Die esoterische Strömung des Manichäismus kennt Einweihungsstufen, die den anthroposophischen Stufen der Imagination, Inspiration und Intuition vergleichbar sind. Dass Steiner nur eine der drei geplanten Klassen der Hochschule für Geisteswissenschaft verwirklicht hat, ruft nach einer von Anthroposophie inspirierten zukünftigen Einweihung.
Der Manichäismus drang in zwei Wellen in Europa ein, getrennt durch ein Intervall von einigen Jahrhunderten. Die erste Welle breitete sich zwischen dem 3. und 7. Jahrhundert über die gesamte mediterrane Welt aus, vom Mittleren Osten und Kleinasien bis hin nach Nordafrika, Spanien, Südfrankreich und Italien. Die zweite Welle war die eines wiederbelebten Manichäismus, der hauptsächlich als Bogomilismus bekannt ist und eine historische Tatsache war, die in Bulgarien in der Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals bekannt wurde. Seine Anhänger wurden Bogomilen genannt, was in slawischer Sprache wörtlich ‹Gott lieb› bedeutet. In West- und Mitteleuropa waren sie unter den Namen Katharer, Albigenser, Waldenser und auch unter dem von Rudolf Steiner erwähnten Namen ‹Bulgaren› bekannt. (GA 237)
Dieser bogomilische Manichäismus war ein christlich-esoterischer Standpunkt, der sich zunächst im 10./11. Jahrhundert über einen Großteil des Byzantinischen Reiches nach Osten und im 12. und frühen 13. Jahrhundert vor allem in Südeuropa – vom Schwarzen Meer bis zum Atlantik – nach Westen ausbreitete, aber auch in Belgien (Flandern) und Teilen Süddeutschlands auftrat.
Einweihungsstufen
Nach historischen Daten bestand sowohl die östliche Bogomil- als auch die westliche Kathar-Mysterienschule aus drei Graden, von denen der höchste die Stufe der ‹Vollkommenen› (‹Perfecti›) war. Darunter standen die ‹Gläubigen› (‹Credentes›) und schließlich die ‹Hörer› (‹Auditoren›). Die ersten waren die Eingeweihten in den Mysterien, die als Priester fungierten. Die anderen waren die Jünger oder die Kandidaten für die Initiation, deren Akt der Aufnahme in die Reihe der ‹Gläubigen› vom byzantinischen Mönch und Theologen Euthymius Zigabenos¹ in seiner ‹Panoplia Dogmatica› festgehalten wurde: «Sie sagen, dass unsere Taufe mit Johannes zu tun hat, weil wir mit Wasser taufen, während ihre Taufe mit Christus zu tun hat, denn sie denken, dass sie mit dem Geist taufen. Aus diesem Grund taufen sie ihn, wenn jemand zu ihnen geht, erneut und nehmen sich zunächst Zeit für Beichte, Reinigung und eifriges Gebet. Dann lesen sie, indem sie ihm das Evangelium auf den Kopf stellen, ‹Am Anfang war es das Wort›, rufen den Heiligen Geist an und singen ‹Unser Vater›. Nach einer solchen Taufe geben sie Zeit für eine detailliertere Ausbildung, ein abstinenteres Leben und echtere Gebete, und sie verlangen den Beweis, dass er all dies beobachten konnte und dass er eifrig kämpfte.»
Es gibt jedoch Methoden, um das Denken so weit zu reinigen, dass wir nicht mehr persönlich denken, sondern die Gedanken in uns denken lassen.
Die ‹vollkommenen› Manichäer waren jene, die sich dem Initiationsritus unterworfen hatten, eine Art geistliche Taufe, auch ‹Auferlegung der Hände› und ‹Taufe des Heiligen Geistes› genannt. Sie wurde von mindestens zwei ‹Vollkommenen› durchgeführt. Als Ergebnis des Consolamentums wurde angenommen, dass sich der Heilige Geist im manichäischen Eingeweihten oder ‹Vollkommenen› niedergelassen hat. Dies erinnert an den Parakleten, den Heiligen Geist, der von Christus verheißen und in Manes, dem Gründer des Manichäismus, erfüllt wurde.
Das Denken reinigen
Keiner der alten Autoren oder modernen Gelehrten kann jedoch erklären, was genau die Abschlüsse ‹vollkommen›, ‹gläubig› und ‹hörend› bedeuten. Einige Hinweise gab Rudolf Steiner.
«Aber es gibt Methoden, das Denken so weit zu läutern, dass wir nicht mehr persönlich denken, sondern die Gedanken in uns denken lassen, so wie wir die mathematischen Gedanken in uns denken lassen. Wenn wir also die Gedanken gereinigt haben von den Einflüssen der Persönlichkeit, dann sprechen wir von der Läuterung oder Katharsis, wie dies in den alten Eleusinischen Mysterien genannt wurde. Es muss also der Mensch dahin kommen, das Denken zu läutern, das ihm dann die Möglichkeit gibt, die Dinge gedanklich objektiv zu erfassen. So, wie das möglich ist, ist es nun auch möglich, aus dem Gefühl alles Persönliche auszuschalten, sodass dann auch dasjenige, was von den Dingen das Gefühl anregt, nicht mehr zur Persönlichkeit spricht, nichts mehr zu tun hat mit Person, Sympathie und Antipathie, sondern einzig und allein das Wesen des Dinges aufruft, insofern es nicht zum bloßen Vorstellungsvermögen sprechen kann.
