Nicht alles ist heute laut und schrill in der Welt. Es gibt auch die leisen Töne, die schnell überhört werden, vor allem im Medienrummel. Wenn sie unmittelbar daherkommen, quasi ohne Zwischenschaltung, sind sie Kraftspender. Über eine unerwartet schöne Begegnung.
Es war fast schon eine pfingstliche Stimmung am Freitagabend in Weimar auf dem Platz vor dem Schloss. Kleine und große Menschen auf der Wiese mit Abendbrot-Picknick, eine Tischtennisplatte vor dem Kubus, der in der warmen Jahreszeit Wechselausstellungen beherbergt. Sogar Liegestühle waren von der Klassik-Stiftung aufgestellt worden. Und ein DJ spielte allgemein tanzbare Musik, zu der sich bereits einige bewegten. Da kam ein Mann mit Bauchladen durch die Menge geschlendert. Das sieht man heutzutage ja eher selten. Er trug eine Art bayrischen Hut, die Kleidung leger, sein Blick offen, nicht scheu, nicht aufdringlich. So mäanderte er also auch auf uns zu. Offensichtlich wollte er etwas zeigen, was er im Gehänge mit sich führte. Da lagen kleine Büchlein, dick und in eigentümlich langem Querformat. Vorn am Bauchladen hing die Einladung, seine ‹Wanderausstellung› zu besuchen. Die trug er also mit sich rum! Er stellte seine Werke als Daumenkinos vor und fragte, ob wir welche sehen wollten. Natürlich! Das erste ist schon vor 20 Jahren entstanden und zeigt den Moment des Augenöffnens eines jungen Mädchens vor dem Spiegel, nachdem es bei geschlossenen Augen seine langen Haare hatte abrasieren lassen. Volker Gerling, so der ‹Daumenkinograph›, hat diesen Moment festgehalten. Es ist liebevoll und schön gesehen geschehen. Er erzählte uns dann, wie und wo er diesem jungen Mädchen namens Antonia begegnet war. Und dass er sie jetzt auf dieser Reise wieder besuchen würde. Zu allen seinen Daumenkinos wusste er die Geschichten der Menschen, auch die Umstände der Aufnahme mit seiner analogen Kamera, die in zwölf Sekunden so viele Bilder macht, wie Volker Gerling üblicherweise für ein Daumenkino braucht. Für das kleine Kino von einer Berliner Herrentoilette musste er während der Aufnahme recht viele Erklärungen abgeben. Schwarzgraue Männlein bewegen sich wie Ameisen durch das Blättern im länglichen Querformat. Eines seiner Werke zeigt, wie der Blick eines Mannes langsam auf die gegenüberliegende Bergwand schweift, die man natürlich nicht sieht, während er sich über das Sterben befragt. Auch der Mond über dem Berliner Dom bewegt sich über die von Volker Gerling kreierte Leinwand. Herrlich das verschämte und doch freudestrahlende Lächeln der Frau im Bergbach, die sich nach zehn Jahren endlich traute, dort zu baden. Dann noch die ‹Ménage à trois›, bei der eine andere Sie in der Mitte ihren Kopf zu ihren zwei Geliebten rechts und links von sich wendet. Auch mit diesen Menschen hat Volker Gerling noch Kontakt.
Dreimal zeigt er jedes seiner Daumenkinos. Der erste Blick, um reinzukommen, der zweite Blick, um zu genießen, der dritte Blick, um sich wieder zu verabschieden. Und dann stellt er frei, ob wir für seine Ausstellung etwas spenden wollen, was seine Wanderschaft finanzieren würde. Die Spendenbox klebt unterm Bauchladen. Er sei vor drei Wochen zu Hause in Templin, nördlich von Berlin, aufgebrochen und wolle über Freiburg und Basel dann schlussendlich nach Österreich. Es gibt einige feste Stationen, wo er einkehren kann, aber gewöhnlich schläft er im Wald, was er sehr mag. Ein kleiner Hänger, den er an einem Geschirr hinter sich herzieht, transportiert Zelt, Essen, Fotoausrüstung. Dass er sich auf die Unvorhersehbarkeiten seiner Reise und das neue ‹Material› freut, konnte man seinen Augen ansehen. Er macht damit, würde ich meinen, Dokumentation zu einer Kunst. Eigentlich hat er Regie und Kamera studiert. Das Zugfahren sei der Vorläufer des Films, sagte sein Professor irgendwann mal. Und für Volker Gerling ist das Wandern, das Zufußgehen, das passendste Pendant zum Daumenkino. Wir sprachen dann noch über die Langsamkeit, die uns heute abhandengekommen zu sein scheint. Und ich würde gerne Mäuschen spielen bei den Gesprächen, die er auf seiner Reise noch führen wird.
Selten habe ich so unerwartet eine so zurückhaltende Schönheit gesehen. Es war ein bisschen wie Zauberei. Volker Gerlings Werke, auch seine Art waren so herrlich unprätentiös, eine gute Kombination aus Freiheit und Liebe. Er tut, was er liebt, und bringt gleichzeitig andere in ihrem Sein zur Erscheinung, in künstlerischer Weise und mitten aus dem Leben heraus. Es hat etwas Sanftes, dem eigenen Sein und der Welt Zugewandtes. Es ist harmonisch. Seine Wanderung, seine Art, Menschen zu begegnen und diese Begegnung so zu verarbeiten, dass daraus neue Begegnungen entstehen – fast ein Perpetuum mobile. Und wenn andere Menschen auch so begeistert davon sind wie wir, generiert Volker Gerling gute Kräfte aus kleinen Momenten des Schauens von Bildern. Er erschien mir selbst zutiefst als Mensch. Jemand, den man auf der Straße trifft, nicht im Tohuwabohu des finanzkräftigen Kunstmarktes. Eher wie Hermann Hesses Goldmund. Das gibt es heute also auch in der Welt – zum Glück.
Bildquelle und mehr Daumenkinographie
Israel ist auf der Sandgrundlage von Räubergeschichten errichtet worden. Kann so nicht gut als Anachronismus gehen…hat Solovieff schon in seiner kurzen Geschichte zum AntiChrist vorausgesehen.
Hallo Herr Neubauer, Israel wurde, wenn man so will, in Basel auf den Zionistenkongressen errichtet, gegründet wurde Israel aber nach der millionenfachen Ermordung der europäischen Juden durch Deutschland und das nationalsozialistische Regime.
Sie müssen sich dabei nicht auf die orthodox-theologischen Traktate von Wladimir Solowjow berufen, lesen Sie doch vielleicht einmal die Vernichtungs- und Auslöschungsvorahnungen von Franz Kafka in aller Ruhe, sofern Sie das nicht schon längst getan haben.
Es lag kürzlich ein Traktat vom „Verlag für Freies Geistesleben“ von 2011 auf meinem Tisch, in dem behauptet wurde, Franz Kafka wäre die Reinkarnation von Napoleon gewesen. Es ist mir ein Rätsel, weshalb sich selbst CDU- und AfD-Politiker inzwischen angwidert von den Anthroposophen abwenden. Da ist wohl etwas schief gelaufen in den vergangenen zwanzig Jahren.
Leider habe ich nur die ersten Sätze des Artikels über das Daumenkino lesen können. Schade.