Die Rückkehr des Kollektivismus

Mit der Corona-Politik zieht ein neuer Kollektivismus auf, der einige Merkmale mit früheren Kollektivismen gemeinsam hat: Einige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen beanspruchen das Wissen um ein allgemein Gutes – hier Gesundheit; sie sehen die Menschen als Objekte, deren Lebenswege auf dieses Gute hin geführt werden können; Politik- und Medienschaffende übernehmen diesen Wissensanspruch und dieses Menschenbild mit dem Machtanspruch, die Gesellschaft entsprechend zu lenken. Der Artikel legt dar, wie dieser Kollektivismus Wissenschaft und Rechtsstaat gefährdet und einer Postmoderne den Weg ebnet, mit einer postfaktischen Realität, die mit Gewalt durchgesetzt wird. Dabei ist der Weg zurück dazu, durch den Gebrauch von Vernunft in Form von Wissenschaft und Rechtsstaat Macht zu begrenzen, im Grunde genommen einfach: Er erfordert nur, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, statt sich von den Vormündern in Wissenschaft, Politik und Medien entmündigen zu lassen.


Ein Rückblick auf Platon und Aristoteles

Platon war der Auffassung, dass es ein Wissen um das Gute für alle und jeden gibt: die Idee des Guten schlechthin. Diese Erkenntnis ist nur wenigen Menschen zugänglich. Modern ausgedrückt: Diese Erkenntnis ist auf Expertinnen und Experten beschränkt. Für Platon sind das die Philosophen. Damit sind allgemein Wissende gemeint: Das können Philosophen, aber auch Theologen oder Wissenschaftler sein. Weil diese Personen ein privilegiertes Wissen haben, sollen sie herrschen bzw. die Herrschenden anweisen, wie Platon in ‹Der Staat› darlegt. Das Wissen um das Gute ist so, dass auf dieses Gute hin die Steuerung der Gesellschaft möglich und erforderlich ist. Diese Steuerung umfasst alle Bereiche des Lebens. Sie reicht so weit, dass sie zum Wohl des Fortbestandes der Gesellschaft auch festlegt, wer wen und wann heiraten darf. Karl Popper sieht daher in seinem politik-philosophischen Hauptwerk ‹Die offene Gesellschaft und ihre Feinde› (1945, Band 1) Platon als den Begründer totalitärer Herrschaft an.

Ob diese Einschätzung richtig ist, sei hier offen gelassen. Für unser Ziel, die Rückkehr des Kollektivismus zu analysieren, ist an dem Rückgriff auf Platon Folgendes relevant: Platon denkt die Gesellschaft und den Staat so, wie die Familie in der Antike und bis weit in das 20. Jahrhundert organisiert war. Es gibt in der Familie ein Oberhaupt (in der Regel den Mann), das aufgrund seiner Fähigkeit und seines Wissens die Entscheidungen für die Familie trifft. Die Familienmitglieder haben diese Entscheidungen mitzutragen und auszuführen, weil sie das Beste für die Familie insgesamt und damit auch das Beste für jedes einzelne Familienmitglied sind.

Wenn der Staat gemäß diesem Modell der Familie organisiert wird, dann wird er autoritär: Eine Person oder Gruppe von Personen beansprucht, die Fähigkeit zu haben, den Staat zu führen, und alle anderen haben zu folgen. So funktionierte die Tyrannis in der Antike und so funktionieren autoritäre Staaten noch heute. Wenn zu diesem Fähigkeitsanspruch der Wissensanspruch um ein absolut gesetztes Ziel – das allgemein Gute – hinzukommt, dann wird daraus ein totalitärer Staat. Die herausragenden Beispiele sind der Nationalsozialismus mit dem Wissensanspruch um biologische Rassengesetze, welche eine Rasse weltgeschichtlich auszeichnen, und der Kommunismus mit dem Wissensanspruch um die Entwicklung der Geschichte auf einen klassenlosen Endzustand hin. Das sind die modernen Totalitarismen, die Popper im zweiten Band von ‹Die offene Gesellschaft und ihre Feinde› analysiert. In jedem Fall handelt es sich um einen Kollektivismus: Steuerung der Gesellschaft durch eine Führungsgruppe aufgrund deren Fähigkeit (Autoritarismus) und gegebenenfalls deren Wissen um das allgemein Gute, spezifiziert als ein kollektives Ziel (Totalitarismus).

