Es gibt keinen Frieden unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen. Dieser Satz des Theologen Hans Küng ist angesichts der Konflikte im arabischen Raum und der islamistischen Anschläge hoch aktuell. Wie kann sich also die Friedenskraft der Religionen entfalten?
Für ihre Kinder- und Jugendfreizeitaktivitäten veranstaltet die Christengemeinschaft regelmäßig Schulungen für die Betreuerinnen und Helfer. Seit vielen Jahren besuchen auch Menschen aus dem östlichen Europa diese Kurse und bereichern sie mit ihrer jugendlichen Pionierstimmung. Eine größere Gruppe aus Südosteuropa stieß vor einigen Jahren dazu und stellte sich engagiert in die Arbeit. Dann baten sie jedoch um ein Gespräch. Sie erklärten, dass sie sich nicht berechtigt fühlten, beim Gottesdienst der Christengemeinschaft teilzunehmen. Nicht etwa, weil sie sich nicht willkommen fühlten, sondern weil sie ihrer nationalen orthodoxen Kirche treu bleiben wollten. Eine Kirche müsse von ihrer Nation geprägt sein! Das Problem war nicht zu lösen, aber es brachte die deutschen Teilnehmer dazu, darüber nachzudenken, welche Macht die Volkszugehörigkeit, die nationale Bindung in der Beziehung zu Christus hat. Diese nationale Prägung der osteuropäischen Kirchen lässt sich aus west- und mitteleuropäischer Perspektive kaum nachvollziehen. Hier geht es eher um das persönliche Bekenntnis, auch in der geistig-religiösen Auseinandersetzung.
Religionen sind übernational
Die Balkankriege der 1990er-Jahre sind ein Beispiel für die religiös bestimmten Fronten des Schießkrieges. Joachim von Königslöw hat nachgezeichnet, wie sich die Grenzen der Gegnerschaft mit den landschaftlich-religiösen Unterschieden nahezu decken. (1) Dennoch: Diese nationalen Begrenzungen sind eigentlich allen Weltreligionen wesensfremd; das freie Miteinander der verschiedenen Herkünfte ist ihnen viel eher gemäß. So findet sich im Christentum in einem seiner ersten schriftlichen Zeugnisse, dem Brief von Paulus an die Korinther: «Den Juden bin ich wie ein Jude geworden, damit ich die Juden gewinne. Denen unter dem Gesetz bin ich wie einer unter dem Gesetz geworden – obwohl ich selbst nicht unter dem Gesetz bin –, damit ich die unter dem Gesetz gewinne. Denen ohne Gesetz (Griechen) bin ich wie einer ohne Gesetz geworden – obwohl ich doch nicht ohne Gesetz bin vor Gott, sondern bin im Gesetz vor Christus.» (2) Rudolf Steiner gibt in seinem Vortrag ‹Pfingsten, das Fest der freien Individualität› als Merkspruch aus: «Du bist ein Mensch mit allen Menschen der Erde.» (3) Er sieht unter dem Walten des Heiligen Geistes den Volksgeist scheinbar pauschal abgelöst «von einem ihm zwar verwandten, aber viel höher wirkenden Geist, von einem solchen Geiste, der sich verhält zu der ganzen Menschheit, wie sich der alte Geist verhalten hat zu den einzelnen Völkern». Im Hinduismus hemmen ursprünglich eher die Kasten die unbefangene Gemeinschaft, nicht die Nation, auch wenn die Hindus überwiegend aus einem Volke stammen. Im Buddhismus steht im Mittelpunkt der Weg zum Geist, der ohnehin über die irdische Herkunft hinausführt. Der Islam ist trotz seiner arabischen Herkunft übernational. So reichte der Halbmond schon fast zu Beginn seines rasanten Siegeszuges von Vorderasien über Nordafrika bis Spanien. Gerade weil der Koran weltliche Verfassungen überflüssig machen will, sind Unterschiede des Volkes und der Herkunft nicht wichtig. (4) Das Judentum stand zwar zunächst für die Reinhaltung des Erbstroms, aber diese Bedingtheit ist lange her; die jüdische Gemeinschaft ist – auch durch die ständigen Vertreibungen – übernational geworden.
