In letzter Zeit gab es immer wieder Versuche, sowohl in der Presse als auch von namhaften Vertretern und Vertreterinnen der Waldorfbewegung, die Waldorfpädagogik von ihrem spirituellen, esoterischen Kern zu trennen. Es ist dem Autor hoch anzurechnen, wie er in der Publikation diesen Kern herausarbeitet. Tomas Zdražil geht der Frage nach, was die Waldorfpädagogik in ihrem innersten Wesen ausmacht.
Der Autor verliert sich dabei nicht in weltfremdem ‹esoterischem Gedankengut›, sondern stellt die Liebe zum Menschen ins Zentrum: «Pädagogik ist, im Grunde genommen, aus der Menschenerkenntnis heraus resultierende Liebe zum Menschen», so der Kerngedanke von Steiner, auf den sich Zdražil bezieht. Und dann baut er eine direkte Brücke zum Christus-Wesen, so wie Steiner es für die Waldorfpädagogik zugrunde legte. Endlich ein Erziehungswissenschaftler und Dozent der Waldorfpädagogik mit dem Mut, nicht bei allgemeinen menschenkundlichen Erläuterungen stehen zu bleiben, sondern einen expliziten Bezug zur Christologie Steiners aufzuzeigen. Es ist ihm dabei wichtig, dass Steiner das Wirken des Christus-Wesens ganz aus seiner Bindung an die traditionellen Kirchen gelöst hat. «Das gibt den Blick frei auf ein nicht konfessionell gebundenes spirituelles Element, das alle Kulturen und Religionen verbinden kann.»1 Zdražil sucht den inspirierenden ‹guten Geist›, der die Waldorfschulbewegung von Beginn an begleitet hat.
Und wie manifestiert sich dieser ‹gute Geist› der Schule? « […] in der menschlichen Verbundenheit der Gemeinschaft der Schüler mit ihren Lehrern. […] Im warmen menschlichen Interesse, in der Hilfsbereitschaft, der werktätigen Liebe lebt dieses den Menschen so nahe begleitende Wesen.» Dabei geht es nicht um eine ‹esoterische Theorie› oder gar das Predigen von Moralität, was dem Bewusstsein des modernen Menschen entgegenlaufen würde. Zdražil hebt immer wieder die Selbstverwandlung hervor: die Menschenerkenntnis als Selbsterziehungsmittel. Wer sich damit befasst, muss es in Menschlichkeit verwandeln, denn der Wissenserwerb ist sekundär im Vergleich zur Liebe zum Menschen, so Zdražil.
Der Autor setzt dies folgerichtig in den Kontext der umfassenden esoterischen Dimension von Steiners Christologie. Es lässt aufhorchen, wie er das «größte Mysterium unserer Zeit», «das Wirken des Christus im Ätherischen», in eine direkte Verbindung mit der Waldorfschule bringt. Er eröffnet eine entscheidende Dimension, indem er die neue Beziehungsmöglichkeit zu Christus als dem «auferstandenen Christus in ätherischer Gestalt» aufzeigt. Rudolf Steiner hat dies durch seine geistige Forschung ab 1909 bis zum Ende seines Wirkens ja immer wieder von neuen Seiten dargelegt. Und warum ist dies auch für die Pädagogik wichtig? Weil die neue Generation mit neuen Fähigkeiten auf die Erde kommt und durch eine Lockerung ihrer Wesensglieder eine erhöhte Sensibilität für das Ätherische hat. Konsequenterweise waren es primär die Waldorfschüler und -schülerinnen selbst, zu denen Steiner am häufigsten über die Christus-Wesenheit und über den ‹Waldorfschulgeist› sprach. Dies alles erläutert der Autor ausführlich im Kapitel ‹Eine neue Pädagogik für die neue Generation›.
Und was ist praktisch und konkret der Fokus einer solchen Pädagogik? Es gehe heute nicht mehr um die Vermittlung einer Informationsfülle. «Die wichtigste Fähigkeit scheint zu sein, mit Fremdheit, Neuerungen, Veränderungen und Verunsicherungen umzugehen, neue Dinge ein Leben lang dazuzulernen und in unvertrauten, vielleicht auch krisenhaften Situationen das seelische Gleichgewicht zu wahren.»
Kritische Stimmen aus den Waldorfkreisen distanzieren sich davon, den ‹Christusimpuls› und Steiners Christologie explizit einzubeziehen in die Grundlagen der Waldorfpädagogik. Sie argumentieren, den Fokus auf das Wesen des Christus zu richten, habe Steiner nur in Stuttgart, im ‹schwäbischen Milieu› gewagt und in Zeiten der Multikulturalität sei das ‹allgemein Menschliche› hervorzuheben. Natürlich ist sich auch Zdražil dieser Problematik bewusst: «Freilich ist es eine Herausforderung, den traditionell so geprägten Namen des Christus in diesem Sinne neu zu denken.» Da können wir uns ein Beispiel nehmen an den Bestrebungen und Publikationen der anthroposophischen Ärztinnen und Ärzte.
Dass Steiner sich nicht nur in Stuttgart so direkt auf das Christus-Wesen bezog, lässt sich leicht nachprüfen in den publizierten pädagogischen Vorträgen der Gesamtausgabe. So auch in Dornach vor internationalem Publikum am 22. April 1923, wo er explizit auf diesen guten Geist der Schule zu sprechen kommt: «Nicht ich, sondern der Christus in mir ist das Wirksame. […] Dieser Geist muss in der Schulführung überall drinnen sein.»
Es ist zu hoffen, dass diese Publikation in der Waldorfschulbewegung ein Bewusstsein für diese spirituelle Dimension weckt, ganz undogmatisch und überkonfessionell.