Ein Komponist wird wiederentdeckt

Das Buch ‹Brücke über den Strom› ist in anthroposophischen Kreisen gut bekannt. Es enthält die Mitteilungen des verstorbenen Sigwart zu Eulenburg aus dem Nachtodlichen. Dass er zu seinen Lebzeiten durchaus ein bedeutender Komponist war, ist weniger bekannt. Johannes Greiner, Mitarbeiter der Sektion für Redende und Musizierende Künste, hat sich auf eine Spurensuche begeben.


Am 9. Mai 1915 wurde Sigwart Graf zu Eulenburg beim Sturm der deutschen Truppen auf die russischen Schanzen von Leki auf den Höhen von Gorlitze in Galizien durch einen Lungenschuss verwundet. Er lag daraufhin drei Wochen im Lazarett in Jaslo (Polen), wo er am 2. Juni 1915 vor Sonnenaufgang um etwa 3.30 Uhr starb. Bei ihm war die im Schützengraben komponierte frisch vollendete Klaviersonate in D-Dur op. 19.

Botho Sigwart, wie er sich als Künstler nannte, war mit seinen zwei Schwestern sehr verbunden: mit der um ein Jahr älteren ‹Lycki› (Augusta Alexandrine Gräfin zu Eulenburg-Hertefeld, 1882–1974), welche gerne malte, und der eineinhalb Jahre jüngeren ‹Tora› (Viktoria Ada Astrid Agnes Gräfin zu Eulenburg-Hertefeld, 1886–1967), die gut Klavier spielte. Auch die Schwägerin Marie Fürstin zu Eulenburg-Hertefeld (1884–1960), die mit Sigwarts Bruder ‹Büdi› (Friedrich Wend Fürst zu Eulenburg-Hertefeld und Graf von Sandels, 1881–1963) verheiratet war, stand Sigwart sehr nahe. Sie erlebte seinen Tod aus der Ferne mit. Wenige Stunden vor seinem Tod erschien er ihr in einem Zustand zwischen Schlafen und Wachen und gab ihr zu verstehen, dass er jetzt viel Kraft benötigen würde. Im Moment seines Todes wurde sie aus dem Schlaf gerissen: «Nach einiger Zeit schlief ich wieder ein, wurde aber nach zwei Stunden tiefstem Schlaf wieder aufgerüttelt. Es war halb vier Uhr, das erste Morgengrauen blitzte durch die Ladenritzen. Schnell öffnete ich das Fenster. Das Vieh in den Ställen brüllte angsterfüllt, hoch am Himmel stand die Mondsichel, es grollte unheimlich über das ganze Land. Da wurde mir klar, dass ein Erdbeben die Gegend heimgesucht hatte. Dann kam die Erinnerung an die Erlebnisse der Nacht wieder. Später habe ich feststellen können, dass sonderbarerweise das zweite Aufwachen durch den Erdstoß genau mit dem Zeitpunkt von Sigwarts Befreiung von seiner Leibeshülle zusammentraf. Das war der 2. Juni 1915.»1 Wenige Tage nach seinem Tod träumte Marie Fürstin zu Eulenburg-Hertefeld von Sigwart: «Er stand in dem Schloss, in dem ich meine Kindheit verbracht hatte, oben auf der großen Freitreppe, die in den Saal herunterführt. Ein weißes, fließendes Gewand umhüllte ihn. Er rief zu mir herunter in den Saal: ‹Marie, habt ihr noch immer kein Lager für mich bereitet?›»2

Weitere Träume folgten

In dieser Zeit war Sigwarts Schwester Lycki oft bei Marie. Auch sie fühlte, dass der Bruder etwas von ihr erhoffte. Sie wurde unruhig und versuchte sogar, ob der Bruder aus dem Jenseits vielleicht ihre Hand führen würde, wenn sie schreibend ihren Willen ganz ihm hingab. Dies geschah aber nicht. Nach einer Operation in München, in deren Folge Lycki eine Weile still liegen musste, kam sie sehr verändert und viel ruhiger und gelassener zu Marie zurück. Diese berichtet: «Lycki brachte uns ein Schriftstück und sagte: ‹In der Abgeschiedenheit und Stille dieser Tage habe ich erkannt, was Sigwart von mir erwartet. Nicht meine Hand will er schiebend von außen beeinflussen, ich selbst muss eine Türe in meinem Gehirn öffnen, dann höre ich seine Worte, die ich niederschreiben soll.›»