Wie steht es nun mit der Wertigkeit der Weltreligionen auf dem Boden der Anthroposophie? In der Anthroposophischen Gesellschaft ist jeder, ob Christ oder Nichtchrist, gleichberechtigt willkommen und selbstverständlich gibt es eine Anthroposophie im islamischen, hinduistischen oder buddhistischen Kulturkreis. Rudolf Steiner hat zwar die Tat Christi als Mittelpunkt der Erdenentwicklung dargestellt, doch diese Dialektik darf keinen Andersgläubigen ausschließen; sie führt uns vorwärts und hebt über die Verschiedenheit der Religionen in eine allgemein menschliche Sphäre. Wie ein Anthroposoph zur Christustatsache steht, ist eine vollkommen individuelle Angelegenheit.
Was hat nun zu den Kriegen geführt, die oft unverkennbar religiös oder konfessionell geprägt sind, von den Kreuzzügen und dem 30-jährigen Krieg bis hin zum Balkankrieg im 20. Jahrhundert? Eine erste Antwort: Nicht der Volksengel macht uns anfällig für Nationalismen, sondern jedem geistigen Wesen steht ein Dämon gegenüber, der zum Fanatismus verführen will. Nicht der Blick hinauf zum Volksgeist gefährdet unsere Friedensfähigkeit, sondern die mangelnde Bemühung, im Blick des guten Engels zu bleiben. Völker haben leitende Erzengel, und neue Völker bilden sich unter dem Walten des Zeitgeistes, bis ein ‹regulärer› Erzengel sie führt; das hat Rudolf Steiner im Volksseelenzyklus (5) in meisterlicher Ausdifferenziertheit gezeigt. Rudolf Steiner geht dort aber nicht auf deren dunkle Gegenbilder ein. Das mag auch mit dem Ort und der Zeit dieses Vortragszyklus zusammenhängen: Steiner spricht im gerade erst wieder zur Residenz erklärten Kristiania/Oslo. 1814 hatte Dänemark Norwegen an den König von Schweden abtreten müssen, und erst nach einer Volksabstimmung wurde die Personalunion aufgelöst: am 13. August 1905 betrat Haakon VII. seinen norwegischen Thron. Es war eine friedliche Trennung des Doppelstaates Norwegen-Schweden. Es zeugt von Rudolf Steiners Takt, dass er hier nicht von dem unfriedlichen Gegenbild der Erzengel spricht: nämlich den Nationaldämonen. Volksseelen erfordern keine nationale Abgrenzung; es ist im Gegenteil das Gespräch zwischen den Volksangehörigen, das den Nationalismus überwindet.
Das verzerrte ‹Gott will es›
Was macht denn ein Volk aus? Nicht der Erbstrom, sondern der Blick auf den Engel beziehungsweise dessen Blick auf das Volk. Navid Kermani, der 2015 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, ist iranischer Abstammung und zugleich Deutscher. Er ist im Blick seines Sprachgeistes, unabhängig vom Pass. Es wäre zwar fatal, wenn Angehörige eines Volkes so auf die ‹Mission›, also die besondere Frage- und Aufgabenstellung ihres Volkes blicken würden, als wären sie dadurch von anderen Völkern gesondert und womöglich erhoben. Die ‹Mission› innerlich als Aufgabe zu erfragen, ist aber sinnvoll. Sie veranlasst nicht zur Selbstüberhebung, sondern kann im Gegenteil in eine allgemein menschliche Verantwortung führen. In vorchristlicher Zeit konnten Völker sich unter dem Blick des Erzengels streiten; so war es offenbar noch im Alten Testament, beispielsweise die Ansprache an Daniel durch den Volksgeist. (6) Doch heute ist das undenkbar: Religiös-kulturelle Prägungen können erfrischende Gespräche hervorrufen, jeder Chauvinismus tötet hingegen, und zwar auch den fruchtbaren geistigen Streit. Schon die blutigen Kreuzzüge mit ihrem Kampfruf ‹Gott will es!›, von Papst Urban II. 1095 an der Synode von Clermont ausgerufen, war eine Verzerrung der Sehnsucht, die Inkarnationsorte Christi aufsuchen zu können. Es gibt zugleich wunderbare Beispiele, wie die Topografie des Heiligen Grabes und der Auferstehungsstätten in die Heimat gebracht wurden, so in Görlitz, wo 1504 die verkleinerte Nachbildung der Heilig-Grab-Kapelle eingeweiht wurde, und das verwunschene Lalibela in Äthiopien, mit den mächtigen, an Jerusalem erinnernden Felsenkirchen. Da wurde der Drang zum Heiligen Land ohne Kriegsgelüste verwirklicht. Ist vielleicht auch der ‹Kreuzzug› Friedrichs II. so zu verstehen, der 1228/29 zum Ärger des Papstes in Jerusalem nicht die Muslime vertrieb oder gar tötete, sondern mit ihnen Gespräche führte?
