Die ‹Frauenfrage› – der Kampf der Frauen um das Recht auf Bildung, das Recht auf Unabhängigkeit und das Wahlrecht – war gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts eine der großen sozialen Fragen, die auch Rudolf Steiner immer wieder aufgriff.
Mit vielen bedeutenden Protagonistinnen der Frauenbewegung war er persönlich bekannt – unter anderen mit Rosa Mayreder und Marie Lang. Aber auch eine der Ersten überhaupt, die sich für die Rechte der Frauen stark machte, kannte er persönlich: Hedwig Dohm. Sie schrieb Romane und Novellen. Bekannt wurde sie jedoch vor allem für ihre gesellschaftspolitischen Schriften – wie ‹Was die Pastoren von den Frauen denken› (1872), ‹Die wissenschaftliche Emanzipation der Frau› (1874) oder ‹Der Frauen Natur und Recht. Zur Frauenfrage› (1876).
Ihre Tochter Hedwig Pringsheim – Schwiegermutter von Thomas Mann – erwähnt, ihre Mutter habe wehmütig geklagt, «dass sie teils ignoriert, teils verlacht werde. Die Zeit war eben noch nicht reif. Dass sie aber reif wurde, ist zu einem nicht geringen Teil Hedwig Dohms Verdienst, dieser kühnen, leidenschaftlichen Ruferin im Streit. Alles, wofür sie gekämpft und gelitten hat, wofür sie ausgelacht und angepöbelt worden ist, hat sich erfüllt, und zwar viel schneller, als man erhoffen durfte. Frauen-Gymnasialbildung und -Universitätsstudium, Erschließung wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Berufe, sogar das aktive und passive Wahlrecht der Frau hat sie als beinahe schon Sterbende noch erlebt.»1 Sie freute sich, dass ihre Töchter und Enkelinnen schon ihr «geistiges Eigenkleid»2, wie sie es nannte, tragen durften.
Lebensweg
Hedwig Dohm wurde als drittes uneheliches Kind des jüdischen Tabakfabrikanten Gustav Adolph Schlesinger (nach der Konversion zum Christentum nahm er den Namen Schleh an) und von Henriette Jülich am 20. September 1831 geboren. Da die Mutter als nicht standesgemäß galt, konnten die Eltern erst 1838 heiraten. Hedwig war das vierte von insgesamt 18 Kindern, von denen zwei im Kindesalter starben. Sie litt unter der Gleichgültigkeit und Engherzigkeit ihrer Mutter, wie sie in ihren Jugenderinnerungen erzählt, die in plastischen Schilderungen in das Berlin vor 1850 zurückführen.3 «Aus dieser verdüsterten und liebeleeren Jugend ist ihr eine gewisse Schüchternheit und Unsicherheit bis an ihr Lebensende geblieben», schreibt ihre Tochter. Die ganz auf Empfindung ausgerichtete Schulausbildung, die damals für Mädchen vorgesehen war, empfand die junge Hedwig als ziemlich öde. Auch die den Eltern abgerungene Lehrerinnen-Ausbildung befriedigte ihren Bildungsdrang in keiner Weise.
1853 heiratete sie den Redakteur der satirischen Zeitung ‹Kladderadatsch›, den studierten Theologen Ernst Dohm (1819–1883). Mit ihm hatte sie fünf Kinder, vier Töchter und einen Sohn, der zwölfjährig starb. Die Ehe war nicht konfliktfrei, auch mussten die Eheleute sich für einige Zeit trennen, weil Ernst Dohm eine Zeit lang aus Berlin fortmusste, um der Schuldhaft zu entgehen. Hedwig Dohm war es ein Herzensanliegen, ihren Kindern die Mutter zu sein, die sie sich selbst gewünscht hätte: «Betrachtet man sie als Vorkämpferin und Dichterin, ist sie, ihrer Herkunft und ihrem Werdegang nach, fast ein Wunder; als Mutter aber war sie ein Märchen. […] Zärtlichkeit, eine aufopferungsvolle Liebe, ein stetes Sinnen und Trachten, ihre Kinder glücklich zu machen, sie zu freien, selbstständigen Menschen zu erziehen, erfüllten sie bis zu ihrem Tode.» Um den heranwachsenden Töchtern anregende Unterhaltung zu geben, lud das Ehepaar Dohm ab Mitte der 1870er-Jahre jeden Montagabend Freunde ein. Daraus entwickelte sich – trotz bescheidener Beköstigung – mit der Zeit ein berühmter Salon, in dem sich die Größen der Berliner Kultur trafen.