Ganz anders ist die Sicht des Staates, die Aristoteles in seiner Schrift ‹Politik› entwickelt. Die Familie ist so organisiert, dass es ein Familienoberhaupt gibt. Im Staat kommen jedoch die Familienoberhäupter als Bürger zusammen und beraten gemeinsam über die öffentlichen Angelegenheiten. Das heißt: Es gibt keine Person oder Gruppe von Personen, die von sich aus befähigt sind, die Gesellschaft zu lenken; folglich gibt es auch kein Wissen um ein allgemein Gutes, das eine Elite hat und das diese Elite berechtigt, im Staat zu herrschen. Die Bürger treffen die Entscheidungen gemeinsam. Öffentliche Ämter werden auf Zeit vergeben und unterliegen den Prinzipien der Rotation und Machtbegrenzung. Eine Ausnahme hiervon ist lediglich für die militärische Führung im Kriegsfall vorgesehen. Diese Konzeption ist als Republikanismus bekannt. In der Neuzeit wird sie in Form von Rechtsstaaten umgesetzt, philosophisch dargestellt zum Beispiel in der Weltgemeinschaft republikanischer Rechtsstaaten, die Kant in der Schrift ‹Zum ewigen Frieden› (1795) entwickelt.

Wenn die Bürger die politischen Entscheidungen in gemeinsamer Beratung treffen, dann kommen ihnen grundlegende Rechte zu. Dazu gehören Meinungsfreiheit, Freiheit, Eigentum zu erwerben, und Freiheit in Forschung und Lehre. Ein herausragendes Beispiel für einen republikanischen Rechtsstaat ist die Schweiz mit Entscheidungen, die idealerweise die Bürgerversammlung oder Landsgemeinde trifft, und die Begrenzung von Befugnis und Zeit von Ämtern, sodass es keine Konzentration von Macht in den Händen einer Person geben kann; ein anderes herausragendes Beispiel sind die USA mit dem Repräsentationsprinzip aufgrund der Größe des Landes und dem ausgeklügelten System von ‹checks and balances›, um Befugnisse zu begrenzen. Die Entscheidungen werden durch Mehrheitsbeschlüsse getroffen. Insofern ist der republikanische Rechtsstaat eine Demokratie. Aber er steht über der Demokratie: Die Grundrechte und die Prinzipien der Rotation und der Begrenzung der Befugnisse von öffentlichen Ämtern können nicht durch Mehrheitsbeschlüsse außer Kraft gesetzt werden. Ansonsten geht die Demokratie in einen autoritären oder gar einen totalitären Staat über. Ein Beispiel dafür ist der Übergang zum Nationalsozialismus im Deutschen Reich, dessen Machtergreifung im Rahmen der Verfassung der Weimarer Republik ablief.

Den Gegensatz von Kollektivismus (Platon) und Republikanismus (Aristoteles, Kant) kann man auch als Gegensatz von Kollektivismus und Individualismus fassen. Doch ist der Individualismus, um den es hier geht, ein sozialer: Die Person kann nicht von ihren sozialen Beziehungen getrennt werden. Insofern diese Beziehungen über die Familie und den Verwandten- und Freundeskreis hinausreichen, geht es darum, sie durch Teilhabe statt autoritäre Führung zu gestalten. Der Republikanismus ist daher vom Libertarianismus unterschieden. Dieser lehnt die Unterscheidung zwischen privaten und öffentlichen Angelegenheiten – und damit auch zwischen privatem und öffentlichem Recht – ab und wendet sich damit gegen Staatlichkeit überhaupt. Dem Republikanismus geht es hingegen darum, die öffentlichen Angelegenheiten durch Teilhabe zu gestalten; das ist nur als Rechtsstaat mit Grundrechten der Bürger und Bürgerinnen möglich.

Die neuzeitliche Naturwissenschaft

Das Wissen, das Platon im Auge hat, ist ein Wissen von Ideen im Sinne idealer Darstellungen der betreffenden Gegenstände. Der Begriff des Pferdes zum Beispiel ist die Idee des Pferdes. Diese stellt das vollkommene Pferd dar. Die Pferde in Fleisch und Blut haben an dieser Idee teil, insofern sie mehr oder weniger diesem Ideal entsprechen. Das heißt für unseren Kontext: In dem Wissen, das Platon konzipiert, gibt es keine klare Trennung von Fakten und Normen. Mit anderen Worten: Es gibt keinen grundlegenden Unterschied zwischen technisch-naturwissenschaftlichem und moralisch-normativem Wissen. Das Wissen – jeder Begriff – ist eo ipso eine Norm, auf die hin die vorgefundenen Gegenstände beurteilt werden. Deshalb kann Platon ohne Sprung von der Idee eines Pferdes und dergleichen bis hin zu der Idee des Guten übergehen.