Wie die Welt besser wird
Die Welt wird besser durch die kulturelle Vielfalt, für die wir uns öffnen können. Das gelingt umso eher, je mehr sich jeder seiner inneren und äußeren Heimat sicher ist. Sie wird besser durch die Sprache, in der wir zu Hause sind und zugleich erleben, dass wir an Freiheit gewinnen, wenn wir uns aus der Verliebtheit in das eigene Idiom lösen. Jeder, der einmal in einer Fremdsprache eigenste Gedanken ausdrücken möchte, bemerkt seine Unbeholfenheit und wird letztlich gewahr, dass jede originelle Äußerung als Übersetzung aus dem Geiste geleistet werden muss. Kein Gespräch kann allein mit Worten geführt werden, sondern im pfingstlichen Sinne entsteht es erst im Geiste, findet in unzulänglicher Sprache seinen Ausdruck und wird dann vom Hörenden wieder ins Geistige übersetzt. Die Welt wird besser durch die Eingemeindung der Fremden. Jacob Grimm hat das vorbildlich formuliert, als 1848 in der Frankfurter Paulskirche über die Verfassung beraten werden sollte: «§ 1. Das deutsche Volk ist ein Volk von Freien, und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei.» Jacob Grimm fährt in § 4 fort: «Wer diesem zuwiderhandelt und dessen durch ein Gericht überführt worden ist, geht des deutschen Bürgerrechts verlustig.» Im Maße eines Menschenlebens gerechnet, scheint es gleichwohl kaum möglich, den Frieden zu erreichen. Deshalb lohnt es sich, den Gedanken der Widerverkörperung und dessen Perspektive auf die Zeit hinzuzunehmen.
Mehr als 30 Prozent der Europäer nördlich der Alpen sind von wiederholten Erdenleben überzeugt; das sind mehr als jene, die an ihre persönliche Auferstehung glauben. Hindus mögen meinen, dass sie in ihrer Heimat wiedergeboren werden. Wir haben die Chance, der inneren Logik der Reinkarnation zu folgen, der zufolge eine Geburt in unterschiedlichen Zeiten auch eine Geburt in unterschiedlichen Räumen und unterschiedlichem Geschlecht bedeuten kann. Wenn wir als Christen diese Chance ergreifen, könnten wir uns auch in der Frage des europäischen Friedens beweglicher machen. Die einleitend genannte Nationalkirche würde ja zum Hemmnis, zum Klumpfuß, wenn wir vorwärtsschreiten wollen in Verkörperungen in anderen Erdgegenden.
Rudolf Steiner hat beschrieben, dass die Christengemeinschaft aus gabrielischen Kräften wirkt und dass eine anthroposophische Gemeinschaftsbildung unter dem Blick Michaels geschieht. Wer den Kultus der Christengemeinschaft mitvollzieht, bekommt die Verbundenheit aus dem Tor der Geburt geschenkt. (7) Dies muss die Christengemeinschaft nicht allein beanspruchen.
Friedenskultur und Reinkarnation
Zum anthroposophischen Verständnis gehört, die Gemeinschaftsbildung über das Tor des Todes hinaus zu denken. Das berührt auch die Friedensfrage. Nicht auf unmittelbare Erfolge hoffen zu können, muss keinesfalls bedeuten, dass das Engagement nicht zukunftskräftig wirkt. Was wir jetzt tun, geht nicht verloren, sondern wirkt selbstlos für die Nachfolgenden. Aber was uns jetzt hilft, sind die Bemühungen unserer Vorgänger, und wir sollen veranlagen, was dem zukünftigen Frieden dient; weit über die Grenzen der anthroposophischen Bewegung hinaus. Es gibt einen Spruch der schlesischen Wegebauer von 1584, beim Bau der Straße Breslau-Brieg in Stein geschrieben:
Straverunt alii nobis nos posteritati
Omnibus at Christus stravit ad astra viam.
Andere bahnten den Weg für uns, wir den für die Nachwelt,
Allen aber hat Christus den Weg gebahnt zu den Sternen.
Da ist dieser Zeitfaktor ausgesprochen: Was wir tun, hilft nicht sofort, aber es geht auch nicht verloren, sondern führt in die Zukunft, an der wir arbeiten. Noch ein Erlebnis aus den Kinderferienfreizeitaktivitäten möge hier dienen: Im Zelt kam ein Kuscheltier abhanden. Die Kinder waren erst wenige Tage beieinander und noch nicht zu einer Gemeinschaft zusammengewachsen. Dennoch waren sie sich einig: «Das war einer aus einer andern Gruppe!», und planten Vergeltung. Da müssen sich die Gruppendämonen die Hände gerieben haben! Eine ruhige Verabredung, dass alle Kinder erst einmal Kennenlernregeln erfinden sollten, vertrieb den Spuk: Man interessierte sich füreinander und gelangte zum Frieden.
