Zum dritten Mal veranstaltete die Sektion für Schöne Wissenschaften Anfang September eine Tagung zu Rudolf Steiners Fragment ‹Anthroposophie›. Diesmal ging es um die Frage, was Sehen, Hören oder Riechen für das eigene Ich bedeuten.
Es gibt Texte, die umso schwerer zu verstehen sind, je weiter man sie liest. Das Fragment ‹Anthroposophie› – das Buch, welches Rudolf Steiner 1909 zu schreiben begann und nicht zu Ende führen konnte – ist ein solcher Text. Gerade weil er so unzugänglich ist, ist er besonders anregend für die selbständige Auseinandersetzung mit dem darin besprochenen Thema der Sinnesnatur des Menschen.
Rudolf Steiner schrieb es, als er noch Generalsekretär der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft war. Der Grundimpuls des Buches ist, eine mittlere Stellung zwischen der Theosophie und der zeitgenössischen Anthropologie einzunehmen. Steiner gebraucht das Bild eines Berges, um sein Anliegen zu charakterisieren. Die Theosophie stehe auf dem Gipfel des Berges und habe den großen Überblick über eine Landschaft, während die Anthropologie am Fuße des Berges durch die Landschaft gehe, dort zwar keinen weiten Überblick habe, dafür aber sehr detailliert auf die Einzelheiten der Landschaft hinschaue. Den Standpunkt, der auf der halben Höhe des Berges eingenommen werden kann, bezeichnet Rudolf Steiner 1910 als ‹Anthroposophie›. Er verbindet sie zu einer Sichtweise, die noch die Einzelheiten im Auge hat, aber doch bereits sieht, was die Details zu einem Ganzen zusammenzuschließen vermag.
Andreas Luckner knüpfte in seinem Vortrag an dieses Anliegen Steiners an und stellte es in Beziehung zu verschiedenen Strömungen der Phänomenologie, die Anfang des 20. Jahrhunderts bekannt waren: Goethes Phänomenologie sowie Hegels Phänomenologie des Geistes und die in Anknüpfung an Franz Brentano von Edmund Husserl ausgearbeitete Phänomenologie, die sich weiter verzweigte und ausbreitete. Eine besondere Aufmerksamkeit legte Luckner auf Brentanos Begriff der Intentionalität.
Dem gingen drei andere Vorträge voran, die von Medizinern gehalten wurden und zuerst nach dem körperlichen Sinnesorgan des Ichsinns fragten (Sebastian Lorenz) und anschließend prinzipielle physiologische Aspekte des menschlichen Sinneslebens untersuchten (Johannes Weinzierl).
Jaap Sijmons stellte das Fragment ‹Anthroposophie› in einen weiteren philosophiegeschichtlichen Hintergrund, indem er auf Aristoteles und seine Zeit zurückwies. Er stellte die These auf, dass die Sinneslehre in Griechenland schon da gewesen sei, nur in der Form des Mythos. An einigen der zwölf Abenteuer des Odysseus veranschaulichte er seine These. Im zweiten Vortrag schloss er daran an und legte einen Schwerpunkt auf das Verhältnis des Ichwesens des Menschen zu den Sinnen.
Renatus Ziegler fragte anschließend nach den Quellen des Ichorganismus. Welche Voraussetzungen hat seine Bildung während der kindlichen Entwicklung? Dabei betrachtete er besonders den Laut- und den Begriffssinn und wie sie sich im Menschen während der Kindheit bilden. Seine Darstellung mündete in die These, dass der gut ausgebildete Laut- und Begriffsorganismus die Voraussetzungen darstellt, um das Ich des anderen Menschen mit dem Ichsinn wahrnehmen zu können. Die Diskussion im Anschluss an seine Darstellung beinhaltete ein hochaktuelles Thema, denn es wurde kontrovers darüber gesprochen, ob bei einem Videogespräch über eine Konferenzsoftware neben dem Sehen und Hören auch der Laut-, der Begriffs- und der Ichsinn etwas wahrnehmen oder nicht.
In welcher Beziehung stehen wir als Sinnesmenschen zur uns umgebenden Welt und zu unseren Mitmenschen?
Der Pädagoge Peter Lutzker machte zuletzt auf die zunehmende Relevanz dieses Themas für die Pädagogik aufmerksam. Denn Kinder und Jugendliche hatten unter den Maßnahmen der Corona-Politik besonders zu leiden, ihr realer Schulbesuch wurde über Monate durch Bildschirmkontakte ersetzt. Die gesunde Entwicklung der Sinne, besonders der sozialen, ist für die Zukunft der Pädagogik ein zentrales Thema. Das ist eine Grundfrage der gegenwärtigen Lehrerausbildung.
Die Sektionsleiterin Christiane Haid schloss die Tagung mit einem Rückblick ab und wies anhand einer konkreten Bildbetrachtung darauf hin, wie sich im Wahrnehmen von Kunst die Sinne verändern und lebendig werden. Sie schloss mit der Frage ab, wie (sogenannte) Kunstwerke, die von künstlichen Intelligenzen erzeugt werden – beispielsweise Bilder im Stil eines Rembrandt-Gemäldes – auf den Menschen wirken.
Vor dem Hintergrund der anthropologischen und sozialen Aspekte digitaler Technologien befasste sich die Tagung auf einem sehr anspruchsvollen Niveau mit einem scheinbar abseits gelegenen Thema, das aber in einer Zeit der zunehmenden Verschmelzung des wahrnehmenden Menschen mit Bildschirmangeboten zu einem der Kernthemen des Lebens mit digitalen Geräten geworden ist: In welcher Beziehung steht der Mensch als Sinnesmensch zur ihn umgebenden Welt und zu seinen Mitmenschen?
Abschließend sei erwähnt, dass diese zutiefst christliche Frage, die den Gesprächen der Tagung unausgesprochen zugrunde lag, am Samstagabend durch die berührende Eurythmie-Aufführung ‹Und es war da ein Jüngling …› des Eurythmeums CH in Erscheinung trat.
Titelbild: Xue Li