Die verdeckte Sonne

Mit der Coronapandemie ist die Welt anders geworden. Verstehen und Sprache laufen diesem neuen Wandel hinterher und fassen ihn mit Mitteln, die vielleicht mehr verdecken als offenbaren. Die Kunst vermag dort und darüber zu sprechen, wo die vertrauten Begriffe noch nicht hinreichen. Also sollte die Coronazeit eine Zeit der Kunst werden.


Am 18. März, dem ersten Tag des Lockdowns, wollte ich in einem Gartencenter Blumen kaufen. Die Blumen wurden jedoch just in diesem Moment mit einem Bastband abgeteilt und den umstehenden Kunden eröffnet, dass ab sofort nur noch ‹lebenswichtige Waren› verkauft werden dürften. Da standen nun die großen Mengen von Tulpen, Narzissen, Stiefmütterchen und andere Schönheiten und hatten plötzlich keine Bestimmung mehr. Sie landeten wohl auf dem Komposthaufen. Wie wird es den Kulturschaffenden, Künstlerinnen und Schauspielern, Musikerinnen und anderen Geisteswissenschaftlern ergehen? Die Grenzen geschlossen, das Goetheanum geschlossen, keine Kolloquien, keine Tagungen mehr möglich … Mit einem Schlag wurde mir die Macht und Abstraktheit einer am Bürotisch entstandenen Verordnung bewusst – und die Frage: Was ‹lebensnotwendig› ist, blieb bestehen. Ja, was ist für den Menschen lebensnotwendig?

Das ‹nackte› Leben

Wenn es, wie in der Coronakrise durch den Staat veranlasst, zuallererst um das ‹nackte Leben› geht, dann ist der Kultur, der Literatur, der Musik, dem Theater, der Eurythmie, überhaupt der gesamten Kunst, und der Wissenschaft, die nicht Naturwissenschaft ist, jeglicher Boden entzogen. Lebensbereiche, die nicht dem bloßen körperlichen Überleben dienen, wurden in der Krise als nicht ‹systemrelevant› betrachtet und folglich die Räume und Orte, an denen sie ausgeübt wurden, allesamt geschlossen. Dies geschah, ohne mit den Betroffenen vorher in einen Beratungsprozess zu gehen oder sie einzuladen, mit den Mitteln ihrer Zunft über die Lage und ihre mögliche Bewältigung nachzudenken. Dazu war keine Zeit vorhanden, denn die medial vermittelten Schreckensnachrichten und Bilder hatten das ihre getan und zu Maßnahmen geführt, deren Folgen in ihrer Tragweite und Sinnhaftigkeit über die rein medizinisch gebotenen Notwendigkeiten hinaus wohl nicht bedacht wurden. Ob nun, nur um ein Beispiel zu nennen, die Ansteckungsgefahr im Buchladen höher ist als im Supermarkt, sei dahingestellt. Alle Maßnahmen wurden mit der Begründung getroffen, einer Überforderung des Gesundheitssystems vorbeugen zu wollen, und das macht sie in ihrer Berechtigung und Dringlichkeit nahezu nicht kritisierbar. Natürlich darf und will sich niemand gegen das Leben oder für den Kollaps des Gesundheitssystems aussprechen.

Core No. P-b 289, Heikedine Günther, Öl auf Vlies, 130 x 110 cm, 2017
Core No. P-b 289, Heikedine Günther, Öl auf Vlies, 130 x 110 cm, 2017

