Aus Anlass des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs – von dem man damals noch nicht wusste, ob er sich nicht auch auf die Schweiz ausdehnen würde – fand Mitte August 1914 für die in Dornach lebenden Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft ein ‹Sanitäts-Kurs› statt, der von einigen Vorträgen Rudolf Steiners über das ‹Geheimnis der Wunde› begleitet wurde.(1)
Wie Madeleine von Deventer berichtet, zeigte eine polnische Ärztin [vermutlich Henriette Ginda Fridkin, 1879–1943] nach den Vorträgen «die verschiedenen Verbände, künstliche Atmung und so weiter. Da sie die deutsche Sprache nicht gut beherrschte, machte Rudolf Steiner, der neben ihr auf dem Podium stand, manches deutlich und legte auch öfter selbst einen Verband an, der dann ‹saß›.»(2)
Wie Rudolf Steiner für alle möglichen kleinen Gebresten gleich ein Hilfsmittel bereithatte und wie geschickt er im Anlegen von Verbänden war, davon berichten verschiedene Eurythmistinnen. So erzählt Annemarie Dubach-Donath (1895–1972) in ihren ‹Erinnerungen›: «Lange Zeit hindurch, als ich beim Auftreten auf der Bühne immer ein merkwürdiges Zittern in den Füßen spürte, durfte ich vor jeder Aufführung in das Zimmer hinter der Bühne kommen, wo Herr und Frau Doktor nachmittags ihren Tee einnahmen […], und er band mir eigenhändig mit einem leichten Gazeverband die Füße ein. Mit welcher Sorgfalt, Ruhe und Güte tat er das, so, als ob es das Selbstverständlichste von der Welt sei und als ob er keine Eile, sondern unbegrenzte Zeit hätte. Einmal sagte er dabei: ‹Das tue ich, damit der Ätherleib stärker in den Füßen wirkt.› Wie er überhaupt mir stets ausführlich erklärte, warum und zu welchem Zweck er mir ein Mittel verordnete, und auch den Grund der Krankheit genau und ausführlich beschrieb. – Als er einer anderen Eurythmistin einmal den Arm, den sie sich bei einem Sturz verletzt hatte, einband und eine zweite, danebenstehend, spontan ausrief: ‹Wie schön ist das!› – nämlich die Lemniskate, in welcher Herr Doktor den Verband anlegte, da erwiderte er: ‹Ja, und es ist auch schön, wenn man das schön finden kann!›»(3)
Winifred Barlen-Grafton (1903–1993), eine junge britische Eurythmistin, berichtete in einem kleinen Artikel über die ‹Frühe Zeit der Eurythmie›, wie Rudolf Steiner ihr half, als sie «von einem giftigen Insekt ins Bein gestochen worden» war und das Bein anschwoll und schmerzte: «Beim Eintritt in die Schreinerei musste Rudolf Steiner das bemerkt haben. Er gebot mir, mich niederzusetzen, brachte eine Schüssel mit einer Flüssigkeit sowie eine Bandage und begann mein Bein zu baden und einzubinden. Er kniete vor mir, um das zu tun. Während der ganzen Zeit sprach er kein Wort, er erschien mir ernst, streng und in sich gekehrt. Auch ich sprach kein Wort, und so verlief der Zwischenfall in Schweigen.»(4)