Erlebnisse in unserer Seele, die in unserem Gefühlsleben wurzeln oder urständen, und die dadurch zu innerer Erkenntnis führen, dass sie tiefer in das Wesen eines Dinges hineinführen, die aber auch noch zu anderen Seiten der Seele als zum bloßen Intellektualismus sprechen, können ebenso vom Persönlichen gereinigt werden wie das Denken, sodass das Gefühl dann eben solche Objektivität vermittelt, wie sie das Denken oder das Vorstellungsvermögen vermitteln kann. Diese Reinigung oder Entwicklung des Gefühls nennt man in aller esoterischen Erkenntnislehre die Erleuchtung.
Jeder Mensch, der entwicklungsfähig ist und nicht in beliebiger Weise, wie es in den Intentionen der Persönlichkeit liegt, seine Entwicklung anstrebt, muss sich dahin bemühen, dass er sich nur durch das, was im Wesen des Dinges liegt, anregen lässt. Wenn er dahin gekommen ist, dass das Ding in ihm persönlich keine Sympathie oder Antipathie erweckt, dass er lediglich das Wesen der Dinge sprechen lässt, sodass er sagt: Was ich auch für Sympathien oder Antipathien habe, ist gleichgültig und darf nicht in Betracht kommen –, dann liegt es im Wesen des Dinges, dass das Denken und Handeln des Menschen diese oder jene Richtung annimmt, dann ist das eine Aussage des innersten Wesens des Dinges. In der esoterischen Erkenntnislehre hat man diese Entwicklung des Willens die Vollendung genannt.
Dann erreicht er eine Ebene, wo das Wesen der Dinge und das, was man nicht beschreiben kann, erreichbar werden.
Was der Mensch durch die Läuterung der Vorstellung erlangt, führt ihn dazu, das Geistige hinter allem zu erkennen. Das Sinnliche wird ein Gleichnis für das Geistige. Er dringt tiefer ein, um das noch zu erfassen, was für die Vorstellung unzugänglich ist. Er erreicht dann eine Stufe, auf der er die Dinge nicht mehr durch die Vorstellung betrachtet, sondern in die Sache selbst hineingewiesen wird, da, wo das Wesen der Dinge und das, was man nicht beschreiben kann, erreichbar wird. Und das, was man nicht beschreiben kann, was man […] in anderer Weise vorstellen muss, das, wobei man zu den Geheimnissen des Willens vorschreiten muss, bezeichnet er eben als das ‹Unbeschreibliche›. Wenn der Mensch den dreifachen Weg durch die Vorstellung, das Gefühl und den Willen gemacht hat, dann vereinigt er sich mit dem, was im Chorus mysticus das ‹Ewig-Weibliche› genannt wird, das, was als menschliche Seele durchgemacht hat seine Entwicklung, das, was als die schöne Lilie dargestellt wird.» (2)
Drei Klassen geistiger Entwicklung
Der Grad der ‹Vollkommenheit› war derjenige der Eingeweihten in den manichäischen Mysterienschulen. Er hat immer auch in den Mysterienschulen der Antike existiert und bezieht sich auf die ultimative, abgeschlossene oder ‹perfekte› Phase ihrer Entwicklung. Es bedeutet die Vervollkommnung oder Vollendung des Reinigungsprozesses des menschlichen Willens, der ihn in das beste Instrument zum Erwerb von übersinnlichem Wissen verwandelte. Man könnte es ‹Denken im Willen oder in den Gliedmaßen› nennen, ebenso wie das ‹Denken des Herzens›, von dem Rudolf Steiner oft sprach.
In der modernen Mysterienentwicklung, die die Anthroposophie sein soll, entspricht die ‹Kathar›-Stufe der Stufe der Imagination. Sie wird von Rudolf Steiner in seinem Buch ‹Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten› zusammen mit der Inspiration und der Intuition beschrieben, die in gewisser Weise den manichäischen Stufen ‹Glaube› und ‹Perfektion› entsprechen. Auf der Ebene der Inspiration sollte man die Klänge geistiger Wesen hören, nachdem man sie durch die Vorstellungskraft hindurch gesehen hat. Schließlich kommt die vollständige Vereinigung mit ihnen durch Intuition, die die Stufe der manichäischen ‹Vollkommenheit› ist oder das, was Goethe das ‹Unbeschreibliche› nannte.
Neben der allgemeinen anthroposophischen Entwicklung, die für alle Menschen bestimmt ist und nicht die Anwesenheit eines Lehrers erfordert, gründete Rudolf Steiner am Ende seines Lebens die Hochschule für Geisteswissenschaft der Anthroposophischen Gesellschaft als Weiterentwicklung seiner früheren Esoterikschule. Obwohl Steiner beabsichtigte, drei Klassen dieser Schule zu entwickeln, wurde nur die erste zu seinen Lebzeiten entwickelt und geht bis heute weiter. Sie könnte mit dem Stadium der Vorstellungskraft oder des ‹Katharismus› in Verbindung gebracht werden. Dementsprechend sollten die beiden anderen Klassen zu Inspiration und Intuition oder, nach manichäischer Terminologie, zu den Stufen des ‹Gläubigen› und des ‹Vollkommenen› geführt haben. Sie sind eine Aufgabe, die in Zukunft noch zu erfüllen ist!
(1) Euthymios Zigabenos war Mönch und Hoftheologe unter der Herrschaft des byzantinischen Kaisers Alexios (1048–1118). Er schrieb ‹Panoplia Dogmatica› oder ‹Full Armour of Belief›.
(2) Rudolf Steiner, Wo und wie findet man den Geist, GA 57, Dornach 1985, Vortrag: Goethes geheime Offenbarung, 24.10.1908, S. 61 ff