Nie habe ich eine Frau gekannt, die gütiger, verstehender, toleranter, warmherziger alles Menschliche in sich aufnahm, deren Herz sich weit öffnete für jede Freude und jedes Leid, jeden Fortschritt glühend begrüßte […]
«Schön war sie», schreibt Hedwig Pringsheim über ihre Mutter, «und reizend; klein und zierlich von Gestalt, mit großen, grünlich braunen Augen und schwarzen Haaren, die sie auf Jugendbildnissen noch in schlichten Scheiteln aufgesteckt trug, später aber abgeschnitten hatte und die dann halblang und leicht gewellt ihr wunderbares Gesicht umrahmten. […] Nie habe ich eine Frau gekannt, die gütiger, verstehender, toleranter, warmherziger alles Menschliche in sich aufnahm, deren Herz sich weit öffnete für jede Freude und jedes Leid, jeden Fortschritt glühend begrüßte und im hohen Alter jünger und begeisterter war als alle ihre Kinder und Enkel zusammen. – Wann sie ihren Beruf als Schriftstellerin entdeckte, was sie ursprünglich antrieb, als Vorkämpferin für ihr Geschlecht die Feder zu ergreifen, weiß ich nicht so recht. Ihr Mann hat sie sicher nicht dazu animiert, sie aber auch nicht daran gehindert. […] Wer sie nur aus ihren Kampfschriften kannte und ein Mannweib zu finden erwartete, wollte seinen Augen nicht trauen, wenn ihm dies holde, liebliche und zaghafte kleine Wesen entgegentrat. Aber ein Gott hatte ihr gegeben, zu sagen, was sie gelitten, was sie in Zukunft ihren Geschlechtsschwestern ersparen wollte. Wenn ich heute ihre Schriften […] durchblättere, staune ich über die Kraft ihrer Feder, den Glanz ihres Stils, die Leidenschaft ihrer Gefühle und habe durchaus den Eindruck, dass sie die geborene Schriftstellerin war.»
Frauenfragen
Bereits in der ersten Hälfte der 1870er-Jahre fing Hedwig Dohm an, über die Frauenfrage zu schreiben. Wie bei anderen Vorkämpferinnen der Frauenrechte war die Aufmerksamkeit auf diese Frage wohl zunächst durch eigene schmerzliche Entbehrung von tieferer Bildung in der Jugend geweckt worden. Aber auch die völlige Abhängigkeit vom Ehemann bis ins Finanzielle hinein, das Schattenleben im Dienst von Haushalt und Familie, die Vorenthaltung staatsbürgerlicher Rechte u. a. behandelt sie in ihren Werken. Eine ihrer wichtigsten Schriften, ‹Der Frauen Natur und Recht› (1876), gliedert sie in die Beantwortung der Fragen: «1. Welche Eigenschaften haben die Frauen nach dem Dafürhalten der Majorität der Menschen? – 2. Aus welchen Eigenschaften sollte oder müsste der Geschlechtscharakter des Weibes bestehen nach dem Verdikt der Männer? – 3. Warum verlangen die Männer gerade diese Eigenschaften von den Frauen? – 4. Welche Eigenschaften haben die Frauen wirklich? – 5. Bilden diese Eigenschaften den Geschlechtscharakter des Weibes?» In ‹Die Antifeministen› schreibt sie 1902, was an das Kapitel ‹Individualität und Gattung› in Rudolf Steiners ‹Philosophie der Freiheit› erinnern kann: «Gleichgültig, ob ich Mann, Weib oder Neutrum bin […] vor allem bin ich Ich, eine bestimmte Individualität, und ein bestimmter Wert beruht auf dieser Individualität.»4
Auch literarische Werke verfasste sie zu ihrem großen Thema, Romane und Dramen. Ein wunderbares Werk ist zum Beispiel die mit erstaunlicher Sprachkraft geschriebene Novelle ‹Werde, die du bist› von 1894, die in bewegender Weise die Geschichte der bürgerlichen Hausfrau Agnes Schmidt erzählt, die erst als Greisin in schmerzlichen Prozessen und im ersten Erleben einer wirklichen Liebe zu sich findet – zu der wird, die sie eigentlich ist.