Die erste Mitteilung des verstorbenen Bruders schrieb Lycki am 28. Juli 1915 nieder – 56 Tage nach dem Tod. Im Laufe der Zeit wurde die Übermittlung immer nuancierter, inhaltsvoller und facettenreicher. Nach einigen Wochen konnte auch die Schwägerin Marie Übermittlungen des Verstorbenen empfangen; später dann auch seine Schwester Tora. Als am 9. Juni 1935 Sigwarts Cousine Dagmar von Pannwitz, geborene Gräfin von Dankelmann starb, dauerte es nicht lange, bis auch sie durch die Schwestern Sigwarts und die im Leben mit ihr befreundete Marie Fürstin zu Eulenburg-Hertefeld ihre Botschaften aus dem Jenseits senden konnte. So entfaltete sich im Laufe der Jahrzehnte ein reicher Austausch zwischen der Welt der Verstorbenen und der Welt der Lebenden. Eine ‹Brücke über den Strom› wurde gebaut. Die Mitteilungen Sigwarts aus dem Jenseits umspannten 35 Jahre und umfassen 1500 Schreibmaschinenseiten.

Anfangs zweifelten die noch Lebenden an der Echtheit der Nachrichten von Sigwart. Gerade weil der Wunsch es wahrhaben wollte, musste umso vorsichtiger abgeschätzt werden, ob die Übermittlungen wirklich von dem verstorbenen Bruder stammen oder ob es sich um Einbildung oder Spuk anderer Wesen handelt.

Handschrift von Sigwart, Foto: Johannes Greiner

Anthroposophie zu Rate

Zunächst wurde im September 1915 der Anthroposoph Ludwig Deinhard (1847–1918) um Rat gefragt. Als er von der Sache hörte, «war er freundlich ablehnend und riet uns, uns nicht irreführen zu lassen».3 Als ihm dann aber die Mitteilungen vorgelesen wurden, änderte er seine Ansicht und zweifelte nicht mehr an der Identität Sigwarts bezüglich dieser Übermittlungen. Marie berichtet: «Unser Glück war groß, aber dennoch tauchte nach kurzer Zeit der Wunsch auf, auch die nach unserer Ansicht größte Autorität auf geisteswissenschaftlichem Gebiet, Rudolf Steiner, zu befragen. Ich wurde mit der Mission betraut und so ging ich an einem trüben Dezembernachmittag mit unseren Heiligtümern, die schon einen rechten Umfang erreicht hatten, unter dem Arm in die Motzstraße. Lycki hatte Dr. Steiner durch einen Brief vorinformiert, worum es sich handle. Dr. Steiner empfing mich sehr freundlich und bat, die Schriften einige Zeit behalten zu können, ich solle in zwei oder drei Wochen wiederkommen, dann wolle er mit mir darüber sprechen.

Der Tag4 kam und ich muss gestehen, es war wohl einer der bangsten dieser Zeitspanne. Was würde er sagen? Diese Frage stand in großen Lettern vor mir, denn inzwischen war das Gebäude des Glaubens an Sigwarts Identität in mir sehr gewachsen, bestärkt durch meine vielen Traumerlebnisse mit ihm, durch die er mir immer nähergekommen war, viel näher als je während seiner Erdenzeit. Eineinhalb Stunden ging Dr. Steiner mit mir Blatt für Blatt der Mitteilungen durch, rückte manches Unverstandene ins rechte Licht, erklärte, wie Sigwart dies oder jenes gemeint hätte, und stellte Fragen an mich. […] Vergebens wartete ich auf die Ablehnung irgendeiner Mitteilung, es kam keine! Zum Schluss sagte er beim Abschied: ‹Ja, das sind außergewöhnlich klare, absolut authentische Übermittlungen aus den geistigen Welten. Ich sehe keinen Grund, Ihnen abzuraten, darauf weiter zu hören.› […] Noch beim Abschied betonte er, dass Übermittlungen dieser Art sehr selten wären. Ich fühlte, dass es echte Freude war, die er empfand, und Mitfreude mit uns.»5 Irmgart Reipert6 entdeckte, dass Rudolf Steiner an dem Tag, an dem der tödliche Schuss Sigwart traf, über die notwendig zu errichtende ‹Brücke über den Strom› sprach. In dem gleichzeitig in Wien gehaltenen Vortrag, der mit dem Titel ‹Die Toten als Helfer des Menschheitsfortschritts› veröffentlicht wurde, sagte er:

