Zuschrift zum Artikel ‹Ich fühle, also bin ich› von Janette Lemke in ‹Goetheanum› 6/2025.
Der Artikel von Janette Lemke ist mit einer ehrlich deklarierten persönlichen Nähe und zugleich Distanz zur Anthroposophie geschrieben. Er transportiert bedauerlicherweise durchgehend ein Vorurteil gegenüber der Anthroposophie, dem – zumindest in einer ‹Wochenschrift für Anthroposophie› – entschieden widersprochen werden müsste. Es ist das Vorurteil der Vergeistigung auf dem Boden der Entkörperung. Rudolf Steiner hat ja bekanntlich die Berechtigung des hier abgewandelt angewendeten ‹Ich denke, also bin ich› von Descartes als unrealistisch zurückgewiesen. Ebenso wird zum Beispiel in den esoterischen Stunden deutlich, wie wenig Realität auch im Fühlen liegt. Und wie einzig im Wollen – in der Auseinandersetzung mit den Erdenkräften durch die Gliedmaßen – wir als Menschen tatsächlich in einer Wirklichkeit des Seins stehen. Das lässt sich aber ohne kraftvollen Leibbezug gar nicht verwirklichen.
Ganz besonders das genannte Anwendungsgebiet ‹Heil- und Waldorfpädagogik›, richtig verstanden, ist ja gerade deshalb so fruchtbar, weil hier in entschiedener Körperorientierung auf dem Boden eines differenzierten Entwicklungsverständnisses die schrittweise Verleiblichung jedes Menschenkindes in den Kindheits- und Jugendjahren – als Grundlage für eine gesunde und freie geistig-seelische Entwicklung – umfassend pädagogisch und therapeutisch begleitet und gefördert werden will und kann. So auch bei Demeter (und zu ergänzen: auch bei der Anthroposophischen Medizin), weil mit einer spirituellen Erkenntnis der Wirksamkeit von Substanzen diese in der Gegenwartskultur sehr gefährdete, aber für die möglichst gesunde Weiterentwicklung der Menschheit notwendige Verleiblichung von der Substanzseite her gezielt mit Präparaten und Medikamenten und nicht zuletzt einer gesunden Ernährung unterstützt wird!
Während diese praktischen Anwendungsgebiete vor allem im letzten Jahrsiebt von Rudolf Steiners Wirken bis zu seinem Tod vor hundert Jahren anfänglich verwirklicht werden konnten, kam bekanntlich schon ab 1908 mit der Kunst ein bewusst gehandhabtes Element der Verleiblichung durch Anthroposophie in die bestehende theosophische Kultur, ganz besonders ab 1912 durch die Entwicklung der Bewegungskunst Eurythmie, die allen Anthroposophinnen und Anthroposophen ans Herz gelegt wurde. So wurde sie auch Pflichtfach in allen Klassen der neu gegründeten Waldorfschule! Warum wohl?
Insofern entbehrt die im Artikel dargestellte Polarisierung zwischen leibzugewandter Traumatherapie und leibfeindlicher ‹Vergeistigung und Ich-Stärkung› durch Anthroposophie der Wahrheitsgrundlage. Es müsste fairerweise zumindest konkret benannt werden, an welchen beobachtbaren Phänomenen sich das bekannte Vorurteil entzündet. Die Bedeutung der körperorientierten Psychotherapie und Traumatherapie an sich wird nicht in Abrede gestellt oder geschmälert. Das Diskreditieren der geistigen Bemühung im Vorstellen und Denken als Ausgangspunkt der persönlichen Entwicklung scheint weit verbreitete Mode, leider auch in anthroposophischen Gemeinschaften, Medien und Veranstaltungen. Das alarmierend Schädliche daran ist, dass es nicht nur den unbefangenen Blick auf den heilsamen Kulturimpuls der Anthroposophie verstellt, sondern sogar ganz grundsätzlich von der ehrlichen Menschenerkenntnis wegführt in die Unmöglichkeit, sich als Menschenwesen in seinen besonderen Erkenntnismöglichkeiten selbst zu verstehen und zu bejahen.
Antwort der Redaktion
Den Artikel von Frau Lemke publizieren wir weniger, um zu sagen wie Anthroposophie ‹ist›, als vielmehr, wie sie von Interessierten wahrgenommen wird. Naturgemäss hat der Innenblick immer das Problem der Befangenheit. Deshalb sind solche Zurufe ‹vom Rand› wertvolle Inspiration. Wir haben ihn publiziert, um ein Bild zu geben davon, wie Anthroposophie außerhalb anthroposophischer Gemeinschaft wahrgenommen wird beziehungsweise was an ihr eventuell unverständlich erscheint für außerhalb der anthroposophischen Gemeinschaft Stehende. Ein solcher Artikel offenbart auch, welche Fragen sie an die heute für und mit Anthroposophie Tätigen haben. Darin liegen zweierlei Möglichkeiten. Zum einen eine neuerliche Selbstbefragung und auch Schärfung des eigenen Wissens und Verhältnisses. Zum anderen erlauben uns solche Blicke von außen, die ‹heilsamen Kulturimpulse der Anthroposophie›, wie auch Herr Keller Roth sie hier erwähnt, für unsere Gesellschaft anders zu ergreifen, zu präzisieren, und auf ehrliche Fragen an die Anthroposophie eingehen zu können.