Die Stadt der tausendundeinen Kathedrale

Alan Hovhaness schuf seine Symphonien aus verschiedensten Einflüssen. Es ist ein musikalischer Transkulturalismus, in dem eine Zukunft des Miteinanders tönt.


Bewohner und Bewohnerinnen der alten Welt wähnen sich oft im Glauben, gute Musik käme nur aus dem alten Europa und von hier gehe alles aus, was Rang und Namen hat. Das trifft bei der populären Musik schon mal gar nicht zu. Und bei der komponierten symphonischen Musik bleibt der Fokus eng, allerhöchstens mal eine Symphonie von Charles Ives (1874–1954) als Kuriosum, typisch amerikanisch, nicht zu veranschlagen im Gesamt der ernstzunehmenden Symphonik. Dass es vor Arvo Pärt (Este), Henryk Gorecki (Pole), Giya Kancheli (Georgier) und Einojuhani Rautavaara (Finne) in der neuen Welt bereits viel früher Musik gab, die ähnlich mutig sich frei von Zwängen europäischer Nachkriegsmoderne zu artikulieren vermochte, erscheint dem europäischen Publikum symphonischer Konzerte als erstaunliche Tatsache. Denn es kommt so gut wie gar nichts davon in den konventionellen Spielplänen vor. Dass es eine Symphonik gibt, die den Verhältnissen des nordamerikanischen Kontinents entspricht, die der dortigen Weite und Vielfalt sich öffnet, sprengt wohl den Horizont einer europäischen Konzerthalle und findet dort kaum Einlass. Vielleicht mal eine Symphonie von Leonard Bernstein oder Aaron Copland. Doch wer sind William Schuman, Samuel Barber, Roy Harris, Roger Session? Welche Musik verbirgt sich hinter Namen wie Henry Cowell oder Elliott Carter? Und wer ist denn nun dieser Alan Hovhaness, jener unermüdliche Vielschreiber, dieser grenzenlos – wie der nordamerikanische Kontinent es in seiner Gigantik evoziert – dahinkomponierende Barde mit armenischen Wurzeln? Auf den Spuren symphonischer Großmeister des 20./21. Jahrhunderts stieß ich auf Alan Hovhaness und musste mir zunächst an die eigene Nase greifen, so jemanden ignoriert zu haben. «Der hat zu viel komponiert, da weiß man nicht, wo beginnen, da verliert man sich.» In der Tat liegen über 500 Werke vor.

Alan Vaness Chakmakjian wurde am 8. März 1911 in Somerville, Massachusetts an der Ostküste Nordamerikas als Kind einer schottischstämmigen Mutter, Madeleine Scott, und eines armenischstämmigen Vaters, Haroutioun Hovanes Chakmakjian, geboren. Ab 1931 verwendet er den Zunamen Hovaness und ab 1940 offiziell als Nachnamen Hovhaness. Seit dieser Zeit befasst er sich intensiv mit armenischer Kultur und Musik. Er wirkte u. a. als Organist an der St. James Armenian Apostolic Church in Watertown (Massachusetts) und begegnet auch dort armenischer Musik und Kultur. Schon in seinem Elternhaus kam er mit Komitas Vardapet (1869–1935) in Berührung, dem Retter armenischer Musik. Diesem ist zu verdanken, dass während des Genozids am armenischen Volk durch die Osmanen (ab 1915) die Kontinuität armenischer Musikpflege in der Diaspora über den ganzen Globus verteilt erfolgen konnte. «Als ich aufwuchs, hatte mein Vater diese wunderbare Schallplatte mit Chormusik des armenischen Komponisten Komitas. Für mich ist er der ursprüngliche Minimalist, durch ihn wuchs in mir die Idee, möglichst viel mit möglichst wenigen Noten auszudrücken.»

Transkulturalismus

Unter den zahlreichen Symphonien von Alan Hovhaness trägt die Nr. 23, op. 249 (1972) den Titel ‹Ani›, die Stadt von tausendundeiner Kathedrale, die im Mittelalter zerstörte Hauptstadt des einstigen armenischen Großreiches. Sie ist für symphonisches Blasorchester komponiert und repräsentiert in hervorragender Weise die Musiksprache von Alan Hovhaness. Oft werden Berge zu Titelgeberinnen für Symphonien von ihm, etwa ‹Mount Saint Helens› für die Symphonie Nr. 50, op. 360 (1982), eines Berges, dessen Vulkanismus 1980 wieder aktiv in Erscheinung trat. Die Symphonie Nr. 60, op. 396 (1985) ist mit ‹To the Appalachian Mountains› überschrieben. Die Symphonie Nr. 14, op. 194 (1960) mit ‹Ararat›, dem Landeplatz der Arche Noah, dem heiligen Berg Armeniens. Oder ‹Mysterious Mountains› für die Symphonie Nr. 2, op. 132 (1955). Es lässt sich bei vielen Werken von Alan Hovhaness Verbindung zu archaisch-mythischen Bildern aufnehmen. Die daraus erwachsende Musik ist nahbar, zugänglich, in geheimnisvoller Weise vertraut erscheinend und doch unverwechselbar originell. Die Komposition ‹Khrimian Hairig› op. 49 (1944/48) dauert ca. acht Minuten, übermittelt die genannte Grundstimmung und lässt einen emotional in diese mythischen Sphären ein.