«Eine Verbindungsbrücke soll durch die Geisteswissenschaft geschlagen werden gerade für die nächste Zukunft zwischen den Lebendigen und den Toten, eine Verbindungslinie, durch welche die inspirierenden Elementarkräfte derer, welche die großen Opfer in unserer Zeit dargebracht haben, den Weg herüber werden finden können. […] Damit unsere Seelen Erwartende werden, Erwartende der Inspiration, die da kommen wird von den Toten, im Geiste aber ganz besonders lebendig Werdenden.»7

Lange wollte Sigwart, dass die Übermittlungen geheim gehalten werden. Ein kleiner Kreis aus der Familie wusste davon und ließ sich inspirieren, impulsieren, trösten und im eigenen meditativen Üben anregen von dem Verstorbenen. Für eine solche die kostbaren Offenbarungen schützende Geheimhaltung sprach sich auch Rudolf Steiner im Dezember 1915 aus. Doch kam mit dem 25. April 1942 der Tag, an dem Sigwart anregte, die Übermittlungen doch zu veröffentlichen, zum Trost der Menschen, die in so kurzer Zeit schon zwei Weltkriege erleben mussten. 1950 – genau in der Mitte des Jahrhunderts – erschien ein erstes Heftchen, dem weitere folgten. 1985 wurden sie von Herbert Hillringhaus zu einem Band zusammengefasst mit einer Einführung von Fred Poeppig unter dem Titel ‹Brücke über den Strom – Mitteilungen aus dem Leben nach dem Tode›, im Novalis-Verlag herausgegeben. Die Veröffentlichung fand viele dankbare Leserinnen und Leser. Immer wieder musste das Buch neu aufgelegt werden. Inzwischen ist es ein unverzichtbares Standardwerk für alle, die sich mit dem Leben nach dem Tod beschäftigen. Stirbt jemand im Bekanntenkreis oder Familienkreis, so kann man dieses Buch den Angehörigen als Trost schenken. 2018 erschien ein von Peter Signer herausgegebener zweiter Band mit bisher noch unveröffentlichten Mitteilungen Sigwarts. Bereits 2016 hatte Peter Signer auch die ‹Mitteilungen von Dagmar – aus dem Leben nach dem Tod› herausgegeben.

Auch ein Lebender

Tausende Menschen haben ‹Brücke über den Strom› gelesen und darin Trost und Erkenntnis über den Weg der Seele nach dem Tod gewonnen. Tausenden ist Sigwart bekannt als verstorbener Musiker, der zu den Lebenden spricht. Wenige kennen ihn als Komponisten. Seine im Leben geschaffenen Musikwerke sind weitgehend vergessen. Doch das im Leben nach dem Tod von ihm Mitgeschaffene wurde berühmt. Hierin ist Sigwart sehr besonders. Meist kennt man den Lebenden und verliert ihn aus dem Blick, wenn er den nachtodlichen Weg beginnt. Sigwart wurde Jahre nach seinem Tod berühmt für dasjenige, was er nach dem Tod an die Lebenden übermittelte. Nun ist es an der Zeit, dass man ihn auch als Lebenden ehrt und seine musikalischen Schöpfungen wiederentdeckt.

Sigwart kam am 10. Januar 1884 in München als sechstes Kind auf die Welt. Sein Vater war Philipp Friedrich Alexander Fürst zu Eulenburg-Hertefeld und Graf von Sandels (1847–1921). Er wurde am 1. Januar 1900 Preußischer Fürst zu Eulenburg und Hertefeld mit dem Prädikat Durchlaucht. Sigwarts Mutter war die aus Schweden stammende Augusta Ulrika Constantia Charlotta Fürstin zu Eulenburg-Hertefeld und Gräfin von Sandels (1853–1941). Der Vater von Sigwarts Mutter Augusta war Graf Samuel August von Sandels, schwedischer Generalleutnant, Gouverneur von Stockholm, Kommandierender General der Gardetruppen. Ihr Großvater väterlicherseits, Graf Johann August von Sandels, war schwedischer Feldmarschall und Vizekönig von Schweden und bekam den äußerst selten verliehenen Titel ‹Einer von des Reiches Herren›, welcher die höchste Würde in Schweden darstellte und die Anrede durch den König ‹mon cousin› mit sich brachte. So kam Sigwart in eine hoch angesehene Familie hinein.