Krise der Wissenschaft

Eine realitätsgesättigte Erkenntnis dessen, was das ‹neuartige› oder ‹neue› Virus tatsächlich ist und wie man es bewältigt, steht in Gegensatz zu den durch alle Staaten umgesetzten, tiefgreifenden Maßnahmen. Die Medien vermitteln beinahe täglich neue Erkenntnisse der Wissenschaft, die aufgrund des Zeitdrucks noch keine weitere Validierung innerhalb der wissenschaftlichen Forschungsgemeinschaft erfahren konnten. So bestimmen noch nicht gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse, die dennoch als Tatsachen gehandelt werden, das tägliche Leben. Diese sogenannten ‹Erkenntnisse› bzw. ‹Fakten› haben zudem eine sehr kurze Halbwertszeit oder variieren in unterschiedlichen Interpretationsansätzen. Einander widersprechende Informationen zu Mortalität, Krankheitsverlauf, Ansteckungsrisiko, Übertragbarkeit der Viren und den notwendigen sowie teilweise sinnlosen Verhaltensmaßregeln führen durch ihre Widersprüchlichkeit, Indifferenz und Unverbindlichkeit zu einem gravierenden Wirklichkeitsverlust. Andreas Laudert schreibt: «Die Spekulation oder Hochrechnung, das Argumentieren in einer Grauzone ist hier […] die vorherrschende Methode. Immer wieder wird betont, dass das alles Neuland sei für Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, eben für die ganze Gesellschaft.» (1) Die Zuversicht in die Glaubwürdigkeit von Wissenschaft und damit in eine Erkennbarkeit der Wirklichkeit wird so gelähmt, führt zu einer wachsenden Gleichgültigkeit sowie in einen Vertrauensverlust gegenüber der Medizin und letztendlich den Regierungsverantwortlichen. Erschreckend ist die Unduldsamkeit und Radikalität, mit der Ergebnisse anderer Forscher und Drittmeinungen diffamiert und diskreditiert werden, so als wäre ein kritischer wissenschaftlicher Diskurs obsolet. Die Krise der Gesundheit ist zugleich eine Krise des Erkennens und damit der Wissenschaft an sich. Das allerdings wird unterschlagen, indem bestimmte Perspektiven als unumstrittene Autorität begriffen werden, diese selbst Deutungshoheit beanspruchen, welche sie mithilfe der Staatsmacht effizient umsetzen. Hier bedürfte es allerdings einer breiten wissenschaftstheoretischen, ethischen, soziologischen und medienkritischen Auseinandersetzung, die zu unabhängigen und von keinen Wirtschaftsinteressen geleiteten Ergebnissen kommt. (2)

Core No.295, Heikedine Günther, Öl auf Leinwand, 140 x 110 cm, 2020.

Wirklichkeit und die Gefahr der Verdinglichung

Während einer Sonnenfinsternis verdeckt der Mond mit seinem undurchdringlichen Schwarz die sonst gleißend helle Scheibe der Sonne. An seinen Rändern bilden sich sprühende Lichtfäden in vielen Farben, die wie tastende Fühler um die Schwärze herum beinahe suchend in den Weltraum hinausgreifen. Immer wieder kommt mir dieses Bild in den Sinn, wenn ich über die gegenwärtige Lage nachdenke. Das Licht der Erkenntnis, das Sonnenzentrum ist verdeckt, stattdessen finden wir uns tastend im Nebel und suchen nach der Wirklichkeit. Hilde Domin schrieb in einem Essay Mitte der 1970er-Jahre: «So tückisch wie die Wirklichkeit, die wir erfahren, war Wirklichkeit wohl nie zuvor. Sie droht, die Wechselwirkung zwischen uns und ihr zu zerstören, uns auszulöschen, auf die eine oder andere Weise. Die subtilere Gefahr scheint fast die unheimlichere: Es gibt sie und es gibt sie nicht: Jeder spricht von ihr. Keiner bezieht sie auf sich. Als sei sie ein Schnupfen, den die andern bekommen, und man selbst sei immun. Die Gefahr heißt ‹Verdinglichung›, Metamorphose ins Ding, in etwas Manipulierbares: Verlust unserer selbst.» (3) Die Beobachtungen Domins sind heute noch höchst relevant, denn diese Art von Selbstverlust und die Tendenz zur Verdinglichung haben durch die entwickelten Möglichkeiten, Leben zu verlängern und zu erhalten, eine weitere Steigerung erfahren. Mit der Fokussierung auf den Lebenserhalt, dessen Kehrseite die Angst vor dem Tod ist, verstärkt sich die Tendenz, den Menschen vor allem als ein nur körperliches Wesen zu sehen und daher auch nur auf diesem eng umgrenzten Feld zu handeln. Die seelischen und geistigen Bedürfnisse der Menschen werden hier ausgeblendet, was man an der Schließung aller Kulturinstitutionen, Universitäten und Bildungseinrichtungen mitsamt den Kirchen sehen kann.

