Wo genau verlaufen die Fronten zwischen der russischen und der ukrainischen Armee? Auf DeepStateMAP verfolgen Menschen deren Bewegungen. Einige Streifen sind grau eingezeichnet. Dort ist Niemandsland. In einer solchen grauen Zone lag zum Kriegsbeginn das ukrainische Örtchen Borova. Hier ist Stanislav (Name geändert) aufgewachsen. Der junge Mann ist Mitte zwanzig und spricht den örtlichen Dialekt ‹Surgik›, ein Gemisch aus Ukrainisch und Russisch. Er bezeichnet sich selbst als neutral und will nicht gegen eine der beiden Seiten kämpfen. Mittlerweile musste er Borova verlassen und doch ringt er innerlich immer noch zwischen den Fronten – und gegen den Hass. Falk Zientz sprach mit ihm nach einem Jahr des Krieges.
Wie hast du den Kriegsbeginn 2022 erlebt?
Stanislav Um fünf Uhr morgens sind in Borova die ersten Raketen eingeschlagen, in einen Militärposten. Sofort wussten wir, dass jetzt der Angriff losgegangen ist, wir haben aber nichts gesehen, nur den Beschuss gehört.
Was habt ihr dann gemacht?
Wir haben den Keller als Schutzraum ausgeräumt und uns mit dem Nötigsten versorgt. Auch das Auto haben wir vollgetankt, um fliehen zu können, wenn es nicht anders geht. Aber wir wollten bleiben.
Sind dann Truppen einmarschiert?
Nein. Borova liegt in einer Senke an einem Fluss und ist darum für niemanden strategisch interessant. Gleich am zweiten Tag wurde die einzige Brücke gesprengt, und damit waren wir von der Ukraine abgeschnitten. Dann haben wir die Luftangriffe auf Isjum miterlebt, 30 Kilometer entfernt, mehrere Wochen lang Tag und Nacht. Die Fenster bei uns vibrierten oft davon.
Wie war der Alltag?
In den ersten beiden Wochen waren wir immer im Fluchtmodus, hatten immer den Rucksack mit dem Nötigsten dabei, warteten und wussten nicht worauf. Ich war laufend in endlosen Gedankenschleifen über den möglichen Tod von Menschen um mich herum. Am schlimmsten waren die Nächte. Da bin ich oft rausgegangen und habe versucht, die Geräusche zu verstehen. Es waren auch Plünderer unterwegs. Und die Versorgung wurde immer katastrophaler.
Wie war der Zusammenhalt im Ort?
Es gab viel gegenseitige Hilfe, aber auch immer mehr Trennung. Die Unterstützenden der beiden verschiedenen Armeen haben sich schnell separiert. Dass der Konflikt militärisch wurde, hat die Trennung in zwei Lager verstärkt. Wer sich nicht formiert hat, die Neutralen, blieb allein. In meiner Familie war trotzdem klar: Wir wollen nicht gegen andere kämpfen. Wir stellen uns auf keine der beiden Seiten, um Menschen zu töten.
Neutralität hatte keine Chance?
Das Schwierigste war, dass dein Gegenüber dich immer identifizieren wollte: Auf welcher Seite stehst du? Bist du bei den Freiwilligen dabei, die sich vorbereiten, um mit Molotowcocktails gegen die russische Armee zu kämpfen? Oder gehörst du zu denen, die auf eine russische Besatzung hoffen, und dadurch möglicherweise auf persönliche Vorteile? Als nach zwei Monaten die russische Armee einmarschierte, erhielt unser Bezirk einen russischen Kommandanten. Der hat irgendwann festgestellt: So viele gegenseitige Beschuldigungen aus der Bevölkerung wie hier im Bezirk gibt es kaum sonst wo.
Du bist dann viel nach Russland gefahren. Warum?
Zur Versorgung der Menschen mit dem Nötigsten: Insulin, Herzmedikamente, Lebensmittel. Besonders wichtig für viele Menschen waren Briefe und auch Selfies für die Verwandten und Freunde auf der anderen Seite der Grenze: Schaut, wir sind am Leben und auch das Haus steht noch. Ich war der Einzige, der Borova versorgt hat. Wenn ich durch den Ort gegangen bin, haben mich von überall her Menschen angesprochen. Am Anfang sagte mir eine Frau, der ich Insulin gebracht habe: «Du hast meiner Mutter das Leben gerettet!» Das war mir gar nicht bewusst.
