Tagtäglich werden wir von zwei Riesen begleitet. Ihre stetige Anwesenheit kann manchmal zur Gewohnheit werden und wir verlieren das Staunen über diese Wundererscheinungen. Mond und Sonne sind wie zwei Welten im Wechselspiel. Jan Diek van Mansvelt wirft einen einfühlenden und phänomenologischen Blick auf diese zwei Herrscher des Himmels.
Die Sonne
Wir können die Sonne in der östlichen Morgendämmerung rosarotfarben aufgehen sehen, nachdem das Nachtdunkel sich zurückzogen und es schon einige Zeit aufzuhellen begonnen hat. Während dieses Aufhellens leuchten die Farben der Erdenwelt allmählich auf, erst in der Nähe, dann im weiteren Umkreis und schließlich bis zum westlichen Horizont. Dort können wir das Dunkel buchstäblich verschwinden sehen.
Bei ihrem Aufgang wird die steigende Sonne für unseren Blick schnell blendend hell. Wir erleben ihr Licht und dann allmählich auch ihre Wärme. Sie selbst aber bleibt für uns tagsüber im Bereich des nicht Anschaubaren. So wirkt sie, Licht und Wärme schenkend, aus dem ‹Unsichtbaren› heraus, von woher sie das Irdische für uns sichtbar macht.
Nachdem sie in der Mitte des Tages ihren südlichen Zenit durchschritten hat, neigt sie sich dem westlichen Horizont zu, wo sie schließlich feurig rot untergeht. In der Abenddämmerung werden die Farben allmählich wieder aufgelöst, während aus den östlichen Fernen das nächtliche Dunkel herannaht, bis die Nacht uns umschließt und die Sterne aufleuchten.
Im Sommer erleben wir die Helligkeit und Wärme der Sonne in ihrer vollen Kraft. Im Winter ist ihre Kraft gemildert. Sie bewegt sich nun näher am Horizont, flach darübergleitend. Wir erleben ihr Auf- und Untergehen viel länger und können es dann auch länger ertragen, sie anzusehen.
Der Mond
Am westlichen Abendhimmel sehen wir, wie der Neumond aus der Abendsonne geboren wird. Seine beleuchtete Sichel weist zum Westen, aus dem sie hervorgegangen ist. Ihre beiden Spitzen weisen weg davon – in die Zukunft hinein.
Die noch ganz neue, junge Mondsichel bleibt nur kurze Zeit nah am Horizont sichtbar. Schnell folgt der Mond der untergehenden Sonne, seinem Ursprung, aus dem er vor wenigen Tagen hervorgetreten ist.
Jeden nächsten Abend entfernt der Mond sich weiter von der untergehenden Sonne. Dabei sehen wir, wie er jeden nächsten Abend größer wird, bis der Vollmond schlussendlich beim Sonnenuntergang am gegenüberliegenden – östlichen – Horizont auf- und beim Sonnenaufgang im Westen untergeht.
Der dem Osten zugewandte, von der Sonne unbeleuchtete Mondteil ist nicht immer ganz unsichtbar. Manchmal können wir in der Abenddämmerung – aufgrund des Streulichtes der Erdatmosphäre – wie in einer Art Vorblick den ganzen Mond sehen mit seinem vom Westen her hell beleuchteten, schmalen und seinem temperiert beleuchteten, größeren östlichen Teil.
Das östliche Aufsteigen des Vollmonds – kurz vor, während und kurz nach dem westlichen Sonnenuntergang – kann immer wieder faszinieren. Wir sehen dann beide Rundscheiben – aufsteigenden Vollmond und untergehende Sonne – rötlich gefärbt. Wie unterschiedlich zeigen sich uns diese Rotfarben!
Der Vollmond beleuchtet die Erdenwelt weißlich. Sie erscheint uns wie ein Schwarz-Weiß-Foto mit harten Konturen – aufgeklärt. Im Sommer, wenn der Vollmond tief, groß und gelblich orange relativ kurze Zeit am Himmel steht, mutet das romantisch an. Im Winter, wenn der Vollmond hoch, klein und grell und sehr lange am Himmel steht, erzeugt das eine eisige Klarheit. Der abnehmende Mond wird jetzt von der Morgensonne beleuchtet. Diese lockt ihn immer näher zu sich. Er bewegt sich schrittweise auf sie zu und entfernt sich dabei gleichzeitig immer mehr von der Abendsonne.
Während wir den vom Westen beschienenen Mond im Vollwerden nachmittäglich gesehen haben, sehen wir ihn jetzt, im Abnehmen, von Osten beschienen, vormittäglich – und das jeden folgenden Tag früher am Vormittag, bis die vom Osten beschienene Mondsichel schlussendlich in der östlichen Morgensonne aufgeht. Hier hat der Mond sein Ziel erreicht, hierhin hat es ihn sein Leben lang gezogen – seit seiner Geburt aus der Abendsonne.