Mit der Fokussierung auf den Lebenserhalt, dessen Kehrseite die Angst vor dem Tod ist, verstärkt sich die Tendenz, den Menschen vor allem als ein nur körperliches Wesen zu sehen und daher auch nur auf diesem eng umgrenzten Feld zu handeln.

Die hervorragende Eigenschaft der Kunst ist, dass sie im weitesten Sinne individueller Ausdruck ist. Der Kunstgenießende erfährt in der Begegnung mit dem Kunstwerk idealiter eine Selbstbegegnung – mit Martin Buber kann man hier im erweiterten Sinne sagen: Er wird am Du, am Gegenüber, zum Ich, erfährt in der Begegnung mit dem Kunstwerk eine Berührung seines Individuum-Seins. Hilde Domin formuliert diese Möglichkeit der Selbstbegegnung am Beispiel der Lyrik, sie gilt jedoch für alle gute Kunst: «Lyrik lädt uns ein zu der einfachsten und schwierigsten aller Begegnungen, der Begegnung mit sich selbst […] die Selbstbegegnung des Lyrikers [ist] zugleich einmalig und Modell von Begegnung überhaupt: mit den andern, mit der Wirklichkeit. Unwiederbringlicher Augenblick, Zeit außer der Zeit. Im Gedicht ist er eingefroren, auftaubar. Wirklicher als die Wirklichkeit: ihr jeweils neu und anders realisierbarer Potentialis.» (4) Das Gedicht, dass im Innern des Lesers als Erlebnis gleichsam aufersteht, ermöglicht diese Selbstbegegnung. Was dem Menschen entzogen werden kann, die Wirklichkeit, kann das Kunstwerk ermöglichen.

Wie die Sprache das Denken und das Denken die Sprache formt

Der Verlust der Wirklichkeit geht nicht nur in der Lyrik einher mit einem Verlust oder der Umdeutung von Sprache. Er betrifft das Leben des Menschen im umfassenden Sinne. Eine besondere Vorliebe von Diktatoren war es seit Urzeiten, die Sprache als Mittel der Manipulation und der Machtergreifung zu verwenden. Denn wer die Sprache beherrscht, beherrscht bald auch das Denken der Menschen. Als Beispiel sei hier eine 2000 Jahre alte chinesische Geschichte (5) skizziert. Der Sohn des ersten Kaisers von China, Quin Er Shi, regierte mithilfe seines Reichskanzlers Zhao Gao. Während einer Audienz ließ der Kanzler vor den versammelten Ministern einen Hirsch vorführen und erklärte auf den Hirsch weisend: «Eure Majestät, ein Pferd für Euch.» Wie seine Minister war der Kaiser höchst erstaunt und fragte den Kanzler, wie es denn zugehe, dass dem Pferd ein Geweih aus dem Schädel hervorwachse. Der Kanzler deutete auf die Minister und sagte: «Wenn Eure Majestät mir nicht glauben», und schaute in die Runde, «dann fragen Sie doch einfach ihre Minister». Einige der Anwesenden waren klug oder verängstigt genug, dem Kanzler zuzustimmen: «Eure Majestät, es ist wirklich ein Pferd.» Natürlich gab es auch die Trotzigen, die sagten, er habe einen Hirsch und kein Pferd vorgeführt. Diese ließ Gao später verhaften und hinrichten, aber auch diejenigen, die geschwiegen hatten. Seither war der Hirsch ein Pferd und bis heute gilt in China die Lektion, ‹den Hirsch zum Pferd machen›.

Core No. P-a 372, Heikedine Günther,   Öl auf Vlies, 89 x 169 cm, 2019
Core No. P-a 372, Heikedine Günther,Öl auf Vlies, 89 x 169 cm, 2019

