeben von Helmut von Wartburg, Musiklehrer an der Zürcher Rudolf-Steiner-Schule. Da Michael Kurtz immer wieder im Vortragswerk Rudolf Steiners auf die Musik betreffende Stellen, die nicht in von Wartburgs Übersicht berücksichtigt waren, gestoßen war, wandte er sich schließlich an das Archiv mit der Frage, ob eine erweiterte Neuauflage in absehbarer Zeit erscheinen wird. Wir Archivare mussten dies leider verneinen, was aber eine intensive Recherche sowie einen regen Austausch über weitere Fundstellen auslöste. In jener Zeit hat Michael Kurtz seine biografischen Studien über Rudolf Steiner und die Musik vertieft: Steiner und Anton Bruckner, Steiner und Richard Wagner, Steiner und Nietzsche. Kurtz zeichnet hier ein Bild, das farbiger und erregender nicht sein könnte. Einer der Höhepunkte ist Kapitel V: ‹Rudolf Steiners Mysteriendramen als Gesamtkunstwerk und drei Werkutopien von Arnold Schönberg, Alexander Skrjabin und Charles Ives›. Solch eine Kapitelüberschrift fällt nicht einfach vom Himmel, sondern ist das Ergebnis eines Hinhörens, einer Hingebung an das, was unser Dasein substanziell ausmacht. Es ist ein in der Tat erstaunliches Buch geworden, das uns vieles lehrt, zunächst aber erst einmal das Staunen.
Am 25. April 2024 hat Michael Kurtz nach einer kurzen, schweren Krankheit seinen Erdenabschied genommen. Aber: Die Verbindung bleibt, denn, so Rudolf Steiner im Kasseler Vortrag vom 10. Mai 1914 (GA 261): «Die durch die Pforte des Todes Gegangenen schauen mich an, sie beleben mich, sie sind mit mir, ihre Kräfte strahlen auf mich hernieder.» – Ich freue mich darauf. Danke, lieber Michael! Walter Kugler
Dank an Michael Kurtz 1948–2024
«Wir Menschen der Gegenwart brauchen das rechte Gehör für den Morgenruf des Geistes!» Michael Kurtz ging uns couragiert voraus, keine Angst vor neuen Tönen zu haben. Er hat uns immer wieder Hoffnung gemacht, Ermutigung zuteilwerden lassen, beherzte Durchführung ermöglicht.
1993 erschien im ‹Goetheanum› eine 40-seitige Beilage von Michael Kurtz zur ‹Musik der zweiten Jahrhunderthälfte›. Darin wurden drei Fragen an bedeutende lebende Musikschaffende gestellt. Dieses Brevier hat eingeschlagen, hat aufmerksam gemacht, aufgedeckt und kräftig gewirkt. Diese ‹Beilage› weist signifikant auf ein Jahrzehnte währendes treues Begleiten und Aufzeigen gegenwärtiger musikalischer Entwicklungen, zeugt vom pädagogisch-aufklärenden Ethos von Michael Kurtz.
Immer wurde vor dem Hintergrund agiert, dass auch Hinweise Rudolf Steiners bezüglich solcher Fragen vorliegen. Michael Kurtz gehörte zu den wenigen, die diese Hinweise ausgesprochen weit vernetzt und zukunftsoffen behandelten. Manch andere bildeten daraus ‹Berliner Mauern› angesichts jeglicher Entwicklung über Bruckner hinaus und igelten sich ideologisch darin ein. Letzteres hat zu einer völligen Entfremdung zwischen musikalischem Gegenwartsgeschehen und dem Gros der sich auf Rudolf Steiner gründenden Kunstschaffenden geführt. Michael Kurtz wirkte dagegen als merkurialer Vermittler und Verteidiger des wichtigen zukunftshaltigen Impulses, nämlich des Hörens der musikalischen Morgenrufe an uns Menschen der Gegenwart.
In seinen zentralen Veröffentlichungen zu Stockhausen (1988), Gubaidulina (2001), Saariaho, Hosokawa und vielen anderen setzt Michael Kurtz prägnante Akzente in die Zeit. Mit seinem 600-Seiten-Werk zu ‹Rudolf Steiner und die Musik› setzte er einen Fuß in die Tür bezüglich der Rettung und Rehabilitierung der faszinierenden Keime für eine offene Zukunft in musikalischen Entwicklungen. Was in den meisten anderen Fällen zu einer eher reaktionären und restaurativen Vereinnahmung geriet, konterte Michael Kurtz in verbindlicher Tonlage und rückte zurecht, öffnete, bereitete für künftige Generationen als lebendig keimfähiges Gedankengut die musikalischen Impulse Rudolf Steiners auf. Wir verdanken Michael Kurtz manche Augen- und Ohrenöffner in musikalischen Belangen. Für die anthroposophisch orientierten Kunstschaffenden, die sich ja vornehmlich im Bildhaft-Imaginativen bewegen und damit begnügen, hat er entschieden den Schritt ins ungemütlich-dauerbewegte Musikalisch-Inspirative gewagt und somit ein Tor für Künftige und Künftiges gebaut.
Mit großer Dankbarkeit erweise ich Michael Kurtz mein Andenken, meine hohe Wertschätzung, meinen Gruß zu ihm hinüber in die geistige Welt. Mögen seine ‹Milestones› auch künftigen Generationen Anregung, Ermutigung, Augen- und Ohrenöffnung sein! Stephan Ronner
Bild Michael Kurtz, Foto: Anna Krygier