Die Sehnsucht nach Berührung

An Johanni, dem einzigen nach einem Menschen benannten christlichen Jahresfest, kulminiert die Sehnsucht nach der Offenbarung der Welt.


Lange haben wir uns nach dem Sommer gesehnt, nach Wärme und Licht. Nach einer Ferne, die jeden Moment zur Nähe werden kann. Es ist eine Sehnsucht, die sich auf allen Ebenen unserer Existenz zeigt, aber die auch Sehnsucht ist nach einem Leben in einer vom Sonnenlicht beleuchteten, strahlenden Welt, wo wir uns frei diesem Jubel hingeben. Wir möchten das Sichtbarwerden der Welt zelebrieren. Zu lange dauerte uns das Warten, bis die Keime, tief im Erdendunkel verborgen, sich zur Sichtbarkeit hingeben wollten. In einer sommerlichen Welt ist jeder Duft, jede zarte Brise, die Kühle eines Brunnens, das Licht wie Musik – eine Melodie, die über die Täler wandert. Alles wird zum Zeichen dieses sichtbaren Werdens.

Darüber wölbt sich der Baldachin des Himmelsblaus bei Tag und die Sternenkuppel bei Nacht. Wie ein Hauch rührt das Lebendige uns an. Es spricht. Vor unseren Sinnesorganen tritt der Zauber alles Sprießenden und Blühenden in erfüllende Erscheinung. In uns fängt das Lyrisch-Poetische zu singen an. Für einen Augenblick legt sich Schönheit über die Welt. Unsere Sehnsucht hat den Himmel offenbart. Beglückt stimmen wir ein. Eine Hochzeit wird gefeiert.

Wir sehnen uns nach Berührung bei den fast unendlichen Möglichkeiten einer Begegnung. Wir wollen uns hingeben, sei es einem Kunstwerk, dem Mitmenschen, einer Idee oder der Natur. Immer geht es dabei um das Verlangen, dass uns etwas wie eine Antwort entgegenkommen wird. Aber wir hoffen auch, dass die Sehnsucht uns beflügeln und uns über uns selbst hinaus mitnehmen wird, dahin, wo unsere Bestimmung uns erwartet.

Berührung ist gegenseitig: wer anrührt und wer angerührt wird. Manchmal berühren wir uns so, wie Rilke es beschreibt: «Doch alles, was uns anrührt, dich und mich, / Nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich / Der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.» (Aus: ‹Liebes-Lied›)

Eine zarte Schwingung, eine Resonanz wie ein Summen fängt an. Aus diesen Schwingungen löst sich ein stetig sich ausdehnendes Erleben heraus. Die Erde hat sich ganz ausgeatmet, am stärksten in den Gegenden, wo Hochsommer ist. Diesem geben wir uns hin. Wie angerührt von einer uns mitziehenden Welt der Töne, wird das Lauschen in die Himmelweiten hinein immer intensiver, bis dorthin, wo die Sphärenmusik hörbar wird. Aber wer hat uns berührt? Wo sind wir gewesen? Was hat sich offenbart? Wie weit über uns selbst hinaus konnte die Berührung uns heben? Die Sehnsucht bleibt immer. Denn wäre sie gestillt, hätte man nur sich selbst empfunden: «Auf welches Instrument sind wir gespannt? / Und welcher Geiger hat uns in der Hand?» (Rilke, aus: ‹Liebes-Lied›).

‹Der Prophet›, Pablo Gargallo, 1933, Middelheim, Antwerpen. Fotos: Marc Schepens

Ein Rufender in der Wüste

Im Middelheim, einem Freilichtmuseum für Bildhauerkunst, befindet sich eine bronzene Skulptur des katalanischen Bildhauers Pablo Gargallo aus dem Jahr 1933. Eine übermenschlich große Figur. Ausgesetzt und allein steht sie in einer Rasenanlage, in der linken Hand einen Stab, den rechten Arm in einer ermahnenden Geste gehoben, den Mund weit aufgesperrt. Vom Künstler wurde sie ‹Der Prophet› genannt. Er ruft. Die gebündelte Kraft seines Rufens weht wie Flammen wellenförmig empor, bis sich diese in eine einzige, warnende Gebärde zusammenziehen, wie in einem Schrei. Wenn man sich der Skulptur langsam und von Weitem her nähert, sie dabei von der Seite wahrnimmt, bemerkt man allmählich ein doppeltes Profil: eines vorwärts, eines anscheinend rückwärts blickend. Nur der vorwärts gerichtete Mund ist geöffnet. Dem rückwärts gewendeten Profil fehlt ein Antlitz, doch lässt sich ein kaum angedeuteter Mund erraten. Ein Mund, der sich bereits geschlossen hat.