Bild: Friedrich zu Eulenburg (Friedel), 1934 Sigwarts Sohn, Foto: Titia Rötger und Siegwart zu Eulenburg

Seine beiden ältesten Geschwister waren schon im frühen Kindesalter gestorben. Nach ihm, dem sechsten Kind, kamen noch ein Bruder und eine Schwester zur Welt, sodass er als Viertältester von sechs Geschwistern aufwuchs. In der ersten Woche seines Lebens bekam er die Masern, an denen auch seine Mutter im Wochenbett erkrankt war. Er schwebte zwischen Leben und Tod. Was später seine Mission wurde – zwischen Totenreich und Leben zu vermitteln und so die Schwelle zwischen den Welten zu überbrücken –, fand einen Vorklang darin, dass der Säugling schon in den ersten Tagen auf der Erde zwischen Leben und Tod schwebte.

Einen besonderen Einfluss auf das Kind hatte des Vaters Gesang. Wenige Monate vor seinem Tod schrieb Sigwart am 28. Januar 1915 aus dem Feld an seine Frau: «Papas Balladen, von ihm selbst gesungen, waren meine ersten musikalischen, sehr tiefen Eindrücke. In unserer herrlichen Kindheit schon spielte Papas Musik für mich eine große Rolle. Ich bin ihm doch auch im musikalischen Empfinden sehr verwandt, und die Einfachheit seines Ausdrucks ist etwas, worauf ich selber wieder zurückkomme.»8

Übrigens war es neben verschiedenen politischen Enttäuschungen und Kränkungen im Jahr 1881 – drei Jahre vor der Geburt Sigwarts – vor allem der Tod der zuckerkranken Tochter Astrid am 23. März 1881, welcher den Vater dazu brachte, politische Ziele fahren zu lassen und sich vermehrt der Kunst zuzuwenden. So kam Sigwart zu einem Vater, der – um den Tod der Tochter zu verarbeiten – seither vermehrt dichtete, komponierte und sang.

Mit sieben Jahren begann Sigwart zu komponieren. Er erhielt den ersten Musikunterricht von 1891 bis 1904 in München durch Graf Spork und von 1895 bis 1898 durch den Musiklehrer Robert Gound in Wien. Oft improvisierte er, wenn Kaiser Wilhelm II. bei seinem Vater zu Besuch war. Der Kaiser war vom Können des Knaben beeindruckt und bestellte von dem Elfjährigen Variationen über den Dessauer Marsch, welche Sigwart freudig komponierte und daraufhin im großen Musiksaal in Wien mit Orchester uraufführen durfte, wobei er selber dirigierte. 1898 kam Sigwart an das Gymnasium Bunzlau in Schlesien und erhielt dort bei dem städtischen Kantor Wagner Orgelunterricht. Er durfte daraufhin zu den Gottesdiensten spielen und bei den Abendmahlfeiern improvisieren. Ein Jahr später wechselte er ans Luitpold-Gymnasium in München und wiederum ein Jahr später – nach einer Zeit des privaten Studierens – an das humanistische Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Berlin, wo er mit 18 Jahren das Abitur absolvierte. Schon ein Jahr davor nahm er 1901 auf Einladung von Cosima Wagner an den Bayreuther Festspielproben teil und durfte oft beim Dirigieren einspringen. Privat unterrichtete ihn stetig der ehemalige Hauslehrer und Freund Hans Mayr, ein damals in Bayern bekannter Dichter und Schriftsteller. Ab 1902 studierte er in München Geschichte und Philosophie und promovierte 1907 zum Dr. phil. mit seiner Schrift ‹Erasmus Widmanns Leben und Werke›. (Der 1572 geborene und 1634 verstorbene Erasmus Widmann war ein deutscher Organist, Komponist und Dichter.) Gleichzeitig studierte er aber auch Musik, und zwar bei Professor Ludwig Thuille (kontrapunktische Studien) und Hofkapellmeister Hermann Zumpe (Studium des Orchesters). Beide Lehrer verlor er durch frühzeitigen Tod. 1908 ging er zu Max Reger und schloss dort 1909 das Studium ab. Stetig übte er sich mit der Orgel und schloss das Orgelstudium 1911 in Straßburg bei Albert Schweitzer ab. Ihm widmete er auch sein Orgelkonzert, die Symphonie in C-Dur op. 12 für Orgel und Orchester.

