Die Wintertraube

Im Winter drängen sich die Bienen in der Wintertraube zusammen. So kann das Bienenvolk die kalte Zeit überleben. Übersinnlich ist diese Zusammenballung des Bienenvolkes der Moment seiner weitesten Ausatmung. Das Bienenvolk verlässt die irdischen Bande und vereinigt sich mit der geistigen Welt. Damit bringt es uns in Erinnerung, dass auch wir im Winter unserem kosmischen Sein begegnen.


Diese Darstellung möchte aufmerksam machen auf das andere, das unsichtbare Bienenwesen. Damit meine ich jenes verborgene Bienenwesen, das dem sinnlichen Bienenvolk, wie wir es kennen, geistig zugrunde liegt. Die Bienen stehen wie alle anderen irdischen Wesen in einer Linie, die aus dem Unsichtbaren ins Sichtbare führt. Erst dieser Linie gewahr zu werden, klärt vollständig über die Lebensverhältnisse auf.

Mit meiner Forschung folge ich dem Wunsch, mich diesem unsichtbaren, dem anderen Bienenwesen zu nähern, aber so, dass ich mich von ihm führen lasse. Das ist durchaus ein abenteuerliches Unterfangen. Sollte ich meine Erfahrungen zusammenfassen, würde ich sagen, dass wir bezüglich des unsichtbaren Bienenwesens noch Lehrlinge sind. Wir beginnen erst, uns mit ihm anzufreunden.

Sehnsucht nach dem Menschen

Die Bienen zu beobachten, ist eindrucksvoll. Ob es der Wabenbau ist, der weisheitsvolle Gang des Bienenvolkes durch das Jahr und das Zusammenspiel der drei Bienenwesen, der Königin, der Drohnen und der Arbeiterinnen, jede dieser unterschiedlichen Seiten des Bienenlebens ruft unser Staunen hervor. Die Bienen sind Wesen, die sich der Seele tief einschreiben. Begegnungen mit ihnen können regelrecht erschüttern, denn ihr Dasein ist getragen von einem überwältigenden Gleichklang und einer unfassbaren Schönheit. Die weisheitsvolle Ordnung, in die die einzelne Biene, aber auch die Bienenvölker wie selbstverständlich eingebettet sind, tritt unverschleiert und machtvoll vor die Seele. Man meint, vor einem Wunder zu stehen, dem man nicht gewachsen ist. Man wird zugeben müssen, nicht sicher zu sein, ob man das weisheitsvolle Dasein, das sich in jedem Bienenvolk scheinbar ohne jede Mühe und Anstrengung offenbart, einmal begreifen wird.

Wir können uns eingestehen, dass die erstaunlichen und unbegreiflichen Phänomene des Daseins der Bienen doch nur blasse Spuren sein können gegenüber der hohen geistigen Wesenheit, die sich in den und durch die Bienen offenbart. Das Verhalten eines Bienenvolkes, sein Umgang mit den Substanzen, sein Einssein mit dem Jahreszyklus und noch vieles mehr sind allesamt bewundernswerte Phänomene.

Die göttliche Wesensnatur des Bienenvolkes ist damit aber nicht erfasst. Diese ist der sinnlichen Beobachtung unzugänglich. Das irdische Dasein des Bienenvolkes ist nur ein anfängliches Zeichen seiner göttlichen Natur. Dem Bienenvolk wird man nicht gerecht, wenn man ausschließlich die sinnlichen Phänomene gelten lässt. Nötig ist, dasjenige hineinzunehmen, mitzuempfinden und mitzudenken, was durch jedes Bienenvolk aus geistigen Wesenswelten wirksam ist. Dann erst werden die Phänomene und Zeichen seines sinnlichen Daseins transparent, man kann auch sagen, dann erst werden sie licht, wesenhaft und begreiflich.

Nur den sinnlichen Phänomenen des Bienenlebens nachzugehen, bedeutet, dem kosmischen Wesen des Bienenvolkes auszuweichen. Man schaut an seiner vollständigen Wesenheit vorbei. Nun ist es aber für die Wesenswelt entscheidend, wie der Mensch hinschaut, ob und wie er die Wesenswelt in seine Betrachtungen und in sein Tun mit hineinnimmt. Nur indem er der Wesenswelt Beachtung schenkt und ihr Wertschätzung verleiht, kann sie beginnen, sich ihm mitzuteilen. Sonst schweigt sie. Nur indem man der geistigen Welt und ihren Wesenheiten die Hälfte ihres Weges entgegenkommt, können sich wesenhafte Einsichten und Erkenntnisse einstellen. Sich diesbezüglich Grenzen aufzuerlegen, führt dazu, sich selbst zu beschränken. Denn man lässt Erfahrungen nicht zu, die zeigen, wie die Wesenheiten der geistigen Welten, auch die der Bienen, um unsere Gunst und Aufmerksamkeit werben.