Ganz anders ist die neuzeitliche Naturwissenschaft beschaffen: Sie ist objektiv, auf den Gegenstand bezogen. Sie sieht von den Wertungen des Betrachtenden ab. Ihre Theorien sind so gut es geht von einem Standpunkt von nirgendwo formuliert. Gerade darin liegt ihr Erfolg: Indem sie die Betrachtungen der Gegenstände von den Bewertungen der Subjekte, welche die naturwissenschaftlichen Theorien formulieren, abscheidet, stellt sie uns ein Wissen zur Verfügung, das man dann einsetzen kann, um die Welt so zu gestalten, dass die eigenen Absichten und Bewertungen verwirklicht werden. Die neuzeitliche Naturwissenschaft beruht somit auf der Unterscheidung zwischen dem, was der Fall ist – den Fakten –, und dem, was gemäß den Bewertungen von Personen der Fall sein soll – den Normen. Das Wissen, das sie zur Verfügung stellt, kann daher kein Wissen sein, aus dem Normen folgen, und schon gar nicht eine Norm wie das allgemein Gute. Das heißt: Das Wissen der modernen Naturwissenschaft kann seinem Wesen nach nicht zur Steuerung der Gesellschaft eingesetzt werden. Aus den Theorien der Naturwissenschaften folgt nur technisches Wissen, das uns sagen kann, wie man jeweils ein von außerhalb dieses Wissens stammendes konkretes Ziel verwirklichen kann. Wenn das Ziel beispielsweise ist, schnell über den Atlantik zu gelangen, kann die Naturwissenschaft uns sagen, wie man entsprechende Flugzeuge bauen muss. Dazu, ob und wie sinnvoll es ist, über den Atlantik zu fliegen, kann die Naturwissenschaft aber nichts sagen.

Deshalb ist die neuzeitliche Wissenschaft unmittelbar mit dem republikanischen Rechtsstaat verbunden. Der Rechtsstaat benötigt die Naturwissenschaft, weil diese eine gemeinsame Basis von Faktenwissen bereitstellt, das dann jeder individuell für seine Lebensplanung nutzen kann und das als gemeinsamer Referenzpunkt für die Beratung über die öffentlichen Angelegenheiten zur Verfügung steht. Aufgrund dieser gemeinsamen Basis können dann die verschiedenen politischen Positionen entwickelt werden, zwischen denen man letztlich per Mehrheitsbeschluss entscheiden muss. Der republikanische Rechtsstaat wird zerstört, wenn diese gemeinsame Basis fehlt, entweder weil sich ein Pluralismus von Fakten und alternativen Fakten etabliert, sodass letztlich jeder in seiner Konstruktion der Realität lebt, oder weil ein inhaltliches, normatives Wissen – die platonische Idee des Guten für alle und jeden – durchgesetzt wird, sodass es keiner gemeinsamen Beratung über die öffentlichen Angelegenheiten mehr bedarf. Die neuzeitliche Naturwissenschaft leistet somit zweierlei für den republikanischen Rechtsstaat: Sie stellt positiv eine gemeinsame Basis von Faktenwissen zur Verfügung, und sie macht negativ klar, dass es kein mit wissenschaftlichen Methoden etabliertes normatives Wissen gibt, das die Entscheidungen über die persönlichen oder die öffentlichen Angelegenheiten vorgeben kann. Diese müssen in gemeinsamer Beratung getroffen werden; das setzt wiederum die Anerkennung von Grundrechten von jedem voraus.

Genauso braucht die Wissenschaft den Rechtsstaat: Zu den Grundrechten gehört die Freiheit der Wissenschaft in Forschung und Lehre. So schafft der Rechtsstaat den Freiraum, in welchem sich eine Wissenschaft entwickeln kann, die sich objektiv auf die Fakten richtet, statt durch vorgegebene Normen auf politische Ziele hin gesteuert zu werden. Nur ein Staat, der nicht auf solche Normen ausgerichtet ist, kann der Wissenschaft freien Lauf in der Entdeckung der Fakten lassen. Die Parallele zur Geschichte der Religion in der Neuzeit ist offensichtlich: Erst ein säkularer Staat, der nicht auf religiöse Normen ausgerichtet ist und in dieser Hinsicht keine Erkenntnis für sich und seine Funktionsweise in Anspruch nimmt, kann Religionsfreiheit gewähren. Kurz, Wissenschaft und Rechtsstaat stehen und fallen zusammen.