In einer handschriftlichen Fassung für ihren Beitrag ‹Die Anfänge der Eurythmie›(5) erzählt die erste Eurythmistin Lory Maier-Smits (1893–1971) ebenfalls ein – für den Buchbeitrag weggekürztes – Beispiel für Rudolf Steiners Fürsorge. Bei der Aufführung für Goethes Gedicht ‹Séance› am 17. Juli 1921 mussten sie und Ilse von Baravalle als «Mitlauter S und L […] mit ganz steifen Beinen – die eine von links nach rechts, die andere von rechts nach links – quer über die Bühne eine Schlangenlinie legen. Die Proben gingen gut, aber just bei der Aufführung verhakten sich unsere Beine.» Beide fielen hin – und sprangen unter tosendem Beifall wieder auf. Hinter der Bühne «wurde der Zwischenfall eifrigst besprochen und belacht, Rudolf Steiner kam dazu und lachte ebenfalls laut und herzlich – ich habe ihn niemals vorher oder nachher so lachen sehen. ‹Wir können es nie wieder machen›, sagte er dann, ‹denn unser Publikum wird mit Recht verlangen, dass Sie’s wieder so machen. Und das können Sie nicht! Wie Sie gefallen sind – es war nur ein Schlag und der einzig richtige Augenblick! Wie Sie wieder aufgesprungen sind, weitermachten und alles gleichzeitig! Und diese Symmetrie! Es war einfach prachtvoll.› […] Als Herr Doktor noch einmal die exakte Symmetrie betonte, sagte ich etwas kläglich: ‹Aber ganz symmetrisch war es doch nicht, denn der Ilse ist nichts passiert, aber ich hab mir meinen Daumen verknackst.› Sofort schaute Rudolf Steiner den Daumen an, ließ sich ein Viertelliter lauwarmes Wasser, Arnika und eine elastische Binde bringen und legte selbst einen Verband an. Erst zählte er sehr sorgfältig eine Anzahl Tropfen ab, und dann wickelte er meine Hand so ein, dass der Daumen ziemlich stark gestaut wurde. ‹Es wird den ersten Tag, besonders heute Nacht, ein bisschen unangenehm sein, aber das muss so sein. Ich muss alle heilenden Kräfte dort stauen. Morgen Abend kommen sie wieder, und dann bekommen Sie einen neuen Verband.› Ich durfte nun eine Reihe von Tagen kommen, und immer wurde der Daumen mit der gleichen Sorgfalt und Güte behandelt. Einmal kam beim Abzählen der Tropfen ein bisschen zu viel in das Wasser. Herr Doktor ließ sich frisches kommen und stellte die Mischung von Neuem her. – An einem der nächsten Abende sollte ich auch wieder nach einem Vortrag kommen. Aber anschließend an den Vortrag ging Rudolf Steiner auf eine uns unbekannte Dame zu, die in der ersten Reihe saß, und donnerte auf sie ein. Er schien so böse, erzürnt und erregt, wie ihn wohl niemand vorher gesehen und erlebt hatte. Mehrmals rief er ganz laut: ‹Ich lasse mir das nicht gefallen! Ich lasse mir meinen Namen nicht lächerlich machen.› Ich glaube, uns allen blieb das Herz stehen, im Nu war die Schreinerei leer. Es sah fast aus, als wichen die Menschen rückwärts heraus. Ich selbst hatte nur einen Wunsch: nur schnell hinter die Bühne zu kommen, dort meine Sachen zu holen und heute den Daumen Daumen sein zu lassen. Als ich eben auf Zehenspitzen fortwollte, wurde die Türe, die vom Vortragssaal zu den Garderoben führte, weit aufgemacht und Rudolf Steiner stand vor mir! Aber wie? Heiter, strahlend und ganz gelöst! ‹Ha, der hab ich’s aber mal gesagt. Aber das musste wirklich sein. Wissen Sie, was sie gemacht hat? Sie hat in ihrer Heimat an die Mitglieder Briefe verschickt mit den törichtesten, lächerlichsten Vorschriften. Die Damen wurden aufgefordert, violette Unterröcke und die Herren ebensolche Schlipse zu tragen. Und das hat sie dann mit meinem Namen unterzeichnet. So was kann ich mir einfach nicht gefallen lassen!› Und dann wurde mein Daumen behandelt wie immer. Als er fertig war, schaute er sein Werk noch mal an – und fand es nicht schön genug. ‹Eine elegante Frau muss auch einen eleganten Verband haben.› Er machte alles wieder auf. Ich bekam meinen eleganten Verband.»