Die Musik von Alan Hovhaness lebt von ihrer Offenheit für unterschiedliche musikalische Ausdrucksformen im Sinne eines Transkulturalismus. So sind neben seinen armenischen Wurzeln signifikante Einflüsse aus Indien, Japan, Korea, Hawaii und anderen Ländern wirksam. Die erwähnten Kulturen hat er alle durch Reisen und Studien vor Ort in sich aufgenommen und vertieft. Durch Aneignung und Verwandlung wurden Elemente in die eigene Tonsprache aufgenommen, eigenständig formuliert und zum Klingen gebracht. Am Beispiel von ‹Fantasy on Japanese Woodprints› op. 211 (1965) kann gezeigt werden, dass zwar die Stimmung japanischer Musik deutlich anwesend ist, aber die Musik nicht zitiert oder collagiert wird, sondern in eigenständiger Weise unter Einbezug japanischer Eigenarten zu einer individuellen Tonsprache durchstößt. Man kommt nicht um den Begriff eines Transkulturalismus herum, der sich hier in wunderbarer Weise selbst erklärt. Im Unterschied zu amalgamierten Elementen aus unterschiedlichen Kulturen, einer Art Polystilistik oder Multikulturalität, werden hier essenzielle Aspekte unterschiedlicher musikalischer Kulturen im Personalstil des Komponierenden zu einer eigenen musikalischen Individualität verbunden. Es ließe sich auch als musikalische Mischehe bezeichnen, wo die verschiedenartigen Elemente in organischer Verbindung etwas Neues, davor noch nicht Dagewesenes entstehen lassen. Transkulturalismus dieser Art hebt sich vom uniformen Einerlei, wie es sich als Klangtapete auf Flughäfen u. a. weltweit beobachten lässt, deutlich ab. «Die hohe Qualität dieser Musik, die Reinheit der Inspiration, zeigt sich in der außerordentlichen Schönheit ihres melodischen Gehalts, eines ursprünglichen Gehalts und nicht etwa zusammengetragener Folklore, wie auch in der vollkommenen Süße, die man förmlich mit dem Gaumen schmecken kann. Nichts in ihr ist vulgär, nichts trügerisch, albern, leicht oder von niederer Absicht. Sie entzückt das Ohr und erfreut den Verstand.» (Virgil Thomson)

Rezeption

Die Rezeption des Œuvres von Alan Hovhaness teilt sich von tief anerkennenden Stimmen wie obiger bis hin zu despektierlicher Ablehnung. So haben Leonard Bernstein und Aaron Copland während den Aufnahmen der 1. Symphonie (Exile-Symphony) von Hovhaness lautstark ihrem Überdruss an solcher «billigen Getto-Musik» Luft gemacht, was Hovhaness zum sofortigen Rückzug veranlasste. Zu den prominenten Fürsprechern und Unterstützerinnen von Alan Hovhaness gehörte die Grande Dame des Modern Dance Martha Graham (1894–1991) und der erfindungsreiche und produktive Avantgardemusiker John Cage (1912–1992). Die Verbreitung des Werkes von Alan Hovhaness auf dem amerikanischen Kontinent ist beachtlich. Hovhaness konzentrierte sich in seinem letzten Lebensdrittel vorwiegend auf den Nordwesten und ließ sich in Seattle nieder, wo er am 21. Juni 2000 verstarb. Seine Partnerin Hinako Fujihara Hovhaness (1932–2022) widmete sich intensiv der Verbreitung seines Werkes.

Wer sich auf das Werk von Alan Hovaness tiefer einlässt, kann auf wunderbare Qualitäten blicken, die in einer Zeit wie der gegenwärtigen Relevanz zeitigen. Die sich neuerdings radikal verhärtenden Fronten und Krusten, das neuerliche Aufflackern rüder antisemitischer und anderer rassistischen Haltungen und Verlautbarungen mahnt zu Wachsamkeit und Umsicht. Der bereits erwähnte Genozid am armenischen Volk wird nach wie vor erst von 33 Nationen anerkannt. Die Täternation bzw. deren Nachfolge ist nicht dabei. In der Regel werden diese Aspekte komplett ausgeblendet und als irrelevant taxiert. Während der schrittweisen Entdeckung des umfassenden Œuvres von Alan Hovhaness stoße ich immer wieder auf das Phänomen einer unmittelbaren Wirksamkeit von Musik. Seine Worte «Ich will keine Musik für Snobs schreiben, sondern für alle Menschen – eine schöne und heilsame Musik, um mit Melodie und Klang zu erreichen, was die altchinesischen Maler als ‹geistige Resonanz› bezeichneten» stehen in einem grellen Kontrast zu dem eben angesprochenen Komplex von Antisemitismus, Rassismus, Genozid und Menschenverachtung. Alan Hovhaness hat mit seinem musikalischen Lebenswerk etwas geschaffen, das einer transkulturellen Weiterentwicklung der Menschheit Vorschub leisten möchte und solches auch in bescheidenen Anfängen zu bewirken vermag an den Stellen, wo es zum Erklingen kommen darf. Ich bin überzeugt, geben wir solchen transkulturellen Leistungen mehr Chancen, indem wir sie pflegen und fördern, wird die Welt etwas menschlicher.


Bild Beim Konzert ‹Fantasy on Japanese Woodprints› links: Sasaki, Mitte: Alan Hovhaness, 1975. Quelle: CC BY-SA 4.0

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