Technokratisches versus freiheitliches Menschenbild

Mit dem Duo von neuzeitlicher Naturwissenschaft und republikanischem Rechtsstaat haben wir folgende Situation: Diese Wissenschaft kann kein Orientierungswissen zur Steuerung der Gesellschaft liefern. Es gibt auch keine andere, in der Gesellschaft allgemein anerkannte Wissensquelle, die das könnte (wie Religion). Infolgedessen ist der Staat ein Rechtsstaat, der Grundrechte sichert, aber darauf verzichtet, die Gesellschaft auf ein allgemeines Gut hinzuführen. Nichtsdestoweniger besteht das Verlangen nach einem Orientierungswissen fort. Mit diesem Verlangen ist die Erwartung nach einer Elite von Expertinnen und Experten verbunden, die dieses Wissen haben und die Gesellschaft entsprechend steuern.

Mit anderen Worten: Die Mündigkeit, die der republikanische Rechtsstaat von seinen Bürgerinnen und Bürgern einfordert, ist anspruchsvoll. Dieser Anspruch kann in Krisensituationen als eine Zumutung erscheinen. Mangels anderer, allgemein akzeptierter Wissensquellen wird dann die neuzeitliche Naturwissenschaft in eine Rolle gedrängt bzw. drängt sich selbst durch manche ihrer Vertreter in eine Rolle, die im Mittelalter und der frühen Neuzeit der Staatsreligion zukam, die diese Wissenschaft aber gar nicht ausfüllen kann. Das Ergebnis ist dann ein Kollektivismus oder Totalitarismus, wie ihn Popper im zweiten Band von ‹Die offene Gesellschaft und ihre Feinde› beschreibt.

Die beiden historischen Formen dieses Totalitarismus – der Kommunismus und der Nationalsozialismus – zeichnen sich durch Folgendes aus: Sie beziehen die Naturwissenschaft auch auf den Verlauf der Weltgeschichte. Sie rehabilitieren damit die Teleologie. Das ist die aus der Antike stammende Idee, dass die Prozesse auf ein Ziel hinsteuern – zunächst jeder für sich, dann alle zusammen; das besagt die Idee vom Kosmos als zielgerichteter Weltordnung. Dieses Ziel ist im Kommunismus die klassenlose, im Nationalsozialismus die reinrassige Gesellschaft. Aus diesem angeblich wissenschaftlich begründeten Ziel der Geschichte leitet man dann die Norm ab, die Gesellschaft auf dieses Ziel hin zu steuern. Grundrechte, Rechtsstaat und schließlich das gesamte wirtschaftliche, soziale und private Leben werden diesem Ziel untergeordnet bis hin zur Vernichtung angeblicher Klassenfeinde oder minderwertiger Rassen. Wenn Wissenschaft eingesetzt wird, um ein solches Ziel zu begründen, und aus ihm die Norm abgeleitet wird, die Gesellschaft auf dieses Ziel hin zu steuern, dann liegt dem ein technokratisches Menschenbild zugrunde: Auch der Mensch mit seinem Bewusstsein, seinem Denken und Handeln aus Gründen und freiem Willen ist vollumfänglich dieser Wissenschaft unterworfen.

Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus und des Nationalsozialismus ist die Idee untergegangen, dass die Geschichte auf ein Ziel zuläuft, aus dem die Norm abgeleitet werden kann, die Gesellschaft auf dieses Ziel hin zu steuern. Das technokratische Menschenbild ist aber nicht untergegangen. Ganz im Gegenteil: Der Fortschritt der Naturwissenschaft verleiht ihm Auftrieb. Die Molekularbiologie erklärt das Lebendige. Die Neurowissenschaft deckt den Aufbau und die Funktionsweise unseres Gehirns auf. Dadurch lernen wir viel über die materielle Grundlage unseres Denkens und Handelns, das wir dann einsetzen können, um besser freie und verantwortliche Entscheidungen zu treffen. Aber insbesondere Fortschritte in der Neurowissenschaft können dazu verleiten, unseren Geist mit unserem Gehirn gleichzusetzen, sodass auch unser Fühlen, Denken und Handeln nichts weiter als Materie in Bewegung ist, die gemäß physikalischen Gesetzen abläuft.