Das mag ein extremes Beispiel sein, doch derzeit kann man erleben, wie in den Medien und in der Politik die Sprache verändert, neue Bedeutungen kreiert werden und die ‹Realität› entsprechend angepasst wird: So z. B. ‹social distancing› als Benennung für das richtige Verhalten. Es ist eine Wortkombination, die der gesunde Menschenverstand nicht wirklichkeitsgemäß denken kann, weil sie das Gegenteil dessen bedeutet, was das Wort ‹sozial› meint. Mit diesem Topos wird die oder der andere, dem man gerne als einem mitmenschlichen Wesen begegnen möchte, zum potenziellen Virenträger, zu einer Gefahr für Leib und Leben. Damit ist das Gegenteil einer menschlichen Begegnung vorgetäuscht und die Angst ins Zwischenmenschliche gesät. Wer darauf nicht von selbst aufmerksam wird und darüber nachdenkt, beginnt den anderen unbewusst zu fürchten. Der scheue und ängstliche Blick und ein krampfhaftes Abstandhalten mancher Menschen beim Spazierengehen dokumentieren die Wirkungen des ‹social distancing›. Daniele Muscionico, Kulturredakteurin der NZZ, schreibt: «Dinge, die uns als Gattung menschlich machen, sind verboten. Mitgefühl und Anteilnahme, die über leere Worte hinausgehen. Wir sollen auf Berührung verzichten, das Gesicht der alten Eltern nicht streicheln, nicht die Liebsten in die Arme nehmen, weil sie in einem anderen Land leben. Der Staat nämlich weiß: In der Berührung liegt der potenzielle Tod. Doch wir ahnen alle, dass dieser Verzicht zu einer Form von innerer Auslöschung führen kann.» (6)

Auch die ‹Solidarität› hat eine gegenläufige Konnotation erhalten: Freunde, Verwandte und sogar Angehörige sollen aus ‹Solidarität› nicht besucht werden. Auch hier eine Umdeutung dessen, was Solidarität bis zum 18. März 2020 bedeutete. Der Blick wird allein auf die Gefahr der Ansteckung gerichtet. Die Möglichkeit, inzwischen untersuchte Tatsache, dass die Wirkung dieser Maßnahme ebenso katastrophal oder noch schlimmer im psychosozialen Sinne ausfällt, wurde nicht mit einbezogen, weil die Gefahr der Ansteckung an oberster Stelle stand. Die Betroffenen dieser ‹Solidarität› wurden als ‹Risikogruppe› deklariert. Auch hier kann man das Phänomen der Verdinglichung gut studieren. Alle Menschen über 65 Jahre, gleichgültig, in welchem Gesundheitszustand sie sich befinden, leben angeblich mit erhöhtem Risiko. Sie werden, was bis anhin noch kaum salonfähig, weil unter Diskriminierungsverdacht stehend war, als Gruppe bezeichnet, die ein besonders hohes gesundheitliches Risiko trägt. Das Wort Risikogruppe impliziert neben dem Gefährdetsein auch das Diktat eines besonderen Schutzes – und so müssen die Betroffenen zu Hause bleiben. Der ‹Schutz› verkehrt hier ebenfalls seinen Sinn, er entwickelt sich zur Gefahr. Könnte es nicht so sein, dass gerade diese Menschen die Gefahr selbst beurteilen und ihr Leben dann in Eigenverantwortung gestalten, anstatt dass wir sie von Amts wegen zu Hause einsperren und anderen Krankheitsrisiken ausliefern wie Vereinsamung, Bewegungsmangel und Depression? (7)

«Wenn die Sprache nicht stimmt, so ist das, was gesagt wird, nicht das, was gemeint ist; ist das, was gesagt wird, nicht das, was gemeint ist, so kommen die Werke nicht zustande; kommen die Werke nicht zustande, so gedeihen Moral und Kunst nicht; gedeihen Moral und Kunst nicht, so trifft die Justiz nicht; trifft die Justiz nicht, so weiß das Volk nicht, wohin Hand und Fuß setzen. Also dulde man keine Willkür in den Worten. Das ist alles, worauf es ankommt.»

— Konfuzius

Ein nächster Begriff ‹Herdenimmunität› ist zwar schon länger in Verwendung. Er vermittelt implizit, dass wir Menschen Teil einer Tier-‹herde› seien, die Immunität entwickeln soll. In dieser Benennung steckt ein fatales Missverständnis, das unterschwellig weiterwirkt. Wo das Tier in ein Instinktprogramm eingespannt ist, das es selbst nicht verlassen kann, und dem Handeln des Menschen schutzlos ausgeliefert ist, bringt der Mensch sich mit einem solchen Selbstverständnis in genau die gegenüber den Tieren als fragwürdig praktizierte Haltung. Er liefert sich, seine besondere Verantwortung innerhalb der Schöpfung verlassend, unbewusst denjenigen aus, die ihn zu formen und zu bestimmen beginnen, nach ihren Zwecken.