Er wandert in der Wüste Judäas. «Wer bist du?», wird er gefragt. Priester und Leviten, aus Jerusalem gesandt, stehen um ihn herum. «Ich bin nicht der Christus», ist seine Antwort. Dann fragen sie ihn: «Bist du Elia? Er sprach: Ich bin’s nicht.» Und: «Nein» antwortet er, wenn sie ihn fragen, ob er der Prophet sei. Denn er schließt die Reihe der Propheten ab. In dem Moment, als er gefragt wird, ist er kein Zeuge, noch nicht. Denn derjenige, auf den er erkennend zeigen wird, wird noch kommen. Was sagt er über sich selbst? «Ich bin die Stimme eines Rufers in der Wüste». (Joh, 1:19-23, Elberfelder Bibel)

«ἐγὼ φωνὴ βοῶντος ἐν τῇ ἐρήμῳ’» (Phonè boöontes). Eine Stimme wie ein Sturmwind, wie eine tobende, klagende ‹Böe›. Eine wandernde Stimme in der Kluft zwischen den beiden größtmöglichen Weltenzeiten, zwischen Vorher und Nachher. Auch dies eine Wüste, die er durchschreiten muss. «Ebnet den Weg des Herren, sagt er auch.» (εὐθύνατε τὴν ὁδὸν κυρίου)

Wer einmal in einer natürlichen Wüste von Ort zu Ort herumgezogen ist, kann erfahren, wie jeder Laut mit unerhörter Klarheit, sich selbst tragend, durch diese Gegenden hindurchwandert. Es gibt keine Widerstände, die den Laut aufhalten und abdämpfen, außer den im Wind mitreisenden, wirbelnden Sandkörnern. Nie werde ich den Augenblick vergessen, als in der Wüste Nordsyriens, nahe der frühchristlichen Klosterruine bei Resafa, ein Ball aus Disteln und Papier laut wie Donnergeröll an uns vorbeizog. Fast gewichtlos und trotzdem die Stille zerreißend. Bald wurde er zu einem tanzenden, verschwindenden Punkt in der blendenden Sonne. Er verschwand allmählich aus unserem Blick, blieb aber lange noch hörbar. Auch die Stimme dessen, der in der Wüste ruft, zerreißt die Stille.

Ein Rufender kann nur nach vorn rufen. Das heißt: vor sich her. So auch Johannes. Denn derjenige, den er bezeugen wird, ist vor ihm. Er ist der Kommende. Er kommt aus einer Zukunft, die zugleich Ursprung ist. Wäre der Kommende nicht vor ihm, so könnte er nicht auf Johannes zukommen. Was aber hinter Johannes liegt, ist schon im Verschwinden begriffen, es stirbt. Es nähert sich der Augenblick, wenn die Ursache in der Zukunft zu finden ist. Die einst ganz vom lichtvollen Weben göttlich-geistigen Schöpferwirkens durchdrungene Welt hat sich entleert. Sie ist zur Wüste geworden. Die Stimme des Johannes wendet sich ihm, dem Kommenden, zu. Die Stimme ist es, die ihm, dem ‹Erchomenos›, den Weg ebnet, damit er kommen kann. Im Johannesevangelium wird dieses ersehnte Kommen mit nur wenigen, schlichten Worten dargestellt. Es heißt: «Am folgenden Tag sieht er Jesus zu sich kommen». βλέπει τὸν Ἰησοῦν ἐρχόμενον πρὸς αὐτὸν.