Und damit endet, vorläufig, seine monatliche Geschichte. Nicht aber seine Mondgeschichte. Denn etwa drei Nächte nach seinem ‹Aufgehen› in der Morgensonne, während derer er für uns in der Nacht unsichtbar ist, wird er für unseren Blick aus der Abendsonne im Westen neu geboren.
Sonne und Mond
Auf diesen Lebensgang zurückschauend, zeigt sich uns die Zeit des Vollmonds als ein sinnlich sichtbarer Übergang: Die von der westlichen Abendsonne beschienene Phase geht über in die von der östlichen Morgensonne beschienene Phase. In der Mitte dieser Umkehr wird der Mond von der südlichen und unsichtbaren Mitternachtssonne beschienen. Da wechselt sie ihre Mondbeleuchtungsrichtung von seiner westlichen Abendvergangenheit zu seiner östlichen Morgenzukunft.
Demgegenüber zeigt sich uns in diesem Rückblick die Zeit des Neumonds als eine unsichtbare Änderung des Mondes. Da wendet er sich wieder dem Westen zu, um sich von dort zur östlichen Morgensonne zu bewegen. Also einmal ein offensichtlicher, äußerlich sichtbarer und einmal ein äußerlich unsichtbarer, mehr innerlicher Übergang.
Die Verkleinerung der Mondscheibe nach Vollmond erlebt man anders als seine Vergrößerung nach Neumond. Das entschwindende Vergehen kann als Reifung, als Intensivierung erlebt werden, als Vergeistigung, während die Vergrößerung, die Ausdehnung des wachsenden Mondes als Materialisierung erlebt werden kann, da seine äußerliche Erscheinung wieder zunimmt.
Wenn wir auf die geschilderte Mondentwicklung schauen, in der die Sonne als der große Beleuchter wirkt, kann es als rührend erlebt werden, wie die Sonne ‹unterirdisch›, also unsichtbar, immer dem Mond entgegenläuft: von der Abendsonne bis zur Morgensonne. Indes läuft der Mond ‹sichtbar› der Sonne entgegen.
Wir sahen schon: Im Winterdunkel erscheint uns der Mond hellweiß, aber klein auf seiner hohen Bahn. Da ist er nicht zu übersehen. In der Zeit des Sommerlichts erscheint uns der Mond etwas verdunkelt, aber erstaunlich groß auf seinem niedrigen Himmelsbogen.
In der Frühlingszeit senkt sich die Mondbahn, während sich die Sonnenbahn erhebt; im Herbst verhält es sich umgekehrt. Im Frühling zeigt sich die frische, junge, von der westlichen Abendsonne beleuchtete Sichel verhältnismäßig hoch am Himmel. Im Herbst ist es demgegenüber die alte, reife, von der östlichen Morgensonne beleuchtete Sichel, die sich uns am klarsten zeigt.
Im Gegensatz zur Sonne zeigt sich der Mond fast greifbar unter den Sternen vor dem unermesslichen Himmelsgewölbe. Sternenkenner sehen, wie der Mond sich vor dem Tierkreis bewegt. Dieser Tierkreis zeigt sich als breites himmlisches Band, vor dem sich – aus unserer irdischen Sicht – die Planeten bewegen: jeder Planet in einer ihm eigenen, eigentümlichen Weise, mal mit- und mal gegenläufig zur Sonne, mal höher, mal tiefer am Himmel. Der Mond steht uns von allen Planeten am nächsten.
Ergibt sich aus dieser Betrachtung ein erweiterter Blick auf unseren Lebensgang? Könnten wir zum Beispiel probehalber einmal die stete Sonne und ihre farbige Welt als Bild für unser bewusstes Ich nehmen, zum Beispiel tagsüber wachend und nachts schlafend? Im Frühling treibend und im Herbst reifend? Wäre dann der viel weniger greifbare, veränderliche Mond und seine schattige, schwarz-weiße Welt mehr ein Bild für unser Unbewusstes? Der Mond benötigt ja viel mehr zusätzliche Aufmerksamkeit, um von uns begriffen werden zu können, mal nah der Sonne und unsichtbar, mal ihr gegenüber und klar erscheinend. Sonne und Mond zusammen begnaden uns durch ihre unterschiedlichen Rhythmen …
1. Diese Betrachtung entspringt einem mitteleuropäischen Standpunkt. Für die Tropen und die Polargebiete müsste die Schilderung entsprechend geändert werden.
2. Auf beide Bewegungen schauen wir in dieser Betrachtung vom irdischen Norden her.
3. Dank an Jan Albert Rispens und Hans-Christian Zehnter für die produktiven und anregenden Rückmeldungen.
Foto: Mahdiar Mahmoodi Sea horizon during golden hour time
Korrigendum (30.11.2018): Hinsichtlich der Mondbewegung war ein Fehler passiert. Der Mond wandert von den Fischen in den Widder, nicht, wie zuvor angegeben, in den Wassermann. Einen solchen rückwärtigen Lauf gibt es nur bei den Planeten während ihrer Schleifenbewegung.