Man kann die Liste fortsetzen. Was ich hier im grellen Licht meiner kritischen Betrachtung als Sprachveränderung schildere, ist möglicherweise nur ein Anfang, der, wenn man ihn nicht zum Stoppen bringt, bald um sich greift und unser Denken unterjocht. Herta Müller schreibt in ihrer Nobelpreisrede über diese Gefahr: «Der Wortklang weiß, dass er betrügen muss, weil die Gegenstände mit ihrem Material betrügen, die Gefühle mit ihren Gesten. An der Schnittstelle, wo der Betrug der Materialien und der Gesten zusammenkommen, nistet sich der Wortklang mit seiner erfundenen Wahrheit ein.» (8)

Wohin die Manipulation der Sprache und des Denkens führen kann, lässt sich an der chinesischen Propaganda zeigen. Gerade wenn jetzt immer wieder von den erfolgreichen Maßnahmen in China die Rede ist, lohnt sich ein Blick auf das, was die ‹erfolgreichen› Methoden implizieren. Kai Strittmatter, langjähriger SZ-Korrespondent in China, schreibt: «Der Autokrat, der seine eigene Wahrheit schaffen möchte, muss die Sprache erobern, das Wort. In China gibt es erst seit 2013 wirklich Smog, davor gab es Jahrzehnte lang vor allem ‹Nebel›. Es gibt auch keine Repression, es gibt vielmehr die ‹Sicherung der Stabilität› und die Vision der ‹harmonischen Gesellschaft›. Harmonie war im letzten Jahrzehnt eines der Lieblingswörter der Partei. Die Harmonie, die sie im Sinn hat, ist die Harmonie zwischen Befehl und Gehorsam. Harmonie ist, wenn das Volk Ruhe gibt […].» Die Falschmünzer hoffen nicht umsonst auf die Wirkung ihrer vergifteten Wörter. Das Denken lenkt die Sprache, ja, aber die Sprache lenkt, die Sprache korrumpiert auch das Denken. «Worte können sein wie winzige Arsendosen» (9), schrieb Viktor Klemperer. In seiner Studie ‹LTI – Notizbuch eines Philologen› (10) setzte er sich mit der Sprache des Dritten Reiches auseinander.

Kunst der Freiheit und der schöpferische Prozess

Beschränken wir uns nur auf den Erhalt des ‹nackten› Lebens, dann fehlen jene Freiräume, die es ermöglichen, denkerisch und auch emotional eine Warte einzunehmen, die unabhängig davon ist, eben frei. Es ist ein Blick, der sich zunächst nicht vor den Ergebnissen der an den Notwendigkeiten entlang denkenden und handelnden medizinischen Fachzunft rechtfertigen muss oder unter politischem Handlungszwang steht, sondern ein Blick, der aus der reinen Beobachtung des Lebens Fragen stellt und andere als die festgelegten Perspektiven denken darf – und, man könnte auch sagen, muss –, sofern man nicht die Autorität der Wissenschaft an die Stelle des freien Menschen setzen will. Hilde Domin skizziert in ihren Ausführungen diese besondere Warte der Kunst eindrücklich und genau: «Der Lyriker bietet uns die Pause, in der Zeit stillsteht. Das heißt, alle Künste bieten diese Pause an. Ohne dieses Innehalten, für ein ‹Tun› anderer Art, ohne die Pause, in der Zeit stillsteht, kann Kunst nicht angenommen werden, noch verstanden, noch zu eigen gemacht. Darin ist die Kunst der Liebe verwandt: Beide ändern das Zeitgefühl. Gleiches, aber noch nicht das Gleiche bieten uns die verschiedenen Künste an auf dieser Insel ihrer eigenen Zeit – einer Insel, von der immer wieder gesprochen wird und die es schon bei Mallarmé und bei Hofmannsthal gibt, die Insel, die auftaucht mitten im Mahlstrom der Geschäftigkeit und die nur während einiger Augenblicke existiert, während einiger Atemzüge.» (11)

