Eine ‹Lange Nacht› der Eurythmie in Berlin am 31. Oktober 2020.
«Sam hat wie ein Heiligtum, ohne die Nacht ein Auge zudrücken zu wollen, die von Dir empfangene Meditation nach Berlin getragen», schreibt Marie Steiner am 3.12.1923 ihrem Ehemann nach Dornach (GA 262, Briefwechsel). Dieser hatte die Spruchweisheit ‹Den Berliner Freunden› Anna Samweber am 9./10. November auf deren Frage hin anvertraut; eine Meditation, die in den fast hundert Jahren seither in vielen geisteswissenschaftlich übenden Kreisen überdauert hat.1
Auf der Eurythmiebühne wurde der Spruch selten sichtbar. Samstag, zwei Tage vor dem Lockdown 2.0 in Berlin, war es aber so weit. Die von Marie Savitch geschaffene und von Helen Reisinger weiterbearbeitete Eurythmieform wurde von Birgit Hering und zwölf Eurythmistinnen rekonstruiert und eingeübt und war der Auftakt zu einer dreieinhalbstündigen staunenswerten Nacht der Eurythmie, der Lichtkunst, der Sprachgestaltung und der Musik. Was sich da entfaltete, sucht seinesgleichen: die Oberstufe der Freien Waldorfschule Dahlem mit Nelly Sachs’ ‹Völker der Erde› und Nerudas ‹Ode an das Leben› (Studierende der Schule für eurythmische Art und Kunst), Freizeit-Kurs Kreuzberger Bodenpersonal mit Rainer Kunzes ‹Raumfahrer› und Goethes ‹Totentanz›, Marie Giest mit ‹Der starke Kaffee›, frei nach Eugen Roth, und Volker Frankfurt mit dem 2. Satz aus der 7. Klaviersonate von S. Prokofieff. War Humor auch dabei? Ja, durch Görner & Häggmark: Umwerfend!2
Und Untergang des Äußern soll werden Aufgang des Seelen-Innersten3
Besonders bewegend war es, dass der ‹Prometheus› von Ludwig van Beethoven, dem Geburtstagskind dieses Jahres, in allen Konzertsälen ‹ausgefallen› oder ins digitale Nirwana verbannt, dreifach hereinschaute. Mit zwei kongenialen bewegungskünstlerischen Darbietungen des ‹Adagio cantabile› aus seiner Klaviersonate Nr. 8 und des ‹Adagio sostenuto e espressivo› der Cellosonate Op. 5. Das Freiheitsgeschenk an die Menschheit durch Beethovens Musik lag spürbar im Raum.
Eine ‹Lange Nacht› der Künste in verfinsterter Zeit. Gleichwohl ging von den agierenden Künstlern und Künstlerinnen die Botschaft aus: Ihr könnt mit uns rechnen! Diese und die Dankbarkeit des rund hundertköpfigen Publikums stiegen in den nächtlichen Himmel über Berlin, nachdem die Organisatorin Birgit Hering mit ‹Chaconne. Zeit im Raum, mit Bach in die Nacht› selbst eurythmisch den vorläufigen Schlusspunkt dieser Nacht gesetzt hatte.
Footnotes
- Hiervon berichtet das im Coronajahr 2020 in der Edition Immanente erschienene Büchlein ‹Helferin in der Not. Die Lebenspilgerschaft der Anna Samweber›.
- Näheres im Programmflyer auf der Homepage des Arbeitszentrums Berlin, dessen Geschäftsführer mit Umsicht, Mut und listiger Vernunft nicht unwesentlich zum Zustandekommen dieser lichten Nacht beigetragen hat!
- Zeile 34–36 des Spruches ‹Den Berliner Freunden›.