Sich selbst bilden
Bis an ihr Lebensende hat Hedwig Dohm, so ihre Tochter, «es bitter beklagt, dass die elende Mädchenschulbildung jener Zeit sie auf Schritt und Tritt gehemmt hat. Ihr fehlte die solide Grundlage, darüber konnte sie zuweilen geradezu verzweifeln, und noch als alte Frau hat sie mit rührendem Eifer versucht, diese Lücken auszufüllen, hat in unserem Hause Vorlesungen von Ernst [Eugen] Dühring arrangiert, hat andächtig zu Simmels Füßen in der Universität gesessen, hat Rudolf Steiner veranlasst, bei ihr Vorträge zu halten, hat keine Gelegenheit versäumt, nachzuholen, was die Jugend ihr vorenthalten.»
Dass sie solche Antipoden wie Eugen Dühring und Rudolf Steiner zu Vorträgen zu sich eingeladen hat, zeigt Hedwig Dohms Suchen nach allen Richtungen. Auf den Letzteren wurde sie vermutlich um die Jahrhundertwende aufmerksam – jedenfalls war sie anwesend bei der Gedenkfeier der ‹Kommenden› für Ludwig Jacobowski am 5. Dezember 1900, bei der Rudolf Steiner eine Rede auf den Verstorbenen hielt. Sie schrieb ihm in einem undatierten Brief – wohl kurz vor Erscheinen des ‹Lucifer› im Juni 1903: «Hochverehrter Herr Steiner. Ich freue mich um so mehr auf Ihre Monatsschrift, da ich in diesem Winter außerstande bin, Ihre Vorträge zu hören. – Ob ich wieder einmal versuche Sie und Ihre liebe Frau Sonntag Abends zu mir einzuladen? Ich glaube, ich versuche es im neuen Jahr. Montags von 4–6 Uhr habe ich einen sogenannten Jour. Vielleicht sagen Sie das Ihrer Gattin, die ich schönstens grüßen lasse. Mit verehrungsvollem Gruß Hedwig Dohm». Sie gehörte zu den ersten Abonnenten der Zeitschrift ‹Lucifer› – und organisierte, wie sich der obigen Mitteilung ihrer Tochter entnehmen lässt, auch Vorträge Rudolf Steiners in ihrem Hause.
Am 31. Oktober 1907 jedoch musste sie ihn «– leider leider – bitten, mich aus der Abonnentenliste des ‹Lucifer› zu streichen. Wie mich zunehmende Schwerhörigkeit und sonstige Altersschwächen schon seit Jahren vom Besuch Ihrer Vorträge zurückhalten, so hindert mich jetzt Augenschwäche am Lesen. Kaum das Allernothwendigste können meine Augen noch bewältigen. Die Schatten des hohen Greisenalters senken sich tiefer. Nicht leichten Herzens verzichte ich auf geistige Samen, wie sie aus dem Lucifer und aus Ihren Vorträgen mir leuchteten. Vielen Dank schulde ich Ihnen. Mit verehrungsvollem Gruß Hedwig Dohm»5.
Noch als Greisin erhob sie in Artikeln während des Ersten Weltkriegs und buchstäblich «Auf dem Sterbebett»6 wenige Tage vor ihrem Tod am 1. Juni 1919 ihre Stimme gegen Nationalismus und Kriegswahn. Ihre Werke legen nahe, dass sie bis zuletzt innerlich darum rang, ob der Mensch im Grunde ein geistiges oder ein bloß irdisches Wesen sei. Doch haben die «geistigen Samen», die sie Rudolf Steiner verdankt, im Tiefsten ihrer großen Seele sicher einen fruchtbaren Boden gefunden.
Footnotes
- Hedwig Pringsheim, ‹Meine Eltern Ernst und Hedwig Dohm›, in: Meine Manns. Briefe an Maximilian Harden 1900–1922. Berlin 2008, S. 268–271. Alle folgenden Zitate, soweit nicht anders nachgewiesen, stammen aus diesem Artikel.
- ‹Kindheitserinnerungen einer alten Berlinerin›, in: Hedwig Dohm/Hedda Korsch, Erinnerungen. Zürich 1980, S. 53.
- Siehe die vorige Anmerkung.
- Hedwig Dohm, Die Antifeministen. Ein Buch der Verteidigung. Berlin 1902, S. 135.
- Originale der Briefe im Rudolf-Steiner-Archiv, RSA 086.
- Vossische Zeitung, 7. Juni 1919.