Erst jetzt kann Johannes Zeugnis ablegen: «Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt!» ἴδε ὁ ἀμνὸς τοῦ θεοῦ ὁ αἴρων τὴν ἁμαρτίαν τοῦ κόσμου. Ein zweites Mal nach der Taufe, legt Johannes ein weiteres Zeugnis ab: «und hinblickend auf Jesus, der vorbeiging, spricht er: Siehe, das Lamm Gottes!» (Joh, 1:35–36) Dieses Mal aber kam Jesus nicht mehr auf ihn zu, sondern geht an ihm vorüber und die ersten Jünger folgen ihm. Ein Weltenzeitalter ist zu Ende. Ein neues beginnt. Johannes hat sich umgewendet und schaut nach vorn. Er weiß von dem nach ihm Kommenden, dessen Ursprung in der Zukunft liegt. Zugleich weiß er vom Ersten, der vor ihm geboren ist: «Nach mir kommt ein Mann, der vor mir ist, denn er war eher als ich.» (Joh, 1:30) Protos mou èn. Wobei das Zeitwort ‹èn› die Vergangenheit bis in die Gegenwart herüberführt: Er war und ist vor mir.

Linien und Farbflächen von Philipp Tok nach der Skulptur ‹Der Prophet›, Pablo Gargallo, 1933, Middelheim, Antwerpen

‹Eremos›: in einer entleerten Welt

Das griechische Wort ‹Eremos› bedeutet ‹Wüste›, aber auch ‹Einsamkeit›. Ein Eremit, eine Eremitin ist, wer sich in eine selbst gewählte Einsamkeit zurückgezogen hat. Sehr zahlreich sind die, die sich in vor- und nachchristlicher Zeit in eine Wüste zurückzogen. Manche als Einzelne (monachos), andere in streng geschlossenen Gemeinschaften. Unter diesen waren die Essener und die gnostischen Täufergemeinschaften der Mandäer, die bis auf den heutigen Tag im Süden des Iraks leben und sich als Nachkommen Johannes des Täufers verstehen. In den ersten Jahrhunderten nach Christus wurde die Wüste um den östlichen Mittelmeerraum, vor allem in Ägypten, Palästina, Syrien und dem Irak, zu einem Ort, wo die ersten Formen der Verinnerlichung und des Mitvollziehens der Auferstehung geübt wurden. Daraus entstanden später, ab Anfang des 6. Jahrhunderts, die ersten Klosterorden. Nicht länger mehr ging es um selbstzentrierte Erlösung wie in den gnostischen Schulen, sondern um die Erlösung der gefesselten Natur, im Innern und im Außen, wie in den frühen Anfängen des Manichäismus. In diesen Jahrhunderten ‹blühte› die Wüste.

Nur selten blüht eine natürliche Wüste. Noch seltener blüht die Einsamkeit im menschlichen Inneren auf, obschon sie angefangen hat, sich in uns allen zu offenbaren. Paradoxerweise suchen wir die Natur als den Ort auf, wo wir die verlorene Verbundenheit wiederfinden und erfahren können. In der Natur sind wir aus der Einsamkeit, die wir zumeist nicht erwählt haben, befreit und die Last dieser Einsamkeit wird für einen Moment aufgehoben.

Wir finden uns wieder in einer Welt, die entleert ist von dem, was sich unserem Blick nicht länger offenbaren kann. Wir begegnen der Welt als Gewordenem, obwohl «einstmals diese Welt ganz göttlich-geistiger Wesenheit war, der auch wir selber als ein Glied zugehörten». (Rudolf Steiner, GA 26, 1982, S. 94) Aus dieser Zugehörigkeit haben wir uns emanzipiert. Dank des Sich-schrittweise-Zurückziehens der sich offenbarenden, göttlich-geistigen Schöpfermächte. Nur das Gewirkte, von Rudolf Steiner in seinen Leitsätzen «das Werk» genannt, bleibt: «Für das menschliche Anschauen zeigt sich das Göttliche in den Formen, in dem naturhaften Geschehen, aber es ist nicht mehr als Lebendiges darinnen.» (A. a. O., S. 96)

«Nicht mehr.» Wie unerbittlich und schmerzhaft hört sich das an. Woher soll denn diese so ersehnte Berührung kommen, wenn das Lebendige uns in den Formen nicht länger mehr entgegenkommt? Denn unser Selbsterkennen verdanken wir unserer Möglichkeit, außerhalb der Dinge zu stehen. Wir berühren sie wahrnehmend, denkend und fühlend von außen her, werden aber von ihnen nicht mehr berührt. Es fehlt das Lebendige. Wie und woher kann es heute kommen? Steiner aber fährt fort: «In dieser sonnenhaft göttlichen, aber nicht lebendig göttlichen Welt lebt der Mensch. In diese Gott-leergewordene Welt wird der Mensch hineintragen, was in ihm ist, das, zu dem seine Wesenheit in diesem Zeitalter geworden ist.» (A. a. O., S. 96)