Bienenstöcke am Goetheanum, Foto: Sofia Lismont

Das Bienenjahr

Der Jahreszyklus des Bienenvolkes zeichnet sich dadurch aus, dass das es fortwährend ganz bestimmte, wechselnde Lebensphasen durchschreitet. Dabei sind diese Phasen in eine höhere Ordnung eingefügt, der jedes Bienenvolk folgt. Einer dieser Zustände ist das Schwärmen. Ein Teil des Bienenvolkes löst sich aus dem Bienenstock und bildet eine die Luft erfüllende lebendige Wolke. Wer ein schwärmendes Bienenvolk beobachtet, der kann sich dem Zauber dieses Ereignisses kaum entziehen. Wir wohnen unzweifelhaft einem bedeutenden Geschehen bei. Wir wundern uns, was diesen Schwarm zusammenhält, denn offensichtlich fliegen die Bienen in alle Richtungen, bilden aber dennoch eine Einheit, die sie davor bewahrt, sich gänzlich zu verlieren.

Der übersinnlichen Beobachtung zeigt sich, dass der Schwarm, indem er aufsteigt, an die Schwelle zur geistigen Welt kommt. Er berührt die geistige Welt. Er kommt an jene Schwelle, die wir im Schlaf und im Tod überschreiten. Der Schwarm berührt diese Schwelle, ohne über sie hinauszugehen. Damit nähern sich die schwärmenden Bienen dem Moment unseres Daseins, in dem die Seele den physischen Leib verlässt.

Darüber hinaus lässt sich beobachten, dass von jedem schwärmenden Bienenvolk eine Wirkung in die Welt ausgeht, in der jene Menschen verweilen, die verstorben sind. Tatsächlich steigt durch die schwärmenden Bienen ein goldenes Leuchten in ihre Welt auf. Dieses Licht hat für sie die Bedeutung eines Wahrnehmungsorgans, durch das sie das verborgene Licht der inneren Erde wahrnehmen können. Unter den Verstorbenen sorgt das für die Gewissheit, unbedingt der Erde anzugehören und die Erde, das Erdendasein bis in die fernste Zukunft nicht zu verlieren. Insofern begegnet das schwärmende Bienenvolk dem Menschen, aber nicht dem irdischen Menschen, sondern einem Aspekt des übersinnlichen, des kosmischen Menschen.

Neben dem Schwärmen gibt es andere Phasen im Leben eines Bienenvolkes, die das Bienenvolk an die Schwelle zur geistigen Welt führen. Der Hochzeitsflug der Königin zählt dazu, ebenfalls die Drohnensammelplätze, bestimmte Orte in der Landschaft, an denen die Drohnen und die unbegatteten Königinnen zusammenfinden, um sich zu vereinen, und die Wintertraube, in der das Bienenvolk durch den Winter geht. In einem gewissen Sinn ist das Bienenvolk in solchen Zuständen außer sich. Es kommt über sich hinaus.

Indem man einen Schritt weitergeht, kann man in dem Schwarm, dem Hochzeitsflug, den Drohnensammelplätzen und der Wintertraube besondere Organe des Bienenvolkes sehen, die allerdings nur für eine gewisse Zeit Bestand haben. Sie markieren bedeutende Momente im Leben eines Bienenvolkes. Für den Schwarm ist dieses Organ, das mit der Welt der Verstorbenen zusammenhängt, bereits skizziert worden. Diese Organe treten zwar für eine gewisse Zeit in der sinnlichen Welt in Erscheinung, offenbaren ihren tieferen Sinn aber erst der einfühlenden Wahrnehmung. Sie stellen übersinnliche Organe des Bienenvolkes dar. Darin erweist sich die eigentliche Bedeutung dieser besonderen Momente und Lebensphasen des Bienenvolkes. Denn durch sie offenbart sich mit unübersehbarer Präsenz das übersinnliche Wesen des Bienenvolkes. Es sind Tore, durch die die höheren Aufgaben der Bienen geschaut werden können.