Geschichten von Rudolf Steiners umfassender praktischer Fürsorge sind auch von zwei Teilnehmern der damaligen Kindereurythmiegruppe überliefert. So erzählt Lilian Schickler, dass sie sich einst den Fuß verstaucht hatte – und ihre Freundin Elfriede Eimer dies Rudolf Steiner meldete, da Lilian nachmittags in der Aufführung (14. August 1921) mitmachen sollte. Rudolf Steiner ging mit Lilian in Frau Doktors Zimmer hinter der Schreinerei-Bühne und sagte zu ihr, «auf das grüne Plüschsofa deutend: ‹Ich bin gleich wieder da, ich hole nur etwas.› Er kam mit einer Schüssel Arnika-Wasser und Verbandzeug zurück, stellte die Schüssel vor mich hin und befahl mir: ‹Stell deinen Fuß jetzt da hinein.› Dann kniete er sich hin und wusch mir den Fuß – immer wieder. Als er vor mir kniete, fiel ihm dabei sein Haar öfter ein wenig in die Stirne und von den Wimpern lagen Schatten auf seinen Wangen.» Während Lilian «so sein schönes Gesicht aufmerksam anschaute», nutzte sie die Gelegenheit und sagte ihm, dass sie so gerne in die Waldorfschule gehen wollte, was Rudolf Steiner ihr dann auch ermöglichte. Zunächst aber verband er «den Fuß so kraftvoll und fest – es tat sehr weh! ‹Nimm das nicht ab – ich will es selbst tun vor der Aufführung.›» Bis zur Aufführung um 17 Uhr lag sie, von allen den «lieben, bekannten Eurythmistinnen» getröstet und verwöhnt, in der Garderobe. Als sie aber hörte, dass Rudolf Steiner schon mit seiner Ansprache fertig war und die Kinder sich zur ersten Nummer aufstellten, hatte sie Sorge, Rudolf Steiner hätte sie vergessen – und nahm sich selbst den Verband ab. «Aber als ich schon die Eurythmieschuhe anzog, kam Herr Doktor: ‹Warum hast du den Verband abgemacht? Ich habe dir doch gesagt, dass ich es selbst tue! Aber ich sehe, es geht ja.›» – Rudolf Steiner hatte das Publikum warten lassen wollen, bis er ihr den Verband abgenommen hätte! Lilian «hopste also» ihre «17 Nummern ab, und das ging ganz gut. […] Die nächsten Tage musste ich allerdings dann liegen.»(6)
Auch Margareta (‹Gritli›) Eckinger (1907–1993) – von Anfang begeisterte Teilnehmerin in der Kindereurythmiegruppe – durfte Rudolf Steiners praktische Hilfe erfahren: «An einer Samstag-Eurythmieaufführung hatte sie sich einen Splitter tief unter einen Nagel irgendwo an dem vielen rohen Holz gerissen. Während der Aufführung musste sie längere Zeit im A stehen. Der Finger schmerzte sehr und das Blut in ihm pochte. Sie blieb mit dem Gedanken tapfer stehen: Im Krieg ist alles viel schlimmer. – Als sie abtraten, kam ihr Rudolf Steiner aus den Säulen entgegen und sagte: ‹Gritli, zeige mal deinen Finger!› Da dachte sie bei sich: ‹Das hat er gehellseht!› – so erzählte sie. Er nahm sie mit in sein Atelier, holte essigsaure Tonerde aus dem Medizinschrank, machte damit in einer Schüssel eine Lösung, nahm einen Wattebausch und ‹bähte› damit den Finger.
Gritlis Interesse wurde aber von etwas anderem in Anspruch genommen: Rudolf Steiner hatte wohl etwas Schnupfen, und an seiner Nase bildete sich immer wieder ein Tropfen. Er zog dann ein Tuch hervor und betupfte damit seine Nase. Gritlis größte Sorge war nun, der Tropfen könnte in die Schüssel fallen. Dazu kam es zum Glück nicht. Sie wünschte aber, er möge sich einmal richtig die Nase putzen. – Er schickte sie dann nach Hause. In der Nacht wachte sie sehr früh auf. Der Finger schmerzte und pochte heftig. Es war ein schöner Sonntagmorgen. Wegen der Schmerzen stand sie auf, zog sich an und ging nach draußen. Auf einmal hörte sie das eiserne Gartentor quietschen und Schritte auf dem Kiesweg. Es kam ein Arzt mit seiner Arzttasche von der Arlesheimer Klinik. Rudolf Steiner habe ihn angerufen, er sollte nach Gritli schauen.»(7)
(1) Dokumentiert in: Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe. Nr. 108. Dornach 1992.
(2) Ebenda, S. 39.
(3) Die Kunst der Eurythmie. Erinnerungen. Dornach 1983, S. 129.
(4) Early days of Eurythmy, in: Anthroposophical Quarterly. Vol. 18, No. 2, Summer 1973, London. S. 46–48.
(5) Veröffentlicht in: M. J. Krück von Poturzyn (Hrsg.), Wir erlebten Rudolf Steiner. Erinnerungen seiner Schüler. Stuttgart, 7. Aufl. 1988, S. 147–168. Hier wiedergegeben nach einer Kopie ihrer handschriftlichen Fassung aus dem Nachlass Magdalena Siegloch.
(6) Typoskript von Lilian Schickler (übermittelt von Ramona Werchan): Kindheitserinnerungen an Rudolf Steiner.
(7) Mitgeteilt von Prof. Dr. Ernst Schuberth, Hamburg.
Auf dem Titelbild: Annemarie Dubach-Donath, Lory Maier-Smits, Margareta Eckinger