Series Platonic Bodies, Core No. 388 to 397, Heikedine Günther, Öl auf Leinwand, 45 x 45 cm, 2020
Series Platonic Bodies, Core No. 388 to 397, Heikedine Günther, Öl auf Leinwand, 45 x 45 cm, 2020

Was in der Pause, im schöpferischen Augenblick entstehen wird, weiß der Künstler, die Künstlerin nicht im Voraus. Im Schaffen sind wir einem Ungewissen ausgesetzt. Alle Berechenbarkeit, Vorhersagbarkeit, Wiederholbarkeit, Planbarkeit, die wir aus der wissenschaftlichen Erkenntnis und ihrer Verfahrensweisen kennen, haben im künstlerischen Prozess keine Bedeutung. Es geht darum, in die Begegnung mit einem nicht bekannten Gegenüber zu kommen, dessen Wesen ich möglicherweise ahne, dessen Erscheinungsweise mir aber dennoch unbekannt ist. Wie oft steht die Künstlerin oder der Künstler vor der Leinwand mit dem bangen Gefühl: Vielleicht war das Bild, das ich gemalt habe, mein letztes Bild. Über das, was aus dem Raum des Unverfügbaren, des Ungewissen erscheinen wird, haben wir keinerlei Gewalt oder Macht. Es ist gleichsam ein wissendes Nichtwissen, eine absichtslose Suche, die im sinnlich Erscheinenden durch den Künstler Bestätigung oder Verwerfen erfährt.

In diesem Prozess ist es das Ich, das in der Begegnung mit dem nicht bekannten Gegenüber diesem zur Geburt verhilft. Dies geschieht im Bewusstsein, auf eine noch unbekannte Ganzheit hinzuarbeiten. Im Realisierungsprozess besteht die Gefahr, sich in ein Detail zu verlieben und darüber das Ganze zu vergessen. Dann gerät die Arbeit aus dem Gleichgewicht und oftmals kann der stimmige Abschluss nur erreicht werden, wenn gerade dieses so geliebte Detail aufgegeben wird. Ich schildere diesen Prozess hier so ausführlich, weil er für mich paradigmatisch im Hinblick auf das künstlerische Schaffen und das künstlerische Weltverhältnis schlechthin ist. Ausgangspunkt dieses Verhältnisses ist das Stehen vor einem Ungewissen, über das wir keine Macht haben. Am Anfang steht also eine Wahrnehmung, keine Vorstellung oder ein Ergebnis, was wir erzielen wollen, wenngleich jeder, der ein Werk beginnt, auf seine Vollendung hofft. Der Umgang mit dem Ungewissen setzt voraus, dass ich bereit bin, auf das mir begegnende Wesen, das ich noch nicht kenne, so einzugehen, dass ich es den in ihm liegenden Gesetzmäßigkeiten entsprechend in eine adäquate Verkörperung führe. All mein Können, meine Intuitionen stellen sich selbstlos dem Kunstwerk, das kommen will, zur Verfügung.

Kunst und der Umgang mit dem Ungewissen

Herbert Marcuse formulierte einmal in einem ganz anderen Zusammenhang, welche Aufgabe gerade der Kunst und den Künstlern zukommt: «Das Ende der Kunst wäre ein Weltzustand, wo Menschen nicht mehr unterscheiden können zwischen dem, was ist, und dem, was möglich wäre: in anderen Worten, die vollendete Barbarei.» (12)

Es ist also die Kunst, von der wir lernen können, wie wir mit dem Ungreifbaren, das uns in der Krise so existenziell trifft, umgehen können. Den Künstler könnte man daher einen Experten im Umgang mit dem Ungewissen nennen.