Warum bist du dann mit deiner Familie nach Russland geflohen?
Als im Herbst die ukrainische Armee unsere Region zurückerobert hat, wurden viele Unterstützer und Unterstützerinnen der Russen hart bestraft. Da Neutralität in diesem Konflikt keine Chance hat, war mir klar, dass ich als Gegner angesehen werden kann. Darum sind wir mit der Oma, den beiden kleinen Schwestern, Hund und Katze losgefahren.
Wird Russland jetzt eure neue Heimat?
Hier haben wir Freunde und Verwandte, aber unser Gefühl ist die ganze Zeit: Wir müssten weiter, das ist nur eine Durchgangsstation. Wir könnten ja weiter nach Europa oder Amerika. Aber wir wollen nicht weit weg von unserer Heimat. Und Freunde in der Ukraine fragen: «Was? Ihr bleibt in Russland? Wie könnt ihr nur?» Um hier arbeiten zu können, müssten wir uns registrieren. Das wäre für die Ukraine dann ein klarer Beweis, dass wir Kollaborateure sind.
Was machen die wechselnden Fronten mit den Bewohnern und Bewohnerinnen?
Mit jedem Wechsel werden die Gräben tiefer. Gerade warst du noch Teil der Macht, jetzt bestraft man dich schon als Kollaborateur. Etwas dazwischen gibt es nicht. Sollte demnächst wieder eine russische Besatzung kommen – kaum auszudenken, was das mit den Menschen macht. Dann wäre auch wieder die Frage an mich: Kommst du aus Russland und versorgst uns in Borova? Ich weiß tatsächlich nicht, ob ich dazu bereit wäre. Denn niemand wird mich als neutral ansehen.
Wird die Angst überhandnehmen?
Ich weiß gut, was Angst ist. Aber wenn ich am Grenzübergang zum Verhör gebracht wurde oder über eine verminte Straße gefahren bin, dann hatte ich immer nur gute Gedanken und es passierte mir nichts. Ich spürte in solchen Situationen, dass ich mich selbst erhalten kann, indem ich mich nicht vom Hass und der Feindschaft vergiften lasse. Sollte ich aber meine Mitte verlieren, werde ich schnell innerlich zerstört, das merkte ich ganz genau. Viele meiner Bekannten haben Bitterkeit und Feindschaft in ihrer Seele. Wenn wir den Krieg und den Hass in unser Herz lassen, dann ist das der Tod.
Das gilt auch über deine Region hinaus?
Ich fühle mich als ein Bürger des Planeten Erde. Diesen Krieg erlebe ich als eine Prüfung: Bin ich ein Mensch? Wenn ich hasse oder Menschen schade, dann zerstöre ich in erster Linie mich selbst und auch die Erde. Neutralität heißt nicht, dass mir alle anderen Menschen egal sind. Im Gegenteil: Mir geht es darum, wie wir alle miteinander verbunden sind. Wir dürfen uns nicht gegenseitig beklauen und verletzen. Denn wir hängen als Menschen voneinander ab – alle.
Falk Zientz startete am 25. Februar 2022 zusammen mit Lukas Kunert Unterkunft Ukraine, die mit über 50 000 vermittelten Privatunterkünften bislang größte zivilgesellschaftliche Flüchtlingsinitiative.
In einer Zeit, in der Europa von Unsicherheiten geprägt ist, zeigt sein Beitrag zur Gestaltung des schweizerischen Bundesstaats, wie individuelle Ideen und philosophisches Denken einen großen Einfluss auf politische Entwicklungen haben können. Troxlers Anerkennung des amerikanischen Bundesstaatssystems als Modell für eine erfolgreiche Gemeinschaft in Freiheit verdeutlicht seine visionäre Sichtweise und seinen Glauben an die Komplementarität von gegensätzlichen Kräften.