Ein einfaches Beispiel, aber ist es unter Erwachsenen, wenn man die spontanen Emotionen durchfühlt und dann überwindet, anders? Der Weg nach Europa hat die Chance in sich, das Nationale abzubauen. Marica Bodrožić, die deutsch-kroatische Schriftstellerin und Preisträgerin des Literaturpreises der Europäischen Union, hat dies in ihrem Buch ‹Mein weißer Frieden› so beschrieben: «Die schattenhaften Verdrängungen auf dem Balkan brachen sich Bahn wie wuchtige Wellen, und es gab keinen fähigen Staatsmann, der sie in die Verwandlung hätte führen und der hätte aufzeigen können, wie kostbar die Idee des Gemeinsamen jenseits der Schatten ist.» Der Kern dieses hohen Ideals und seine politische Tragweite spiegeln sich heute in der Idee eines vereinten Europas, in dem, genau wie im sozialistischen Vielvölkerstaat, verschiedene Sprachen, Religionen und Kulturen im Miteinander bestehen und gemeinsam wachsen sollen. Was Jugoslawien nicht gelungen ist, wird Europa gelingen, wenn es die Überhöhung der nationalen Idee überwindet. Dies wird erst dann möglich sein, wenn sich die jeweiligen Nationen ganz und gar ihrer selbst bewusst und nicht gezwungen sind, auf ihren Kern und auf regionale Identitäten zu verzichten. Sonst werden sich die Konflikte so lange wiederholen und jene dunklen Kräfte ermächtigen, die der große Humanist, Architekt und Schriftsteller Bogdan Bogdanović in seinem bewegenden Buch ‹Der verdammte Baumeister› beschrieben hat. (8) Bodrožić gibt darin erschütternde Beispiele, wie sich Menschen während des Balkankrieges von einem Tag auf den andern als Feinde erlebten und doch zugleich als Einzelne unfassbare Menschlichkeit an den Tag legten. Dies ist noch keine Antwort, aber es hilft für die soziale Erfahrung: Lösungen findet keiner allein. Ich freue mich, wenn wir gemeinsam danach suchen.
(1) Vgl. Joachim von Königslöws Aufsätze in ‹Die Drei› u. a. 1990, 178 ff. + 848 ff.
(2) I. Kor. 9,20f
(3) 15.5.1910, GA 118, S. 168 ff. Während der Pfingsttagung wurde Veranstaltern entgegengehalten, dass diese Textstellen begründen, wieso man nicht mehr von Volksgeistern oder deren Mission sprechen könne. Es ist richtig, dass uns zunehmend eine Aufgabe als Weltbürger und weniger als Angehörige eines Volkes zukommt. Doch ist es ein Zufall, dass Rudolf Steiner einen Monat nach diesem Pfingstvortrag seinen Zyklus über Volksseelen hielt? Die ‹Missionen› von Völkern, die er dort bringt, datieren alle in der Neuzeit und können schwerlich so verstanden werden, als sei mit dem Heiligen Geist dieses Kapitel abgeschlossen.
(4) Vgl. besonders zum – ursprünglich unbegründeten – islamischen Antisemitismus: Muhammad Sameer Murtaza: ‹Shalom und Salam – Wider den islamisch verbrämten Antisemitismus›, Frankfurt 2018.
(5) Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhang mit der germanisch-nordischen Mythologie, Oslo 7.–17. Juni 1910, GA 121. Die kommentierte Neuausgabe 2017 setzt sich mit dem Rassismusvorwurf gegen Rudolf Steiner auseinander.
(6) Altes Testament, Buch Daniel 10, 20 f.
(7) Rudolf Steiner hat diesen Gedankengang in den sog. Delegiertenvorträgen vom 27. und 28. Februar 1923 in Stuttgart entwickelt, enthalten in GA 257.
(8) Marica Bodrožić: ‹Mein weißer Frieden›, München 2014, S. 91 f.
Zu den Bildern: Nina Gautier, Fluid textures, 2018
Mal erinnern sie an Flügel, dann an Blütenblätter, scheinen flüssig und sind doch aus feinstem Porzellan durch das Feuer gegangen – fragil und erhaben, ein jedes mit seiner Dynamik, seinen Spuren.