Nicht die gegenständliche Welt, der wir, gemäß unserer heutigen Bewusstseinsanlage, als einer gottentleerten begegnen, sondern das, was in der Menschenwesenheit ist, kann die Leere mit erneutem Leben ausfüllen. Nur aus dem Menschen kann dieses Leben ausfließen und nur von ihm kann es hineingetragen werden. Dorthin, wo die göttlich-geistigen Schöpfermächte sich zurückgezogen haben. Denn sie hatten sich zurückgezogen; die Entleerung ist eine von ihnen gewollte. Die Wüste soll wieder blühend werden.

Gott ist tot

Von Plutarchos (46 bis 119 n. Ch.), dem Philosophen und letzten Priester im Apollon-Heiligtum und der Orakelstätte Delphi, ist eine merkwürdige Geschichte bekannt über den Tod des großen Gottes Pan. ‹Pan› bedeutet ‹All›, die allgegenwärtige schöpferische Kraft der Natur. Er überlieferte, dass zur Zeit des Kaisers Tiberius (42 v. Ch. bis 37 n. Ch.) der ägyptische Steuermann Thamus auf einem Schiff mit Gütern und Fahrgästen vor der griechischen Küste fuhr. Er hörte eine Stimme, die ihm befahl, wenn er an Paxioi vorbeisegle, müsse er kundtun, dass der große Pan gestorben sei. Thamus zögerte, entschied sich jedoch, diese Nachricht auszurufen, wenn es eine Windstille gäbe. So geschah es. Er rief: «Der große Pan ist tot», und ein entsetzliches Wehklagen, vermischt mit Verwunderung, hallte von vielen Stimmen wider.1

Sind Götter also sterblich? Und wann hat diese Götterdämmerung angefangen? Oder weist Plutarchos’ Überlieferung eher in dieselbe Richtung wie Rudolf Steiner, wenn er den notwendigen Untergang der alten Mysterien beschreibt? Für eine gnostisch gefärbte Seele zur Zeit des Mysteriums von Golgatha wäre dies ein unerträglicher Gedanke gewesen. Es hat Jahrhunderte gebraucht, bis ein Teil der Menschheit es wagte, diesen Gedanken zu Ende zu denken. Das Nietzsche-Wort vom Tod Gottes hat nichts von seiner tief tragischen Aussagekraft verloren. Tragisch auch, weil wir es sind, die ihn getötet haben. Nicht Stille zerreißt die Stimme des Rufenden auf dem Marktplatz, die fragt: «Wohin ist Gott?», und die sich selbst antwortet: «Ich will es euch sagen, wir haben ihn getötet.» Die Stimme des Rufenden löst sich auf in einem bedrückenden Schweigen. Kein Widerruf, keine Antwort auf seine weiteren Fragen. «Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden?» Kein Wehklagen macht sich kund. «Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn.» (Friedrich Nietzsche, ‹Der tolle Mensch›, Fröhliche Wissenschaft)

Seitdem ist es tatsächlich kälter geworden. Ein Zeitalter nach Gott hat begonnen. Die Säkularität als gestaltendes Prinzip einer Gemeinschaftlichkeit und Kultur, die wir teilen, wurde zur Norm erhoben. Jede Religion lässt sich auf eine Reihe von Erzählungen reduzieren, deren relative Kohärenz es erlaubt, diese Geschichten nachzubilden, zu kopieren, bis keine Vertikalität mehr entspringt. Alles wird zur Oberfläche. Was bleibt, sind fantastische, hinreißende Geschichten über den Ursprung von Universum und Mensch, vom Kampf zwischen uralten, titanischen Kräften, von himmlischen und unterirdischen Götterwelten, über magische Orte und bezaubernde Tiere. Peter Sloterdijk nennt diese Erzählungen ‹Theopoetische Konstruktionen›. In seinem Buch ‹Den Himmel zum Sprechen bringen – Über Theopoesie›, beschreibt er, wie in den antiken Hochkulturen die in der Poesie wirksame Kraft als eine Stifterin und Darstellerin überragender Götterwelten angewendet wurde und deshalb eine zentrale Stelle einnahm. Das Furchterregende, das Ungeheure einer jeden Gottheit war immer integraler Bestandteil dieser Anschauung. Aus dieser Kraft entstand eine Mythopoetik, in der die Erzählung eine sinnstiftende Hülle um den Kern webte, der auf das Enigma der menschlichen Existenz antwortete. Riten und religiöses Handeln sollten diese Antworten herbeiführen. Die Erzählung selbst war nicht die Antwort. Seitdem sind die gewebten Hüllen für viele unter uns dünn geworden. Man schaut durch sie hindurch und findet sich in einer Welt, in der ein jeder Mensch sich in immer neuen Erzählungen seine Hülle bildet. Aber wo ist der Kern oder worin liegt die schöpferische Potenz? In einer Gesellschaft, die die Säkularisierung zum Ersatz genommen hat und Sinnfragen als therapiebedürftig einstuft, ist es nicht leicht, seine Sehnsucht nach dem Kern auszusprechen.