Der übersinnlichen Wahrnehmung lässt sich nun entnehmen, dass in diesen besagten Lebensphasen des Bienenvolkes ein Sehnen der Bienen nach dem Menschen offenbar wird. Es ist allerdings nicht ein Sehnen nach dem individuellen Menschen, sondern ein Sehnen und Hindrängen nach dem kosmischen Menschen, nach dem Menschenurbild. Diese weisheitserfüllten Tiere suchen das Urbild des Menschen, weil sie ihre Aufgaben nur zusammen mit ihm erfüllen können.

Im Herbst machen die Imker und Imkerinnen in unseren Breiten bei ihren Völkern eine besondere Erfahrung. Unter den Bienenvölkern vollzieht sich eine auffällige Wesensveränderung. Mit dem einsetzenden Herbst erfährt das Verhältnis, das die Imkerinnen und Imker in der warmen Jahreszeit zu ihren Völkern haben, eine deutliche Zäsur. Sie fühlen, wie die Nähe und Verbundenheit zu ihren Völkern, die in der warmen Jahreszeit selbstverständlich war, schwindet und schließlich beinahe abreißt. Die Bienenvölker verabschieden sich. Die Imkerinnen und Imker wissen, dass dieser Zustand den Winter über andauern wird. Erst das Frühjahr bringt ihnen die Bienen wieder zurück. Eines Tages im neuen Jahr machen sie die Entdeckung, dass sie wieder ganz da sind.

Wenn es kälter wird, zieht sich das Bienenvolk allmählich in den Stock zurück. Im fortgeschrittenen Herbst fliegen die Bienen kaum noch aus, die Anzahl der Bienen ist gegenüber dem Sommer stark reduziert, sie zehren nun für Monate vom eingelagerten Honig. Die Drohnen sind weitgehend verschwunden und die Königin hat längst damit aufgehört, Eier zu legen. Im Stock rücken die Bienen eng zusammen, sie bilden die sogenannte Wintertraube, um sich gegen die Kälte zu schützen. Im Winter bewegt sich das Bienenvolk, indem sich die Bienen vom Honig ernähren, langsam über die Waben. Es wird still um die Bienen, sehr still. Die Verminderung der Lebensvorgänge führt dazu, dass man sein Ohr dicht an den Bienenkasten legen muss, um ihr Summen noch hören zu können.

Insgesamt ist das ein bemerkenswertes Geschehen. Beginnt man mit der Seele in dieses Geschehen einzutauchen, wird man nicht umhinkommen, in der Wintertraube den geheimnisvollsten Zustand des Bienenvolkes zu sehen. Was erlebt das Bienenvolk dabei, wohin wendet sich sein Bewusstsein in dieser Zeit und worin besteht die übergeordnete Aufgabe der Wintertraube? Die Wintertraube ist der mystische Zustand des Bienenvolkes. Dafür spricht, dass die Imker und Imkerinnen in dieser Zeit leicht den Faden zu ihren Völkern verlieren. Sie müssen den Völkern regelrecht innerlich nachgehen, ihnen folgen, man kann auch sagen, ihnen nachsterben, wenn sie sie fühlen wollen. Ich habe von Menschen gehört, die sagen, dass sie im Winter zusammen mit ihren Bienen träumen.

Auch wenn sich das Bienenvolk im Winter zusammenzieht, gibt es seinen Zusammenhalt auf einer höheren Stufe doch auf. Es löst sich aus der irdischen Welt. Es wird von einem besonderen Leben ergriffen, durch das es sich dem irdischen entzieht. Was aber tritt an diese Stelle? Wohin verschwindet das Bienenvolk im Herbst, wohin geht es und woher taucht es im Frühjahr wieder auf?

In die Weisheit der Erde untertauchen

Die Wintertraube kann Anlass zu einer Meditation sein. Diese besteht darin, sich mit gesteigerter Aufmerksamkeit in die Wintertraube zu versetzen. Die Erfahrungen sind durchaus überraschend. Denn man wird einem lebendigen Organismus, einem Wesen begegnen. Dieses Wesen der Wintertraube steht in einer auffälligen Beziehung zum Zustand des Bienenvolks im Sommer. Die Wintertraube entpuppt sich als der Keim jener Lebensform, die das Volk in der warmen Jahreszeit annimmt. Die Wintertraube ist der verborgene Geistkeim des sommerlichen Lebens und Daseins des Bienenvolkes. Das Bienenvolk geht im Winter eine tiefe Verbindung mit jenen Kräften ein, aus denen seine gesamte Existenz geschöpft ist. Mit anderen Worten: Das Bienenvolk begegnet im Winter seinem Wesensurbild. Es findet auf einer höheren Ebene zu sich selbst.

