In wissenschaftlichen und populären Zeitschriften wurde die Ankündigung einer Gruppe von Wissenschaftlern im November 2018 in Versailles als größte Revolution in der Metrologie – der Messkunst – seit ihrer Gründung nach der Französischen Revolution gefeiert. Der einstimmige Beschluss dieser Delegierten aus rund hundert Staaten am BIPM (Bureau International des Poids et Mesures) trat am 20. Mai 2019, dem Weltmetrologietag, weltweit in Kraft.
Ein heroisches Ziel wurde verfolgt: Grundwerkzeuge zu schaffen, um alle Aspekte der sinnlichen und der Kräftewirkungen quantitativ zu erfassen und dieses ‹Systeme international d’unités› (im Volksmund ‹metrisches System›) als einzig anerkanntes zu etablieren. Globalisierung par excellence! Dies will man durch sieben sogenannte Basisdimensionen (und ihre jeweiligen Einheiten) bewerkstelligen: Masse (Kilogramm), Länge (Meter), Zeit (Sekunde), Licht (Candela), Wärme (Kelvin), Stoffmenge (Mol) und Elektrizität (Ampere). Alle anderen sinnlichen Kräftewirkungen sollen aus Kombinationen dieser sieben Basisdimensionen charakterisierbar sein.
Der Entwicklung dieses Systems entspricht eine Reihe von Abenteuergeschichten, die zumeist Verfeinerung und Evolution beinhalteten. Aber Revolution, ein Wort, das eher politische und ethische als wissenschaftliche Bedeutung hat? Tatsächlich! – Das Fass zum Überlaufen brachten nicht zuletzt die Mätzchen eines Metallzylinders, der unter drei Glasglocken in einem Gewölbe in der Nähe von Paris streng bewacht wird, des sog. Internationalen Kilogrammprototyps (IPK oder ‹Le Grand K›). Der Nobelpreisträger William Phillips hat in seinem Vortrag auf dem oben genannten entscheidenden Treffen zunächst die Geschichte des Kilogramms von der babylonischen Zeit über die Definition als Gewicht eines Liters Wasser bis zum IPK verfolgt und darauf hingewiesen, wie sich die Masse dieses wohlbehüteten Stücks Platin-Iridium im Laufe der Jahre verändert hatte. Über den Grund stritten sich die Geister. Zum Beispiel erschien 1995 in der Zeitschrift ‹Science› ein Artikel, der vor zukünftigen Problemen warnte, weil der Kilogrammputzer Georges Girard in den Ruhestand ging. Ob ein Neuling ihn zur Zufriedenheit der ‹Welten-Weightwatchers› (1) reinigen könne (d. h. weder angesammelte Substanz anhaften lassen noch Metall abreiben)? Diese Sorge sowie andere mögliche Prozesse ließen den allmählichen Gewichtsverlust des Kilogramms – etwa 50 Milliardstel eines Gramms – als Grundsatzfrage erscheinen.
Außerdem wurden im Laufe der Zeit die sechs anderen Basisdimensionen durch Messmethoden ersetzt, die solche Artefakte erübrigten. Zum Beispiel wurde die Sekunde in Bezug auf die (konstante) Strahlungsfrequenz des Elements Cäsium neu definiert.(2)
Abhängige Geflechte
Im gleichen Geiste wurde eine andere, weitaus sublimere Konstante – die Lichtgeschwindigkeit – verwendet, um den Meter zu definieren: Ein Meter ist die Entfernung, die ein Lichtstrahl während 1/299792458 Sekunden zurücklegt. Es lohnt sich, diese nun obsolete Definition näher zu betrachten. Sie hängt nicht von einem künstlich hergestellten Prototyp ab. Sie verwendet eine Formel (Geschwindigkeit = Zeit geteilt durch Strecke). Die Definition bezieht sich auf eine weitere Basiseinheit, die Sekunde.
Das Geflecht der Abhängigkeiten sieht dann folgendermaßen aus: Sekunde und Mol sind unabhängig von anderen Basiseinheiten. Kilogramm, Kelvin, Ampere, Candela und Meter hängen von der Sekunde ab. Kelvin und Candela hängen zusätzlich von Meter und Kilogramm ab.
Vergleichen wir die obige Meter-Definition mit jener, die im Mai 2019 in Kraft getreten ist. Der Meter ist bestimmt, indem der numerische Wert der Lichtgeschwindigkeit c im Vakuum festgelegt wird auf 299 792 458 m/s, wobei die Sekunde über die Cäsiumfrequenz ΔvCs definiert ist.
Die Lichtgeschwindigkeit wird in der ersten Definition nicht explizit erwähnt, wohingegen sie in der neuen Definition auf einen exakten Wert (unendlich viele Dezimalstellen sind Null(3)) festgelegt wird. Alle sieben Maßeinheiten werden in dieser knappen Form als Festlegung eines exakten Wertes einer Naturkonstante (bisher tabu) und beiläufig als von anderen Einheiten abhängig definiert.
Atmende Qualitäten
Obwohl sich ein Physiker (über die knappen nicht erwähnten Formeln) freut, sind die Definitionen für einen Laien undurchsichtig. Auch Naturkonstanten exakte Werte zu geben, erscheint zunächst wie eine Aussage der Art: π = 3.
Wenn wir dennoch das neue System mit älteren Definitionen vergleichen, können wir jubeln – keine versteckten Zahlen und unmotivierten Richtlinien mehr. Fehler rutschen direkt in die Basiseinheit hinein. Die Genauigkeit bleibt für einige Einheiten gleich, während sie für andere steigt. Obwohl wir zum Beispiel wissen, dass sich die Masse eines Kilogramms mit Umgebung und Bewegung ändert, wirkt sich der oben genannte relativistische Status der Sekunde nur auf die 18. Dezimalstelle aus.
Diese köstliche Relativitätslücke in den ansonsten verlatteten Zäunen des Globalisierungsglaubensbekenntnisses der SI (und seine oft negativen soziopolitischen Konsequenzen) kann uns aber auf eine klare Botschaft aufmerksam machen. Alle Qualitäten (vielleicht mit Ausnahme des Mols) atmen wirklich mit den unnachahmlichen Rhythmen des Kosmos (Tag und Nacht, Jahreszeiten) und der Erde (Berge, Täler, Tiefen der Ozeane). Wer diese Entwicklungen verfolgt, wird diese letzte Runde anregender als alle anderen finden. Es war wirklich die bedeutendste Umwälzung seit der Französischen Revolution!
(1) Die einzelnen Staatshüter des Kilogramms aus den verschiedenen Ländern.
(2) Wichtig ist auch, dass die Sekunde – alt wie neu – eine sog. lokale Sekunde ist: Ihre Dauer hängt sowohl vom Ort (allgemeine Relativitätstheorie) als auch von der Bewegung des Ortes (im All: spezielle Relativitätstheorie) ab. Dies scheint das oben zitierte Prinzip zu widerlegen, doch soll damit die Erde betont werden. (3) Sind nicht alle Messwerte fehlerbehaftet?
Bild: IPK oder ‹Le Grand K›