Sloterdijk spricht am Ende seines Buches von einem ‹Rest›. Heutzutage ist Religion das, was übrig bleibt, nachdem man alles, was Hülle war, abgeschält hat. Das Gehäutete findet eine Unterkunft in diversen Gebieten, die von Menschen als eine neue Umwelt gestiftet wurden. Jedes Gebiet steht für sich; jedes ist aus dem Zusammenhang des einstigen Gewebes herausgefallen. Einige Fragmente erreichen die Wissenschaft, andere landen in Ökonomie, Justiz, Medizin oder Medientheorie, Etymologie, Psychologie, Ethnologie usw. Am Ende bleibt nur ein unbestimmtes Stück Gelände. Ein Rest, der nicht länger von ‹den Dichtern› gestiftet wird.2

Unendliches Verlangen in einer endlichen Welt

Eine «Gott-leergewordene Welt» ist nicht gleich einer säkularen Welt. Beide haben an der Notwendigkeit eines Verlustes teil, die zugleich neue Perspektiven eröffnet. Der geistige Kern und die ihn umwebenden mythopoetischen Kräfte, die zu farbprächtigen, tröstenden Geschichten wurden, sind verstummt. Sie sind uns entfallen, verloren. In einer Installation3 hat der südafrikanische Künstler James Webb die Herztöne eines noch nicht geborenen Kindes mit denen seiner Mutter in Zusammenklang gebracht. In einem ansonsten leeren Raum hängte er ein Mikrofon an die Wand, durch das die Besuchenden dem Dialog zweier Herzen zuhören konnten. Er nannte das Kunstwerk ‹Infinite yearning met with a finite world› (dt.: Unendliches Verlangen begegnete einer endlichen Welt) und führte damit die Sehnsucht an ihren Ursprungsort im Herzen zurück. Die fragmentierte Welt ist endlich – unsere Sehnsucht ist es nicht. Die Welt ist endlich, auch wenn vergeblich versucht wird, die Leere vor unserem Blick zu verbergen und uns glauben zu machen, dass jedes Verlangen auch endlich ist oder sich auf das Endliche bezieht.

Wer aber, und wäre es nur ein einziges Mal, berührt worden ist, sucht immer weniger eine Antwort oder Erzählungen. Die Berührung hat uns umgewendet. Rief da nicht jemand: «Ändert euren Sinn» (Mat, 3:1)? Seit diesem Ruf geht es um die Leere, den neuen Kern, der in sich eine nie dagewesene Fülle wird. Diese Leere schließt unser Herz auf. Sie ist eine noch unbekannte Möglichkeit, die wir bejahen dürfen. Sagte nicht der Rufende: «mitten unter euch steht, den ihr nicht kennt» (Joh, 1:26)? Die Wüste wird wieder blühen. Schon jetzt werden wir zart berührt. Ein neues Sprechen, eine neue, noch zu erlernende Sprache hat angefangen.4

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Footnotes

  1. De defectu Oraculorum, Der Tod des Pan, Kapitel 17. In: Plutarch, Über Gott und Vorsehung, Dämonen und Weissagung. Religionsphilosophische Schriften. Hg. von Konrat Ziegler, Zürich/Stuttgart 1952, S. 126 f.
  2. In Anlehnung an Friedrich Hölderlins Gedicht ‹Andenken›: «Was bleibet aber, stiften die Dichter.»
  3. James Webb, ‹Infinite yearning met with a finite world›, Spaces gallery in Cleveland/Ohio, Oktober bis November 2018.
  4. Siehe: Rudolf Steiner, Leitsätze. GA 26, 1982, S. 97.

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