Weiter ist es möglich, sich in der meditativen Versenkung dem Wesen der in der Wintertraube ruhenden Bienenkönigin zuzuwenden. Das Wesen der Bienenkönigin geht eine intensive Verbindung mit der Erde ein. Bildlich verschwindet es in die Erde. Es ist möglich, sich vom Wesen der Bienenkönigin auf ihrem Weg durch die winterliche Erde mitnehmen zu lassen. Das führt zu tief bewegenden Erfahrungen, von denen man nicht wissen kann, ob man sie einmal bis in ihre letzten Tiefen erschließen wird. Das Wesen der Bienenkönigin strebt zum Licht der inneren Erde und wird von ihm aufgenommen.

Erkenntnisse dieser Art führen dahin, von einem Winterweg der Bienenkönigin durch die geistigen Wesensschichten der Erde zu sprechen. Dieses sich alljährlich wiederholende Geschehen erweist sich als die Quelle, aus der die Bienenkönigin ihre Kräfte, im Grunde ihr Dasein schöpft. Das macht es ihr erst möglich, dem Bienenvolk in der Weise, wie sie es tut, zu dienen. Ihre königliche Würde, ihre Krone bekommt sie vom Licht und dem Sonnenreich der inneren Erde. Seine weisheitsvolle Ordnung und seine Heilkräfte verdankt das Bienenvolk unter anderem den Erfahrungen und Begegnungen, die das geistige Wesen ihrer Königin auf ihrem winterlichen Weg durch die Erde hat.

Das Bienenvolk befindet sich dadurch, dass es sich im Winter von der irdischen Welt zurückzieht und die Königin sich mit der Wesenwelt der inneren Erde vereint, in einem besonderen Zustand. Es hat den Zusammenhang zu den irdischen Lebenswelten beinahe verloren und ist stattdessen eins mit den kosmischen Wesenswelten der inneren Erde. Man kann auch sagen, dass das Bienenvolk zu keiner anderen Zeit dem Kosmos so hingegeben ist.

Lehren in Traumgestalten

Wir sahen, wie das Bienenvolk während des sommerlichen Schwärmens die Welt der Verstorbenen berührt. Während des Winters erhebt sich das geistige Wesen des Bienenvolkes weit darüber hinaus. Es vereinigt sich mit der geistigen Erde. Es berührt die geistige Welt nicht nur, sondern vereint sich mit ihr. Deshalb ragt der Zustand der Wintertraube über den des Schwärmens hinaus. Vornehmlich sind es die heiligen Nächte, die hier ins Gewicht fallen. In dieser Zeit bietet sich die Möglichkeit, als Lauschende dem Geheimnis der Bienen besonders nahe zu sein.

Stellvertretend für das Bienenvolk vereint sich das Königinnenwesen mit der hohen Erdenweisheit. Sie findet Aufnahme in dem Reich der Erdensophia, der inneren Weisheitskraft der Erde, wird dort genährt und mit den für ihr irdisches Amt nötigen Kräften versehen. Einsichten dieser Art sind Beweis dafür, dass wir noch als Lehrlinge vor die Bienen treten. Stammelnd nur lässt sich über den winterlichen Keimgrund des Bienenwesens sprechen. Worte und Begriffe versagen. Das soll uns aber nicht davon abhalten, dass wir uns dem Daseinsgrund der Bienen meditativ nähern, selbst angesichts der Erhabenheit des Bienenwesens.

In unseren Winterträumen schließen wir uns den Bienenvölkern an. Auf ihren winterlichen Reisen begegnet die Seele den Bienen und vereint sich mit der hohen Weisheit der Erde. Die Seele erfährt einen Daseinszustand, in dem sie eins wird mit den hohen Wesen der inneren Erde. Es lässt sich wahrnehmen, wie das hohe Wesen der Bienenkönigin zur träumenden Seele spricht. Ihr geistiges Urbild und das der menschlichen Seele finden zusammen. Regelrechte Unterweisungen nimmt die Seele entgegen. Diese Begegnungen sind ein zutiefst heilender und zukunftsträchtiger Wesenszug des Bienenvolkes. Die Menschenseele wird vom Bienenwesen empfangen und unterwiesen.


Titelbild Ohne Titel, Miriam Wahl, aus: Studien über das Wachen im Träumen, Aquarell auf Papier, 32 × 24 cm, 2020

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