Worauf kommt es an, wenn man für den spirituellen Blick werben will, wenn man Verständnis oder zumindest Fragebereitschaft wecken will, dass in jedem Menschen ein unsterblicher Kern wohnt, dass den Tieren Würde zusteht, dass Verstorbene zum Leben gehören? Hier beschreibe ich drei Haltungen, die – wie ich meine – diese Frage beantworten.
Wir sollten lernen zu erzählen, zu tanzen und zu gärtnern. Diese drei Tätigkeiten haben zu Recht mythischen Klang, weil sie zum Menschlichsten gehören, weil sie das Kind in uns befreien, weil sie – und das ist ein Grundzug des Spirituellen, des Anthroposophischen – das Positive, das Aufbauende, ja das Leben im Auge haben. «Das Herz schlägt immer für etwas», so habe ich es einmal formuliert. Das ist mein Zuruf für die Goetheanum-Weltkonferenz: Lernen wir, neu zu erzählen, zu tanzen, zu gärtnern, bei allem, was uns lieb ist – damit es uns lieb wird und so andere erwärmt und entzündet.
Erzählen
Wer erzählt, sucht im Moment das Wort, denn er oder sie weiß, dass die jetzt geborene Formulierung Kraft besitzt. Und auf die Kraft der Worte kommt es an. Man ist im Bild, und aus dem Bild kommend fallen die Worte, sodass sie uns selbst überraschen. Man müsse alle zehn Jahre die anthroposophischen Begriffe in neue Worte gießen, denn die Worte altern; das sagte mir Rüdiger Grimm, der für ein Lexikon erklären sollte, was Anthroposophische Sozialtherapie ausmacht. «Die Worte haben ihre Aura verloren» – so beschrieb mir Joachim Daniel, wie anthroposophische Bezeichnungen ihre Kraft eingebüßt hätten und erst durch eine neue Erzählung wieder strahlen würden. Es sind demnach nicht die Worte, die ein Bild malen, sondern es ist umgekehrt. Aus der inneren Anschauung, aus dem, was die Seele innerlich malt, fließen die Worte. Ich vermute, dass unsere Kompetenz, hier zwischen alten und neuen Worten zu entscheiden, wachsen wird. Und ich vermute, dass die Sehnsucht nach diesen inneren Bildern so heftig ist, weil aus kleinen und großen Bildschirmen eine solche Flut von Bildern auf uns zukommt. «Ein im Geiste Suchender ist ein Stammler in den Worten.» Das war der Hinweis von dem Waldorfdozenten Georg Glöckler an uns Studierende für die Abschlussvorträge und der Spruch prangte dann an der Rückwand des Auditoriums.
Im Streit, ob Anthroposophie Wissenschaft oder Religion ist, bietet sich an, sie als große Erzählung zu nehmen. Eine Erzählung, die, wie es Rudolf Steiner Édouard Schuré erklärte, genau dann in die Buchhandlungen und Vortragssäle kam, als mit dem 20. Jahrhundert die alten mythischen Erzählungen versiegten – wir nicht mehr die Ohren, nicht mehr die Herzen hatten, sie zu hören und zu verstehen. Letztes Jahr tagte unsere Kommunikationsabteilung in Basel bei den Kaffeemacher:innen. Das Unternehmen ist erfolgreich mit ökologisch hergestelltem Kaffee und Kaffeekultur. In Hunderten Filmen auf Youtube erzählen sie von Kaffee – von der ökologisch angepflanzten Bohne in Costa Rica bis zum richtig gebrühten Espresso zu Hause. Benjamin Hohmann, leitender Kaffeemacher, schilderte uns, worauf es ankommt, will man Gehör finden: Worte! Die Internetsuchmaschinen verfolgen und berechnen, welche Worte im Netz gesucht und gefunden werden. Worte ins digitale Gespräch zu bringen, sie mit Sinn aufzuladen, das schafft Aufmerksamkeit. Ja, ‹Kaffeemacher› ist solch ein Wort. Zum Erzählen gehört außerdem, dass das ‹Wer› vorne steht. ‹Wer tut etwas?›, ist die erste Frage. Deshalb sind die beliebten Passivkonstruktionen ‹es wurde beschlossen, man hat festgestellt› für die Erzählung ungeeignet. Noch schwächer wird die Rede, wenn zum Passiv die beliebten Einschränkungen durch Hilfsverben hinzukommen: ‹Hier kann gesagt werden› statt ‹Ich sage›. Erzählung braucht Persönlichkeit und Eindeutigkeit, ja es ist gerade das persönliche Statement, das Deutlichkeit erlaubt, ohne überheblich zu wirken. Werden wir persönlich und erzählen wir vom selbst erlebten Geist!
