Dieses Jahr arbeitet Nathaniel Williams eng mit dem Team der Jugendsektion zusammen. Er bereitet sich darauf vor, ab 2023 die Leitung der Sektion zu übernehmen. Laura Scappaticci fragte ihn nach seinen Vorhaben, was er sich für die Jugend erhoffe und wie er die anthroposophische Arbeit sehe.
Worin siehst du erste Aufgaben, wenn du jetzt die Leitung der Jugendsektion übernimmst?
Ich habe ein starkes Interesse daran, was die Jugend spirituell aus sich herausholt. Im Gegensatz zu jeder anderen Sektion konzentriert sich die Jugendsektion tatsächlich auf eine biografische Zeit des Lebens. Diese Lebenszeit ist ihr Inhalt. Eine der Hauptaufgaben für mich ist es, ein spirituelles Ohr für das Netzwerk von Impulsen, Dynamiken, Interessen, Leidenschaften und Herausforderungen zu entwickeln, welche in der Jugend zum Leben erwachen und leben. Ich sehe auch aus meiner Arbeit mit jungen Menschen in New York, dass es einige große Herausforderungen mit ökologischen und kulturellen Veränderungen gibt, in Bezug auf spirituelle Fragen und spirituelles Streben. Eine Herausforderung ist natürlich auch unsere technologische und digitale Revolution und was das für den Menschen bedeutet. Es gibt auch Fragen nach Gerechtigkeit und den Versuch, uns einen Planeten Erde in 50 Jahren vorzustellen, über den wir glücklich sein können. Wenn man auf die Zeit vor 50 oder 80 Jahren zurückblickt, war das ganz anders. Es ist wirklich aufregend und herausfordernd, das alles heute als Ausgangspunkt zu haben.
Was sind die spannendsten und lebendigsten Aspekte deiner aktuellen Arbeit und wie wirkt sich das auf die Jugendsektion aus?
In den letzten 14 Jahren hatte ich das große Glück, mit jungen Menschen, der Anthroposophie und der Kunst zu arbeiten. Ich sehe es als einen solchen Segen im Leben, wenn deine Arbeit mit dem in Einklang ist, was du für wichtig hältst, wenn du die Freiheit hast, zu versuchen, deine Ideale und dein tägliches Leben miteinander zu verbinden. Die Herausforderung besteht darin, die besten Ideen und Initiativen zu entdecken, die zwischen dir, anderen Menschen und der größeren Gemeinschaft entstehen, und zu versuchen, sie frei zu leben, ohne nach äußeren Strukturen zu suchen, die dir eine Richtung geben. Das ist etwas an meiner Arbeit in New York, das ich zutiefst schätze. Darüber hinaus die Großzügigkeit, Solidarität und Unterstützung von Tausenden von Menschen zu erleben, die auch versuchen, diese Bereiche zu fördern. Am Goetheanum ist es ein größerer Maßstab. Also freue ich mich darauf, darin zu leben.
Freiheit, Arbeit und eine soziale Krankheit
Junge Menschen wollen, dass Arbeit und Leben zusammenklingen und dass sie gesehen und unterstützt werden. Sie wollen nicht in irgendeine Art von Box passen müssen, die sich für sie nicht richtig anfühlt. Allein die Erfahrung der Ausrichtung von Arbeit und Lebenszweck zu haben, ist besonders.
Du triffst einen Nerv, den ich eine Art soziale Krankheit nennen würde. Dabei geht es darum, wie wir uns organisieren. Normalerweise stellen wir uns vor, dass Menschen, die Künstler oder Forscherinnen sind, diesen Grad an Freiheit haben und alle anderen dazu verdammt sind, Lohnarbeit zu machen und eine mittelmäßige Lebensqualität zu haben. Selbst wenn wir in einer Situation arbeiten, die wir als sich wiederholend oder alltäglich betrachten würden, wie könnte es sein, dass wir uns in unserer Wirtschaft auf allen Ebenen, egal wo wir uns darin befinden, wirklich gut fühlen? Das ist ein großartiges Ziel, das wir anstreben sollten. Ich weiß, dass nicht nur ich darüber nachdenke, sondern auch viele Wirtschaftsexperten. Und natürlich ist es eine Kernfrage der sozialen Dreigliederung. Von Joseph Beuys gibt es ein Zitat, für das er berühmt ist: «Jeder ist ein Künstler.» Wenn man das zum ersten Mal hört, denkt man vielleicht, das sei ein bisschen albern. Aber er war ein echter Provokateur und sagte, dass jeder das Gefühl haben sollte, dass sein täglicher Beitrag zur Gesellschaft frei gegeben wird, und denken können sollte, dass man gut ist und zu dem steht, was man als eigenen Wert betrachtet. So dass man sich sagen kann: «Das ist meine Arbeit, ich bin froh, sie zu tun und sie in dem größeren Kontext der Gesellschaft, in der ich lebe, gut zu machen». Wie wir dorthin gelangen, ist eine faszinierende Frage.