Wenn man dieses tut, übersieht man aber Folgendes: Naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen, indem man Hypothesen formuliert, rechtfertigt und experimentell überprüft, setzt die Freiheit der Wissenschaftler voraus, Urteile gemäß ihrer Abwägung von Gründen aufgrund der verfügbaren Daten zu bilden und dann als Hypothesen, Modelle und Theorien auszuführen und zu prüfen. Das ist ein sozialer Prozess, in dem die Gründe, Urteile, Hypothesen, Modelle und Theorien diskutiert werden. Schon allein deshalb ist Wissenschaft nie ein monolithischer Block, der Wahrheiten verkündet, denen die Gesellschaft dann folgen kann oder soll. Wenn man meint, dass die wissenschaftliche Urteilsbildung mit der Suche nach und der Diskussion über gute Gründe selbst nichts weiter ist als ein Fall ihres Gegenstandes, nämlich Materie, deren Bewegung durch die Naturgesetze bestimmt ist, dann zerstört man die Wissenschaft: Aus Materie in Bewegung – und sei es das Feuern von Neuronen – folgt nur weitere Bewegung von Materie, aber kein Urteil, keine Theorie und generell keine Erkenntnis, für die es Gründe gibt und die man durch die gemeinsame Suche nach Gründen verbessern kann.1

Generell gilt: Freiheit ist die ‹condition humaine›. Wenn wir denken und handeln, dann sind wir frei, weil es beim Denken und Handeln – und nur bei diesem – Sinn ergibt, nach Gründen zu fragen. Nichts, das uns gegeben ist – Sinneseindrücke, das Feuern von Neuronen, Gene, biologische Begierden und Bedürfnisse usw. – ist als solches selbst ein Grund für ein Urteil oder eine Handlung. Es wird dazu, wenn wir es zum Grund für ein Urteil oder eine Handlung machen und dann Rechenschaft dafür schuldig sind, wieso wir so und nicht anders geurteilt und gehandelt haben. Freiheit ist durchaus fordernd – genauso wie der Rechtsstaat fordernd ist, indem er die Mündigkeit seiner Bürger und Bürgerinnen einfordert.

Diese Anforderung der Freiheit kann in einer Krise zur Last werden, und man sucht nach Orientierung. Es gibt heute keine einheitliche Religion mehr, die für die Gesellschaft eine solche Orientierung bieten könnte. Die Versuchung ist groß, Wissenschaft an deren Stelle zu setzen. Das Ergebnis ist dann ein technokratisches Menschenbild: Man behandelt die Menschen wie physikalische Objekte, deren Bahnen man gemäß naturwissenschaftlichen Modellrechnungen steuern kann und soll.

Die Erosion von Wissenschaft und Rechtsstaat in der Corona-Krise

Das technokratische Menschenbild gibt als solches allerdings kein Ziel und keine Norm vor, auf das bzw. die hin man die Bahnen der Menschen steuern soll, weil die naturwissenschaftlich beschriebene Bewegung der Materie kein Ziel und keine Norm in sich hat. Darin unterscheidet sich das naturwissenschaftliche Wissen von dem Wissen, das Platon vorschwebt. Aber hier liegt ein Ersatz nahe, nämlich Überleben bzw. Gesundheit: Um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können – um also die Grundrechte ausüben zu können, die der Rechtsstaat sichert –, ist ein gewisses Maß an Gesundheit erforderlich. Wenn diese bedroht ist, nutzt einem die Freiheit nichts mehr zur Lebensgestaltung. Deshalb, so scheint es, ist die technokratische Steuerung der Bewegungen der Menschen in Bezug auf die Erhaltung von deren Gesundheit erforderlich und gerechtfertigt: Diese technokratische Steuerung, so scheint es, gefährdet nicht die Freiheit, sondern ermöglicht erst deren Ausübung.

Ersteres ist eine Trivialität, Letzteres ein Trugschluss. Es gibt kein allgemeines Gut der Gesundheit, auf das hin eine technokratische Steuerung der Gesellschaft möglich wäre. Denn niemand lebt für das Leben allein, sondern für das, was der eigenen Existenz einen Sinn gibt. Um das Lebensziel zu erreichen, geht jeder bestimmte Risiken ein. Dieses Lebensziel ist Kraftquelle und stiftet damit auch körperliche Gesundheit. Das Problem ist nun, dass es kein einheitliches Lebensziel für alle und keine einheitliche Risikoabwägung für alle gibt. Deshalb scheitert der Versuch einer technokratischen Steuerung der Menschen auf Gesundheit hin als Bedingung für die Ausübung von Freiheit an eben dieser Freiheit, aufgrund derer die Menschen sich verschiedene Lebensziele setzen und Risiken abwägen. Dementsprechend richtet der Versuch einer solchen technokratischen Steuerung auf Gesundheit hin großen Schaden für eben diese Gesundheit an.

