Wenn Schüler bestimmen, was Schule ist – Mathias Wais wagt eine Fiktion, die ganz bestimmt polarisiert, aber eine Überlegung wert ist.
Was wäre, wenn sich die Frage ‹Warum müssen wir das lernen?› plötzlich erübrigen würde? Was wäre, wenn Schüler und Schülerinnen selbst über Bildungsinhalte entscheiden könnten? Wenn Lehrende vielmehr Coaches wären, die Fragen und Antworten gemeinsam mit den Schülern entwickeln? Wenn Autorität nicht auf Wissensvorsprung gründet. Könnte man das überhaupt noch Schule nennen? Der Psychologe Mathias Wais nennt es ‹Die Schule der Kinder›. In seinem Büchlein entwirft er die Skizze einer Schule, wie sie sein könnte. Er war unter anderem 20 Jahre lang als Schulpsychologe tätig. Mit seiner Schrift gibt er Impulse, die die Bildungsdebatte befeuern. Von Anhängern des ‹Unschooling› sicherlich freudig beklatscht. Von Lehrkräften der ‹Alten Schule› bestimmt haareraufend und stirnrunzelnd zur Kenntnis genommen. Mathias Wais’ gedankliches Experiment ist weit weniger als ein ausgefeiltes Schulkonzept und trotzdem wirksam: herrlich polarisierend.
Das Interesse der Schülerschaft steht im Mittelpunkt der ‹Schule der Kinder›. Was einzelne Schüler und Schülerinnen bewegt, wird in Gesprächsrunden herausgearbeitet. Welche ihrer Fragen innerhalb eines Projektes vertieft werden sollen, muss fortwährend neu erfasst werden und wird schließlich teils handlungspädagogisch, teils klassisch schulisch bearbeitet. Jahrgangsübergreifend. Nah am Kind, nah an der echten Welt. Eine Schülerin will etwas über den Zustand des deutschen Waldes erfahren. Dafür interessieren sich noch weitere Schüler, die schließlich mit ihrem Lehrer eine Exkursion in den Wald planen. Ein Förster wird eingeladen und waldwirtschaftliche Fragen werden in einigen Mathematikstunden vertieft. Lässt sich ein Lastenrad selbst bauen, fragen sich einige andere Schüler. Das ergründen sie in einer praktischen Projektarbeit in Zusammenarbeit mit einem Schweißer. Einige Jugendliche haben Sorgen, weil ihre Eltern in Trennung sind. Ihre Erfahrungen teilen sie in einer Gesprächsgruppe und verarbeiten sie schließlich szenisch-künstlerisch. Jede schulische Aktivität geschieht grundsätzlich jahrgangsübergreifend und lebt von der Initiative der Schülerinnen und Schüler. Eine Arbeitsweise, die größte Flexibilität der Lehrenden erfordert und immer wieder Lernen am authentischen Ort bedeutet. Verbindungen ins echte Leben entstehen. Und damit ein hoher Grad an Authentizität, der gerade für schwer beschulbare Kinder eine Wohltat wäre. Dennoch eine Schulform, die (wie jede andere auch) nicht zu jedem Kind passen muss, meint Mathias Wais.
Ist eine hundertjährige Reformpädagogik eigentlich noch reformativ? Die lange Tradition der Waldorfpädagogik scheint mit der (vergleichsweise revolutionären) ‹Schule der Kinder› nur bedingt vereinbar. Wenn auch projekthaftes, praktisches und handlungspädagogisches Arbeiten in das didaktische Repertoire der Waldorfschulen gehören, scheinen altershomogene Klassen und Frontalunterricht der völlig offenen Struktur der ‹Schule der Kinder› geradezu unvereinbar gegenüberzustehen. So gesehen, müsste Waldorfschule ganz neu gedacht werden. Und welcher Klassenlehrer würde wohl seine Führung, seinen leidenschaftlichen Schöpferdrang so weit loslassen, dass er nicht mehr Lehrer, sondern nur Lernbegleiter wäre. Müsste er dann für die Schöpfungsgeschichte eine Pastorin einladen? Und was geschieht eigentlich, wenn in Zeiten pubertärer Trägheit einfach kein Interesse unter den Schülern aufkommen möchte? Gibt es dann ein Philosophieprojekt, in dem der Gehalt des Nichtstuns ergründet wird?
Beim Lesen dieses Buches werden Fragen laut, über die es sich nachzudenken lohnt. Fragen, die gewiss in die Zukunft führen. Pädagogisch mit den Kindern mitzugehen, wird vor dem Hintergrund vieler gescheiterter Schullaufbahnen immer dringlicher. Insofern eine anregende, kurzweilige Lektüre, die gern diskutiert werden will. Am spannendsten dabei ist die Frage: Was würde wohl im Leben der Menschen geschehen, wenn sie von Anfang an selbst über ihre Interessen bestimmen könnten? Wenn das Leben selbst in den Mittelpunkt gestellt würde? Es ist an der Zeit, das herauszufinden.