Kontakt zu Rudolf Steiner

1902 begann Rudolf Steiner, seine geisteswissenschaftlichen Forschungen innerhalb der Kreise der Theosophischen Gesellschaft vorzutragen. 1904 begründete er eine Esoterische Schule, deren Schülerinnen und Schüler von ihm Hilfen auf dem Erkenntnisweg in Form von Meditationen, Üb-Anweisungen und individueller Beratung erhielten. Ab 1906 gehörte Sigwart zu den intensiver an der eigenen Entwicklung arbeiten wollenden Menschen um Rudolf Steiner: «Außer für seine Musik interessierte sich Sigwart stark für alles Geistige, für Buddhismus, Theosophie, Anthroposophie. Er kannte Dr. Steiner persönlich und gehörte etwa ab 1906 zum ersten intimeren Kreis um Dr. Steiner.»9

Bild: Botho Sigwart zu Eulenburg (1884–1915), Foto: Titia Rötger und Siegwart zu Eulenburg

Dies berichtete eine der Schwestern Sigwarts. In der Neuausgabe von ‹Brücke über den Strom – Mitteilungen aus dem Leben nach dem Tode› (2008) heißt es: «Durch die Bekanntschaft der Familie mit Dr. Rudolf Steiner, der gelegentlich in Liebenberg10 zu Gast war, lernte Sigwart die Anthroposophie kennen, die von da an immer mehr zum Mittelpunkt seines Lebens wurde. Neben dem Studium der Grundwerke nahm er jede Gelegenheit wahr, Steiners Vorträge zu hören. Dieses Interesse teilte er mit seinen Geschwistern Lycki, Tora und Karl sowie seiner Schwägerin Marie. Damit war die Basis gelegt worden für die Kommunikation nach dem Schritt in die geistige Welt.»11

1909 heiratete Sigwart die Konzertsängerin Helene Staegemann, die er während des Studiums bei Max Reger in Leipzig kennengelernt hatte.12 Sie war als Sängerin sehr geschätzt – unter anderen widmeten Carl Reinecke und Hans Pfitzner ihr Lieder. Sein 1914 geborener Sohn Friedrich Max Philipp Donatus (Friedel), der auch Komponist und Kapellmeister wurde und später auf Bitte der Mutter auch noch den zusätzlichen Namen Sigwart erhielt, starb schon 1936 – erst 22-jährig – während einer Wehrübung an Meningitis.

Sigwart hatte einen weiten Bildungshorizont und empfand es als eine Selbstverständlichkeit, diesen fortwährend zu erweitern. Er reiste auch gerne. Insbesondere wurde sein Horizont erweitert durch eine lang geplante, ersehnte und 1911 mit seiner Frau Helene schließlich durchgeführte Studienreise nach Griechenland, welche ihn nachhaltig prägte. Sie waren tief beeindruckt von Athen, Delphi und Kap Sounion. Bei der Bucht von Eleusis stießen sie auf das Haus des Euripides in der Nähe von Salamis. In drei bedeutenden Kompositionen klang diese Reise nach. Als op. 15 komponierte er das Melodrama ‹Hektors Bestattung› nach dem 24. Gesang aus Homers ‹Ilias› in der Übersetzung von J. H. Voss, das in einer Fassung mit Orchester und einer mit Klavierbegleitung vorliegt. Wilhelm Furtwängler, ein Freund Sigwarts, dirigierte dieses Werk bei der Uraufführung in der Philharmonie Berlin. Als es im Gewandhaus in Leipzig aufgeführt wurde, bestellte der Dirigent Arthur Nikisch daraufhin eine Symphonie bei Sigwart. Als op. 18 erschien ein weiteres griechisch inspiriertes Melodrama: die ‹Ode der Sappho› mit begleitender Musik für Klavier. 1912 und 1913 komponierte Sigwart als op. 20 die Oper ‹Die Lieder des Euripides. Eine Mär aus Alt-Hellas nach Texten von Ernst von Wildenbruch›. Leider konnte er ihre Aufführung nicht erleben. Zunächst wurde die Premiere um einige Wochen verschoben, da die Gattin Sigwarts nach der Geburt des Sohnes noch zu schwach war, um einer Aufführung beizuwohnen, dann brach der Krieg aus. Erst nach seinem Tod wurde sie am 19. Dezember 1915 am Königlichen Hoftheater Stuttgart durch Max von Schillings mit großem Erfolg aufgeführt.

