Eine Erweiterung der Theaterkunst

Der Regisseur Gosha Valerian Gorgoshidze beleuchtet Rudolf Steiners Schauspielkurs von 1924 für das Theaterleben. Er deutet auf ein Theaterspiel, das die Sprachkräfte und karmischen Verbindungen erleben lässt und so an die spirituelle Dimension des Lebens anknüpft.


Als Rudolf Steiner im ‹Dramatischen Kurs› einen Überblick über die Entwicklung des Dramas gab, betonte er die Schicksalsträchtigkeit der alten Griechen (Aischylos, Sophokles, Euripides) und das Phänomen des Charakters, der in späterer Zeit im Theaterleben immer mehr in den Vordergrund tritt und das Schicksal überwindet. Hier zeigt sich der Prozess der Individualisierung des Menschen in der Dramaturgie. Im 20. Jahrhundert wird dann das Innenleben des Menschen immer prägnanter. Dieses Innenleben wird oft zu einer tiefen Grenzerfahrung. Wir begegnen vielen Figuren, die einsam und geistig entwurzelt sind. In einem Erkenntnisprozess können wir aber auch unsere Verbundenheit und geistige Anbindung finden, den anderen im eigenen Inneren entdecken. Und so kommen Schicksal und Charakter zusammen. Das Schicksal als Karma, in dem wir auf tiefe Weise miteinander verbunden sind. Und der Charakter als Individuum, das sich aber nur in einem größeren Zusammenhang erfahren kann. In den Mysteriendramen Rudolf Steiners finden wir dieses Prinzip der Zusammenführung von Schicksal und Charakter in der Handlung entfaltet. Deshalb können wir in diesen Dramen richtungsweisende Kunstwerke für die Erneuerung der Theaterkunst sehen.

Ausgangspunkt des ‹Dramatischen Kurses› ist die Sprachgestaltung. So lautet auch der Titel des Kurses ‹Sprachgestaltung und Dramatische Kunst›. Die Sinn- und Ideenempfindung zur Laut- und Wortempfindung zu führen – das wäre der Ansatz. Keine bloße Wiedergabe des Inhalts, sondern seine Fortsetzung im Künstlerischen. Laute sind die Grundlage der Sprache. Ihre Empfindung zu entwickeln, die Lautstimmungen erleben zu können – das wäre die Voraussetzung, um die Schauspielkunst wieder mit dem Geistigen zu verbinden. Laute können sowohl im Körper als auch in der Seele erlebt werden. Entsprechend kann man sich darauf schulen, Lautstimmungen hervorzurufen. Und mit diesen Stimmungen kann man spielen, sich in die Bilder und Gefühle hineinversetzen, die das Spiel wieder in einen harmonischen Zusammenhang mit dem Kosmos stellt. Ein hohes Ideal. Albert Steffen sprach von einer Dichtung und Bühnenkunst, die «therapeutisch» wirkt.

Dieser Ansatz will etwas Neues in die Entwicklung des Theaters einbringen. Das Theater des 20. Jahrhunderts hat sich zur Wahrnehmung des Menschen mit seinen Schmerzen und Freuden entwickelt. Rudolf Steiner schlägt vor, den Menschen auch als geistiges Wesen wahrzunehmen, das unmittelbar in den Tönen und in der Sprache lebt. Die Laute, das Wort, der Satz werden durch die menschliche Stimme, durch den Ton hörbar. Im Schauspielkurs heißt es, das Intonieren der Laute solle dem Schauspieler zur Gewohnheit werden, die Worte aber sollten im Augenblick des Spiels bewusst intoniert werden. Was bedeutet das? Der Ton drückt die Seele aus, die Seele der Figur, der der Schauspieler seine eigene verleiht. Es wird der Ton gesucht, der im Text oder in dem Sprachwesen hinter dem Text der Figur entspricht. Nicht ein willkürlicher Ton ist hier gefragt, nicht eine willkürliche Interpretation des Textes, sondern der vorgegebene Ton, der vom Darstellenden individualisiert werden kann.

Für das Schauspiel ist die Eurythmie ein Fundus und eine Inspirationsquelle. Im ‹Dramatischen Kurs› empfiehlt Rudolf Steiner den Schauspielern, sich mit der Eurythmie zu beschäftigen, nicht um auf der Bühne zu eurythmisieren, sondern um die Laute in ihren Gebärden und entsprechend in ihren Stimmungen erleben zu können. «Sich mit dem Gespenst der eurythmischen Gestaltung nach innen, mit diesem Spiegelbild, zu füllen und dabei zu intonieren» – ein Weg zum Erleben, wo man neue Möglichkeiten entdecken kann. Rudolf Steiner spricht vom Ursprung der Theaterkunst in den Mysterien. Ein Mysterium ist eine Handlung, die sich nicht nur in der physischen Welt abspielt. Der ‹Dramatische Kurs› kündigte vor genau 100 Jahren eine neue Suche nach einem Mysterientheater an.


Bild ‹Der Besucher› von Eric-Emmanuel Schmitt, 2023. Regie: Gosha Gorgoshidze. Sigmund Freud: Jens Bodo Meier, Ein Nazi: Peter Meyer. Foto: Ariane Totzke

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