Die Bewältigungsversuche der Krise zeigen ein stark reduktionistisches Vorgehen. Das Virus und die Ansteckungsgefahr stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit. Der Kampf gegen es steigert sich gar zu einer Kriegserklärung. Die Verengung auf diesen zentralen Aspekt gleicht einem Starren auf den schwarzen Schatten der Mondscheibe, der die Sonne verdeckt. Das Phänomen, oder man könnte auch sagen, das Rätsel, das uns das Erscheinen des Virus als einer umfassenden Ganzheit, die man in ihrer Komplexität mit dem ganzen Farbenspektrum vergleichen könnte, aufgibt, kann so nicht entschlüsselt werden. Daher möchte ich die Frage aufwerfen, ob hier nicht gerade die Verfahrensweisen des künstlerischen Prozesses hilfreich wären, um mit dem Ungewissen umgehen zu lernen. Das Virus selbst ist ja kein rein materielles Phänomen, es verwandelt sich fortwährend. Was die Erkenntnisformen anbetrifft, wäre also auch eine Erkenntnisweise vonnöten, die in der Lage ist, das Lebendige zu erfassen.

Nimm
Nimm meine Worte
die von der Erde sind

Ich hab sie
aus dem goldenen
Kranz der Sonne
geholt
ins Bewusstsein

Sie sind mutig
und wollen
leben.

— Rose Ausländer (13)

Wenn Johann Wolfgang von Goethe in seinem Werk ‹Zahme Xenien› schreibt: «Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, hat auch Religion; wer jene beiden nicht besitzt, der habe Religion», so ist die Zusammenführung von Kunst und Wissenschaft hier nicht ohne Bedeutung. Das Umfassende der Wirklichkeit ist größer, als dass es allein mit einer reduktionistischen Wissenschaftsmethodik erfasst werden könnte. Im Sinne des oben Dargestellten kann das Motiv weiterführend verständlich werden, warum Rudolf Steiner die Medizin zu einer Heilkunst, die Erziehung zu einer Erziehungskunst, das Soziale zu einer Sozialkunst etc. weiterentwickeln wollte.

Die Chance ist, dass man am Mangel erkennt, was die Kraft und Notwendigkeit der Kunst und Kultur beinhalten. Dass wir sehen, wie zentral es ist, Menschen direkt zu begegnen, um mit ihnen in einem Atem- und Sprachraum Intuitionen zu bilden und zu teilen und damit Freiräume zu schaffen. Das Gespräch mit dem Ungreifbaren macht uns auf die größere Einheit, auf das große Ganze, den Kosmos aufmerksam. Schweigend schaut uns die wechselnde Szenerie des Firmaments in unserem Ringen zu, funkeln die Sterne aus unendlicher Weite hinab. Im Gespräch mit dem Unsichtbaren, mit dem Kosmos sein – das ist Kunst.


Der Text ist Anfang April 2020 entstanden und Teil der Publikation: Ueli Hurter, Justus Wittich (Hg.), Perspektiven und Initiativen zur Coronazeit. Dornach, Juni 2020.

(1) Andreas Laudert, Das Unsichtbare und das Denkbare. Das Goetheanum 14/2020.
(2) Siehe Peter Selg, Eine medikalisierte Gesellschaft? Siehe: Ueli Hurter, Justus Wittich (Hg.), Perspektiven und Initiativen zur Coronazeit. Dornach, Juni 2020.
(3) Hilde Domin, Wozu Lyrik heute? Dichtung und Leser in der gesteuerten Gesellschaft. Frankfurt 1981, S. 12.
(4) Ebenda, S. 14.
(5) Nach Kai Strittmatter, Die Neuerfindung der Diktatur. München 2018.
(6) Daniele Muscionico, Die Macht der Berührung. Ich berühre, also bin ich. NZZ, 11. Mai 2020.
(7) Siehe auch Peter Selg, Eine medikalisierte Gesellschaft? A. a. O.
(8) Herta Müller: Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis. Vorlesung zur Nobelpreisverleihung, 7.12.2009.
(9) Kai Strittmatter, a. a. O., S. 24 f.
(10) Viktor Klemperer, LTI – Notizbuch eines Philologen. Leipzig 2018.
(11) Hilde Domin, a. a. O., S. 14.
(12) Herbert Marcuse, zitiert nach Hilde Domin, a. a. O., S. III.
(13) Rose Ausländer, Werke. Schweigen auf deinen Lippen. Gedichte aus dem Nachlass, Bd. 14, Hg. H. Braun, 4. Auflage, Frankfurt 2015, S. 168.

Print Friendly, PDF & Email

Letzte Kommentare