Erzählung braucht Persönlichkeit und Eindeutigkeit, ja es ist gerade das persönliche Statement, das die Deutlichkeit erlaubt, ohne überheblich zu wirken. Werden wir persönlich und erzählen wir vom selbst erlebten Geist!
Tanzen
«Nur im Tanze weiß ich der höchsten Dinge Gleichnis zu reden.» Das schreibt Friedrich Nietzsche in ‹Also sprach Zarathustra (Grablied)›. Wer tanzt, hat dreierlei im Blick: seine Umgebung, seinen Partner oder seine Partnerin und sich selbst. Das legitimiert, so verstehe ich Nietzsche, vom Höchsten zu sprechen, und in bewegter Zeit gilt dies wohl besonders: Man ist auf sich selbst konzentriert und hat zugleich die Umgebung im Auge und ist im ‹Flow› präsent. Man fragt, schaut und setzt so den nächsten Schritt. Christian Morgensterns Gedichtanfang: «Wer vom Ziel nicht weiß, kann den Weg nicht haben» dreht sich für Tanzende um: «Wer vom Weg nicht weiß, wird vom Ziel nichts haben.» Wolfgang Schad betonte in einem Vortrag, dass ‹Faust› das Drama des 19. Jahrhunderts sei und ‹Wilhelm Meister› dasjenige des 20. und 21. Jahrhunderts. Da zählt nicht mehr das eine Ziel, sondern der Weg; das ‹Wie› entscheidet, ob man vorankommt. So funktionieren auch die Geschichten, die seit vielleicht zehn Jahren von den Streamingdiensten weltweit erzählt werden. Da ist nicht mehr der eine Handlungsstrahl, sondern in den Serien wird ein Schicksalsfeld aufgespannt, wo nicht Anfang und Ende zählen, sondern das vielschichtige widersprüchliche Jetzt.
Stefan Hasler und Martina Maria Sam baten mich für die Herausgabe des Kommentarbandes zu Rudolf Steiners Laut-Eurythmie-Kurs, dessen Angaben zu Tierkreis und Planeten zu kommentieren. Ich las dazu die Notizen der von Steiner instruierten Eurythmistinnen. Wie nachdenklich wurde ich, als mir klar wurde, in welcher Geschwindigkeit – neudeutsch ‹on the fly› – Rudolf Steiner seine Ideen vortrug. «Das macht mal so, das macht mal so …» – und schon ging es weiter. Wie viel musste notgedrungen von ihm vorläufig gemeint sein und wurde doch von den Nachfolgenden in Stein gemeißelt. Nicht nur das: Während manche von Rudolf Steiners Angaben zu Leitplanke und Leitstern wurden, blieben andere kaum beachtet. So zählt die Anwendung der Präparate im Biologisch-Dynamischen zum Kern, während das Studium und die Züchtung von Regenwürmern, Fluginsekten und Vögeln, wie es Rudolf Steiner im 7. Vortrag seines Landwirtschaftlichen Kurses fordert, meines Wissens zum Beispiel kaum verfolgt werden. Der Verlust von 70 Prozent der Artenvielfalt im 20. Jahrhundert verleiht diesem Hinweis Rudolf Steiners Gewicht. Wir treffen, anders ist es ja auch nicht möglich, eine Auswahl. Dabei bleibt oft unklar, was Rudolf Steiners eigenem Geist entsprungen ist und was er gelesen und übernommen hat. Ein Beispiel: In Sitzungen des Sektionskollegiums der Mathematisch-Astronomischen Sektion wurde immer wieder Rudolf Steiners Beschreibung besprochen, dass die Kometen auf ihrer Bahn vorne Substanz bildeten, die hinten vergeht. Das klang interessant, widersprach aber sowohl der astronomischen Beobachtung als auch der unbefangenen Vernunft. Zugleich lag in diesem Hinweis eine leise Demütigung: «Wie materialistisch bist du nur, dass du das nicht verstehen willst?» Erst 20 Jahre später erfuhr ich, dass Rudolf Steiner den Gedanken von Friedrich Hegel übernommen hat. Ich vermute, dass wir noch immer unterschätzen, wie viel – und das ist ja gut so – er in seinem Werk von anderen übernommen hat. Der Agrarökologe Andrew Lorand schätzte, dass Rudolf Steiner in seinem Landwirtschaftlichen Kurs 70 Prozent von anderen Autorinnen und Autoren übernommen hat.