Wie man schon allein aus der Betrachtung der Statistiken aus den Ländern sieht, in denen es seit Anfang 2020 eine Übersterblichkeit gab, kann diese Übersterblichkeit, aufgeschlüsselt nach Ländern, Altersgruppen und Zeitspannen, nicht nur auf die Ausbreitung des Coronavirus zurückgeführt werden; es gibt auch Todesfälle aufgrund der politischen Maßnahmen, insbesondere der staatlich erzwungenen Einschränkung sozialer Kontakte, die für viele Menschen, darunter gerade ältere Menschen, eine Kraftquelle sind.2 Man kann nicht die Bewegungen der Menschen technokratisch steuern wollen, um die Ausbreitung eines Virus zu verlangsamen, und dadurch deren Gesundheit schützen, ohne dabei aufgrund der Einschränkung der sozialen Kontakte Todesfälle zu verursachen.

Generell ist aus den Statistiken ersichtlich: Es besteht keine Korrelation zwischen den sogenannten Corona-Schutzmaßnahmen mit Lockdowns bis hin zu Schul- und Geschäftsschließungen und der Anzahl der schweren Krankheitsverläufe und Todesfälle in der Bevölkerung.3 Der Vergleich zwischen verschiedenen Ländern in Europa sowie Gliedstaaten in den USA untereinander zeigt, dass man die Spital- und Todesfälle nicht verhindern kann durch technokratische Steuerung der Lebensbahnen der Menschen. Was nachweislich zu einem Unterschied führt, sind nicht politische Anordnungen, sondern der allgemeine Gesundheitszustand der Bevölkerung (zum Beispiel viele sich ungesund ernährende Personen in den USA), die Qualität des Gesundheitssystems und der wirtschaftliche und soziale Lebensstandard (beispielsweise von Weißen und Asiaten im Vergleich zu Afroamerikanern in den USA).

Daraus folgt: Die gigantische Verschwendung an Ressourcen mit den Lockdowns und ihre wirtschaftlichen und sozialen Folgen bedeuten, dass diese Ressourcen uns fehlen, um den Weg des wirtschaftlichen, medizinischen und sozialen Fortschritts fortzusetzen, der zu einer großen Verbesserung der Gesundheit und der Lebenserwartung geführt hat. Man fügt so dem Weg, durch den wir ein qualitativ besseres und ein zeitlich längeres Leben gewonnen haben, schweren Schaden zu. Die allermeisten von uns müssen für die Corona-Politik einen hohen Preis an beeinträchtigter Lebensqualität und wahrscheinlichem Verlust an Lebenszeit zahlen, ohne dass diese Politik einen nachweisbaren Nutzen hätte.4

Der Versuch der technokratischen Steuerung der Gesellschaft auf ein allgemeines Gut hin (wie Gesundheit) zerstört Wissenschaft und Rechtsstaat. Denn aus dem Gut ‹Gesundheit› folgen keine allgemeinen Handlungsanweisungen, die nicht dieses Gut schädigen. Also konstruiert man eine Realität, um glaubhaft zu machen, dass diese Steuerung doch möglich und erfolgreich ist.

Aktionismus anstelle von Forschung

Seit Frühjahr 2020 werden wir täglich mit Nachrichten zu Corona überschüttet, welche die Kulisse einer gefährlichen Situation für die gesamte Bevölkerung aufbauen, mit der dann die Fokussierung des gesellschaftlichen Handelns auf diese Gefahr hin erreicht werden soll. Doch ein nüchterner Blick auf die Zahlen – die belegbare Realität – zeichnet ein anderes Bild: Weltweit (einschließlich der asiatischen Länder) liegt die Infektionssterblichkeitsrate bei unter 0,25 Prozent, in den westlichen Ländern unter 0,5 Prozent und auch dort bei allen unter 70 Jahren bei weniger als 0,1 Prozent. Das entspricht alltäglichen Risiken.5 Die Zahlen der Krankenhausbelegungen für Deutschland 2020 zeigen, dass im Durchschnitt lediglich 2 Prozent der Betten und 3,4 Prozent der Intensivbetten mit Covid-Patienten belegt waren und auch in Spitzenzeiten im Landesdurchschnitt nie mehr als 5 Prozent der Betten.6 Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass es in einzelnen Krankenhäusern zeitweise durchaus zu Überlastungen gekommen ist; landesweit war das aber nie der Fall.