Sigwart war von zarter Gesundheit und wegen seiner Lungenschwäche auch nicht beim Militär. Als ein halbes Jahr nach der Geburt seines Sohnes der Erste Weltkrieg ausbrach, meldete er sich sofort als Freiwilliger. Er war 30 Jahre alt. Nach einer Ausbildung in einem Reiterregiment wurde er nach Westen (Flandern und Frankreich) versetzt, kam nicht zum Einsatz, konnte aber im Winter 1914/15 an seiner zweiten Klaviersonate arbeiten. Durch die guten Beziehungen seiner Familie gelang es ihm, nach einem halben Jahr an die Ostfront versetzt zu werden, wo er endlich am Kriegsgeschehen teilnehmen konnte. Er vollendete im Schützengraben die zweite Klaviersonate in D-Dur op. 19. Er widmete sie seiner Cousine Dagmar. Kaum war das Werk vollendet, traf ihn der zum Tod führende Schuss in seine ohnehin schwache Lunge.

Später ‹sprach› er davon, wie er damals im Ersten Weltkrieg den Tod schon kommen fühlte und wie er sich dessen bewusst war, dass die Sonate op. 19 sein Abschiedswerk sein würde: «Ich wusste damals ganz genau, dass diese Musik mein Schwanengesang war, und deshalb wurde mir vergönnt, das Höchste, wessen ein Mensch zu Lebzeiten überhaupt fähig ist, zu empfinden, zu durchkosten und zu erleben, nämlich das absolute Losgelöstsein und Hinüberragen in hohe Welten. Glaubt mir, auch mir flossen die Tränen, als ich das Adagio erschaffen musste. Das unmittelbare Erleben meines Abschieds von dieser mir so sonnigen Welt war ein Schmerz, der mir das Herz erbeben machte. Fast wollte ich fliehen, hinaus aus der langsam entstehenden Totenklage. Aber mit eiserner Macht hielt es mich fest, und ein höherer Befehl zwang mich auszuharren, um dieses letzte, mit Herzblut geschaffene Werk zu vollenden.»

Anfang dieses Jahres erschien die Sonate op. 19 erstmals in Druck (Edition Widar, Hamburg) und ist nun einem breiteren Interessentenkreis zugänglich.


Korrigendum (3.11.2022): Es war in den Fussnoten 1, 2, 3, 5, 6 eine falsche Quelle angegeben worden. Dies wurden oben korrigiert.

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Footnotes

  1. Peter Signer ‹Mitteilungen von Sigwart aus dem Leben nach dem Tod›,Norderstedt 2018, S. 13.
  2. Ebd.
  3. Ebd., S. 17.
  4. Es war der 6. Dezember 1915.
  5. Peter Signer, ‹Mitteilungen von Sigwart aus dem Leben nach dem Tod›, Norderstedt 2018, S. 17 ff.
  6. Peter Signer, ‹Mitteilungen von Sigwart aus dem Leben nach dem Tod›, Norderstedt 2018., S. 477.
  7. Rudolf Steiner, Das Geheimnis des Todes. GA 159/169, Dornach 1980, S. 202.
  8. Fürst Philipp zu Eulenburg, Eine Erinnerung. O. O. u. J., S. 4. (Erstmals als Handschrift gedruckt, Liebenberg 1918.)
  9. Brücke über den Strom, Band 1, S. 10.
  10. Das Schloss der Familie in Brandenburg, nördlich von Berlin.
  11. Brücke über den Strom, Band 1, S. 11.
  12. Was er ihr verdankte, beschrieb er am 3. Februar 1916. (Brücke über den Strom, Band 1, S. 123.)

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