Anthroposophie aufmachen
Was ist deiner Meinung nach wichtig für die Zukunft der Anthroposophie?
Es ist wirklich interessant zu sehen, wo wir stehen. Wir leben 100 Jahre nach der Weihnachtstagung und der Neugründung der Anthroposophischen Gesellschaft, die für so viele Menschen in der Bewegung spirituell wichtig war. In den letzten 100 Jahren war das ein Nordlicht, moralisch und spirituell. Heute habe ich das Gefühl, einige der großen Veränderungen bestehen darin, dass ich in der Lage bin, artikulierter und klarer über die kontemplativen Praktiken zu sprechen. Und zwar jene, welche das Fundament der Art und Weise bilden, wie sich die eigene Erfahrung und das eigene Verständnis ändern können, wenn man mit Anthroposophie arbeitet. Ein viel offenerer Diskurs und auch die Erforschung im Zusammenhang mit Meditation werden wirklich wichtig, damit die Anthroposophie weiterhin ihren Weg in ihre eigene Gegenwart geht.
Rudolf Steiners Genialität und Strahlkraft als Person zieht viel Aufmerksamkeit auf sich. Und das zu Recht. Das möchte ich in keiner Weise schmälern. Aber es ist interessant, was durch diese Strahlkraft entstanden ist. Sein wahrer Impuls war eigentlich ein gemeinsamer kontemplativer Weg der Forschung und des spirituellen Wissens, der nicht nur auf seinen besonderen Gaben basierte. Eines von dem, was mich an ihm so sehr inspiriert, ist, dass er ein sehr mutiger Geist und eine kühne Seele war. Und doch auch jemand, der letztendlich spirituelles Verständnis und Wissen für jeden zugänglich machen wollte, der bereit ist, diese Offenheit und diesen Weg der Erfahrung und des Verständnisses zu entwickeln.
Ich habe auch das Gefühl, dass anthroposophische soziale Ideen in Bezug auf die soziale Dreigliederung vielversprechend sind. Ich habe gerade ein Kapitel aus Dan McKannans Buch ‹EcoAlchemy› gelesen. Er ist kein Anthroposoph, aber er schreibt dieses Kapitel über die Auswirkungen der anthroposophisch inspirierten Finanzen. Wir sprechen über Milliarden von Dollar, die in den Erhalt von Land fließen, und dieses Land wird an Landwirte weitergegeben, die nachhaltige Landwirtschaft betreiben. Das ist nicht so sehr mit der esoterischen Arbeit verbunden, aber es ist etwas Wichtiges. Denn es gibt keinen Zweifel daran, dass wir uns in einer soziopolitischen Krise befinden. Wir können davon ausgehen, dass dies so weitergeht, bis wir einige neue Richtungen und Ideen ausprobieren.
Wahrheit leben, Anthroposophie leben
Wie halten wir die Anthroposophie frisch und dialogfähig?
Steiner hielt einige Vorträge vor einer Gruppe junger Menschen. Er sagte, es sei wahrhaft deprimierend, wenn Antworten in Büchern oder Formeln auffindbar wären. Letztendlich wissen wir, dass die höchsten Wahrheiten die Wahrheiten sind, die wirklich leben. Man kann die Wahrheit nicht erlangen, man muss versuchen, eine lebendige Beziehung zu ihr als Lebewesen aufrechtzuerhalten. Wir müssen uns selbst mit jeglichen Ideen und Konzepten beobachten. Das stimmt im Allgemeinen. Aber es gilt auch für die Anthroposophie.
Was erwartest du von deiner Arbeit und den Herausforderungen der Zukunft?
Ich bin der festen Überzeugung, dass die nächsten vier oder fünf Jahrzehnte für die ganze Welt wirklich wichtig sein werden. Und ich habe das Gefühl, dass es für anthroposophisch verbundene Menschen Zeit ist, zu versuchen, aufmerksam und wachsam zu sein für die Fragen des Lebens und die Wendepunkte, welche auf allen Seiten erscheinen. Wir können versuchen, mit ihnen zu leben, uns ihnen zu stellen und kreatives Engagement einzubringen. Es gibt Dinge, die wir durchleben, die mit nichts in der Geschichte vergleichbar sind, von einer grundlegenden biologisch-planetarischen Ebene bis zu einer technologischen und kulturellen Ebene, und auch spirituell. Es ist an der Zeit, diese Arbeit zu tun. So gehe ich mit Bescheidenheit und ernsthafter Absicht in diese neue Aufgabe.