Diese Zahlen ermöglichen es, die Größenordnung der Gefahr einzuschätzen: Die Gefahr ist höher als bei einer Grippewelle. Sie erfordert zweifellos gezielten Schutz der gefährdeten Personen und allgemeine Hygieneempfehlungen wie Hände waschen, Abstand halten, regelmäßiges Lüften von Innenräumen etc. Aber wir haben es nicht mit einer außerordentlichen epidemischen Lage oder gar einer Notlage für die gesamte Gesellschaft zu tun, bei der ein Zusammenbruch des Gesundheitssystems droht. Weist man auf diese Zahlen hin, ist die Antwort häufig der Verweis auf mögliche, aber durch keine Statistik als signifikant belegte Gefahren wie Long-Covid-Erkrankungen, mögliche gefährliche Mutationen des Coronavirus (die sich im Übrigen auch durch Impfungen während einer Pandemie entwickeln können), mögliche weitere Virenwellen, die heftiger ausfallen könnten etc. Kurz: Die Reaktion ist die Flucht vor der ausweisbaren in eine konstruierte Realität.

Was die Abschätzung der Infektionssterblichkeitsrate, die Belastung des Gesundheitssystems und die nach Ländern, Alter und Zeit aufgeschlüsselte eventuelle Übersterblichkeit betrifft, so sind die Zahlen relativ leicht verfügbar, um die Gefährlichkeit des Virus einzuschätzen. An anderen Stellen brauchen wir dringend mehr Forschung. Es ist inzwischen aber gar nicht mehr möglich, mit wissenschaftlicher Neugier unvoreingenommen und gemäß den anerkannten wissenschaftlichen Methoden nach den Fakten zu suchen. Das markanteste Beispiel dafür ist die Impfung. Die Impfstoffe haben bisher nur eine bedingte Zulassung; diese ist für Notsituationen und besonders gefährdete Personengruppen gedacht, aber nicht für eine Impfung der gesamten Bevölkerung und schon gar nicht die Impfung von Kindern und Jugendlichen, die durch das Virus überhaupt nicht gefährdet sind. Wir wissen noch viel zu wenig darüber, wie wirksam die Impfstoffe sind und wie lange ihre Wirkung anhält. Auch ist unklar, inwiefern die Impfung auch Fremdschutz gewährt, indem Geimpfte das Virus nicht weiter verbreiten können. Unklar ist ferner, ob es mittel- und langfristige schwere Nebenwirkungen gibt, die über statistisch insignifikante Einzelfälle hinausreichen. Dazu wären systematische Studien mit Kontrollgruppen erforderlich (denen man ein Placebo statt dem Impfstoff spritzt und die man dann über eine längere Zeit beobachtet – ohne dass sie und die Beobachter wissen, wer geimpft wurde und wer ein Placebo erhielt). Indem man aber alle zur Impfung drängt, wenn nicht sogar zwingt, verhindert man die wissenschaftliche Untersuchung der Impfung. Politischer Aktionismus tritt so an die Stelle von wissenschaftlicher Forschung: Einige Wissenschaftler, Politiker und Medien konstruieren eine Realität, in der die Wissenschaft definitive Wahrheiten verkündet, die nicht nur Fakten sind, sondern die auch einen moralisch-normativen Status haben und die man daher sogleich politisch umsetzen kann und soll. Das ist ein Totalitarismus, der weder etwas mit Wissenschaft noch etwas mit dem Rechtsstaat zu tun hat.

Was die Forschung nach Kausalzusammenhängen betrifft, wird suggeriert, dass diejenigen, die im Zusammenhang mit einer Infektion mit dem Coronavirus sterben, ‹wegen› dieser Infektion sterben und es sich dabei um zusätzliche Todesfälle handelt, die ansonsten nicht eingetreten wären. Letztere Behauptung trifft nicht zu, wie der Blick auf die ziemlich begrenzte Übersterblichkeit zeigt, für die es zudem dort, wo sie tatsächlich besteht, mehrere Ursachen gibt, wie bereits erwähnt wurde. Bei Todesfällen zeitlich nach einer Impfung wird hingegen ein kausaler Zusammenhang mit der Impfung in der Regel pauschal, ohne empirische Untersuchung zurückgewiesen. Damit verhindert man, mit wissenschaftlichen Methoden etwas über die Wirklichkeit herauszufinden. Dazu müsste man systematisch eine repräsentative Anzahl der Todesfälle obduzieren, die nach einer Infektion mit dem Coronavirus oder nach einer Impfung verstorben sind.