Um nicht zum Epigonen zu werden, sollte man lernen zu tanzen. Denn wer tanzt, folgt nicht stur einem einmal erfassten Ziel, sondern hat alles im Auge und wählt im Moment den besten, schönsten, musikalischsten Schritt. Rudolf Steiners Hinweise werden dann weniger Gesetz und mehr Inspiration. Tänzerisch mit Anthroposophie umzugehen, bedeutet, sich eher von Rudolf Steiners Forschungsart und weniger von seinen Forschungsergebnissen inspirieren zu lassen. Wer tanzt, hört, wenn ein neues Musikstück gespielt wird. Was heißt das? Tänzerische Gesinnung macht neugierig, neue spirituelle Perspektiven aufzunehmen, auch wenn sie nicht das Label ‹Anthroposophie› tragen: Permakultur, Gewaltfreie Kommunikation, Pilgern, Yoga.
Gärtnern
Wenn er ein Beet neu anlege, dann sei das immer ein Dialog, erklärt mir Benno Otter, Gärtner am Goetheanum. Man pflanzt hier eine Staude und da die Rosen und dann antwortet die Natur, ob das so dem Leben gemäß ist. Im nächsten Jahr korrigiere er dann die Pflanzungen. So sei er mit der Natur in einem fortwährenden Gespräch. Zugleich zähle der eigene Gestaltungswille. Wenn sie auf dem Campus neue Bäume pflanzen, dann geschehe das mit einer 30-jährigen Perspektive. Wie soll in einer Generation hier die Landschaft aussehen? Das ist die Spanne gärtnerischen Handelns: Man ist im täglichen Gespräch mit der Umgebung und hat zugleich einen Blick, der über das eigene Leben hinausragt. So sollte vermutlich auch die spirituelle Kulturarbeit sein. Wie soll die Gesellschaft in 30 Jahren über Wiederverkörperung denken – und wie ist heute darüber das Gespräch, in das man sich einbringen kann? Diese polaren Fragen sollten, so gegensätzlich sie sind, in der Seele leben und unser Handeln befeuern. Und noch etwas: Zum Gärtnern gehört, das, was sich als wenig lebensfähig erweist, herauszunehmen, um Platz für Neues zu schaffen. Auch das spiegelt sich, so meine ich, in der anthroposophischen Arbeit. So wie sich unzählige Hinweise von Rudolf Steiner als unendlich fruchtbar und zukünftig erwiesen haben und weltweit erprobt und auch weiterentwickelt wurden, so gibt es nicht wenige Hinweise, die sich kaum oder überhaupt nicht fruchtbar zeigten. Das gilt meines Wissens für seinen Rat, Schädlinge zu veraschen oder auf Grundlage der griechischen Grundgebärden im Theater zu inszenieren, und vermutlich gibt es kein Lebensfeld, wo solche fruchtlosen Hinweise nicht das Gemüt belasten, weil man denkt: Was mache ich falsch?
Wie wäre es, wenn wir uns mutiger von solchen nach hundert Jahren als wirkungslos erfahrenen Empfehlungen lösen würden? Es würde frei machen und konzentrieren für die fruchtbaren Wege, es würde manche Last von der Seele nehmen und es würde glaubwürdig gegenüber Andersdenkenden machen, weil wir nicht Steiner, sondern dem Leben das letzte Wort zusprechen. Lernen wir erzählen, tanzen und gärtnern!
Beim Lesen des Beitrages von Wolfgang Held geht mir das Herz auf und meine Seele beginnt zu tanzen. Was für fruchtbare Gedanken! Vielen Dank dafür.
„Im Schrein verschlossen bleibt seit lang‘ der Gral
…
Die heil’ge Speisung bleibt uns nun versagt,
gemeine Atzung muss uns nähren;
darob versiegte uns’rer Helden Kraft.
Nie kommt uns Botschaft mehr,
noch Ruf zu heil’gen Kämpfen aus der Ferne;
bleich und elend wankt umher
die mut- und führerlose Ritterschaft.“
Richard Wagner, Parsifal, 3. Akt