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Die Zeit rennt und ihr pennt

Schülerproteste mit solchen Slogans sehen Politiker zwar als prinzipiell berechtigt, jedoch naiv – das Verständnis für das «technisch Sinnvolle und ökonomisch Machbare» fehle ihnen, so FDP-Chef Lindner. Nun stimmen aber die Schlussfolgerungen des im Mai verabschiedeten Berichtes des Weltbiodiversitätsrats mit den Forderungen der Schüler überein: Es muss sofort und umfassend gehandelt werden.


Mehr als 500 führende Experten aus über 100 Ländern haben im Auftrag der 129 Mitgliedsstaaten des Weltbiodiversitätsrats ipbes mit vier ‹regionalen› Berichten die Entwicklung der Biodiversität in den letzten Jahrzehnten auf allen Kontinenten erfasst, also auf dem ganzen Planeten bis auf die Pole und die offenen Meere. Dabei haben sie Tausende von Studien zu einzelnen aussterbenden Ökosystemen oder Arten zusammengefasst – wie Korallenriffe, Bienen oder Regenwald –, die bis anhin als Einzelstimmen bestenfalls lokales Bedauern auslösen. Sie wurden durch die globale Evaluation zu einem vielstimmigen starken Chor, dessen Botschaft weithin hörbar ist: Das Artensterben vollzieht sich derzeit 10 bis 100 Mal schneller als in den zurückliegenden 10 Millionen Jahren, es ist unumkehrbar und es bedroht die Menschheit selbst.

Was steht auf dem Spiel? «Was die Biodiversität für den Menschen leistet, steht im Zentrum nicht nur unseres Überlebens, sondern auch unserer Kulturen, Identitäten und unseres Wohlbefindens – sie ist die Grundlage von Nahrungsmitteln, sauberem Wasser und Energie», sagt der Vorsitzende des IPBES Sir Robert Watson. Das hier gesammelte Expertenwissen lasse keinen Zweifel zu, dass es konkrete menschliche Eingriffe in die Natur sind, die das Artensterben auslösen, dass es aber auch Beispiele gibt, die zeigen, dass wir über das Wissen zu einem nachhaltigeren Umgang mit der Natur verfügen.

«Die ökologische Wissenschaft allein ist nicht geeignet, uns klare Verhaltensregeln für unseren Umgang mit der Natur zu geben,» mahnte Arne Naess, der Begründer der «Tiefenökologie», schon in den 70er-Jahren und forderte zusätzlich eine «Ökosophie», die auf ethischen Überlegungen basiert und politisch Stellung nimmt. Solche Meinungen galten lange als verschroben, haben aber doch einen Aufwachprozess eingeleitet: Die Wissenschaft hat sich der ökologischen Probleme angenommen, es wurden Ethikkommissionen eingesetzt, und die jetzt präsentierte Übersicht wurde von den Vereinten Nationen in Auftrag gegeben und finanziert. Sie hat durch eine wissenschaftliche Methode, die unabhängig vom Beobachter zu objektivieren sucht, die ‹Meinungen› der mahnenden Stimmen als unsere Wirklichkeit beschrieben: Das erdumspannende Lebensnetz, das auch die menschliche Existenz trägt, lebt in einer immensen Komplexität von Wechselbeziehungen. Jede Art hat eine Funktion im Gleichgewicht ihres Ökosystems. Es gelte daher, so der Ökologe Ralf Seppelt, Mitautor des Berichtes, dieses Gefüge – das Sicherheitsnetz unserer Existenz – mit allen verfügbaren Mitteln unverzüglich und konsequent zu schützen, um den Verlust von weiteren Arten zu verhindern.

“Erkennt der Mensch sich selbst:
wird ihm das Selbst zur Welt;
erkennt der Mensch die Welt:
wird ihm die Welt zum Selbst.”
Rudolf Steiner an Elisabeth Vreede

Klare Verhaltensregeln, um das nicht beabsichtigte Artensterben aufzuhalten, liegen vor, aber mit dem Ideal der Gewinnmaximierung sind auch Techniken entstanden, die Macht verleihen. Drei Wochen nach der Publikation des Berichtes zum Artensterben findet am 24.5.19 in Bern ein Symposium zu Gene Drives statt. Hier wird eine Technik diskutiert, die ermöglicht, das globale Aussterben einer Art oder Population gezielt in die Wege zu leiten – unter wissenschaftlichen, ethischen, sozio-ökonomischen und rechtlichen Aspekten.

Die objektivierende Wissenschaft dient offensichtlich verschiedenen Zielen. Sie beschreibt nicht nur die Wirklichkeit, sondern ist ein Mittel, um diese zu gestalten. Seit Rachel Carsons stummem Frühling, seit 50 Jahren also, wissen wir, dass unsere Art, mit den Ressourcen der Erde umzugehen, nicht nachhaltig ist. Aber der Diskurs von Einzelinteressen, die vom ‹ökonomisch Machbaren› verschiedene Vorstellungen haben, macht die Umsetzung dieser Erkenntnisse zu einem zähflüssigen Prozess, der von der rasanten Dynamik technischer Fortschritte, verbunden mit der Übernutzung natürlicher Ressourcen, überholt worden ist. Bisher trifft der Rückgang an natürlicher Vielfalt nach Teja Tscharnke, Leiter der Agrarökologie in Göttingen, vor allem die elf Prozent der Menschheit, die unter Nahrungsmangel leiden. Andere holzen weiterhin Wälder ab, um Palmölplantagen anzulegen. Die Hingabe an die eigenen Interessen und Gefühle nimmt das Leiden und Sterben anderer Lebewesen wider besseres Wissen rücksichtslos in Kauf.

Kann diese ‹Handlungslücke› nicht als tiefe Spaltung in der hoch entwickelten Verstandes- und Gemütsseele beschrieben werden? Auf dem Weg zur Bewusstseinsseele nennt Rudolf Steiner als erstes Zukunftsideal, dass «in der Zukunft kein Mensch Ruhe haben soll im Genusse von Glück, wenn andere neben ihm unglücklich sind».

Die Erkenntnis der Welt ist ein erster Schritt. Sie wird nur wirksam, wenn ein Mensch die Konsequenzen der Erkenntnis bis in sein Fühlen dringen lässt – wenn ihm die Welt zum Selbst wird. Wo dieses Fühlen dem ‹Gestrüpp› der eigenen Bedürfnislage begegnet, findet der Konflikt statt, und nur dort kann er gelöst werden. Hier stimmt Steiner mit dem Umweltforscher James Lovelock überein, der sagt: «Es ist nie das Ganze, das sich verändert, sondern immer das Individuum.»


Bild: Schiffsuntergang nach einem Sturm bei La Rochelle 2011. Seitdem liegt es auf Grund. Foto: Adrien Jutard

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