Das Gefährliche hieran ist, dass man nicht nur die wissenschaftliche Objektivität, die Suche nach Fakten unterminiert, sondern auch die Gesellschaft spaltet. Dadurch wird der republikanische Rechtsstaat unterminiert. Dieser ist auf eine von allen geteilte Basis von Fakten angewiesen, auf deren Grundlage man zu Entscheidungen kommt und auf deren Grundlage dann vor allem Mehrheitsentscheidungen für die unterlegene Minderheit akzeptabel und nachvollziehbar werden. Wenn diese Minderheit hingegen meint, dass die Mehrheitsentscheidungen auf einer konstruierten Realität bzw. sogar regelrechten Lügen beruhen, dann sind diese Entscheidungen für sie nicht mehr nachvollziehbar und akzeptabel; dann droht der demokratische Rechtsstaat funktionsunfähig zu werden. Wenn wir keine systematischen, unvoreingenommenen Untersuchungen bekommen, dann kann die eine Seite immer behaupten, dass die Covid-Infektion ursächlich für die Todesfälle im Zusammenhang mit der Infektion ist, die andere Seite hingegen eine solche Kausalität zurückweisen und von einer herbeigetesteten Pandemie sprechen. Ferner kann die eine Seite behaupten, dass die Impfungen unschädlich sind, und die andere Seite daran festhalten, dass die Impfungen eine signifikante Anzahl von Todesfällen verursachen.

Die Spaltung der Gesellschaft und die Aushöhlung des Rechtsstaates wird ferner dadurch vorangetrieben, dass bestimmte Gruppen ausgegrenzt werden, wie zurzeit die Ungeimpften. Die Behauptung, dass die Ungeimpften die Pandemie antreiben, ist aber nachweislich falsch. Eine Momentaufnahme aus einzelnen Krankenhäusern hat keine statistische Aussagekraft. Statistisch signifikant sind Untersuchungen, die länderübergreifend die Entwicklung der Impfquote in einer Bevölkerung mit der Entwicklung des Infektionsgeschehens in dieser Bevölkerung vergleichen. Eine im September 2021 erschienene Übersicht, die Daten aus 68 Staaten und 2947 Bezirken in den USA auswertet, zeigt auf, dass keine Korrelation zwischen der Impfquote in der Bevölkerung und den nachgewiesenen Infektionen besteht.7 Daraus folgt, dass das Narrativ, gemäß dem die Ungeimpften die Pandemie antreiben und die Impfung der entscheidende Faktor ist, um die Ausbreitung des Coronavirus zu stoppen, haltlos ist. Um Erkenntnis und Wahrheit geht es bei diesem Narrativ nicht, sondern um soziale Kontrolle.

Diese Konstruktion einer Realität dient dazu, es als akzeptabel erscheinen zu lassen, dass Grundrechte von nun an vom Staat gewährt werden unter Bedingungen, welche die staatlichen Autoritäten festsetzen, wie zurzeit mit dem Nachweis, geimpft, genesen oder getestet zu sein. Damit wird jedoch der Rechtsstaat auf den Kopf gestellt. Die Grundrechte sind Abwehrrechte gegen äußere Eingriffe in die eigene Lebensgestaltung, die jedem Menschen von Natur aus zukommen, kraft seiner Würde, die in seiner Vernunft und Freiheit besteht – nach Gründen zu urteilen und zu handeln und damit frei von der automatischen Determination durch äußere Einflüsse zu sein. Die Grundrechte im Plural gelten bedingungslos. Im Singular untersteht jedes Grundrecht der Bedingung, in Konflikt mit anderen Grundrechten geraten zu können. Der Rechtsstaat schützt die Grundrechte im Plural und regelt die Konflikte unter ihnen. Zum Beispiel steht das Abwehrrecht gegen äußere Beschränkungen dessen, was man sagen darf (Meinungsfreiheit), im Konflikt mit dem Abwehrrecht gegen Beleidigungen. Dieser Konflikt erfordert eine gesellschaftlich anerkannte, staatliche Regelung der Grenze, jenseits der die freie Meinungsäußerung in eine Beleidigung übergeht. Diese Grenze kann man nur pragmatisch festsetzen, weil sie von sich wandelnden kulturellen und sozialen Praktiken abhängt.

Wenn jedoch die Gewährung von Grundrechten – wie Bewegungs- und wirtschaftliche Vertragsfreiheit – allgemein von staatlichen Bedingungen abhängig gemacht wird, dann wird aus dem Rechtsstaat ein totalitärer Staat, aus der offenen eine geschlossene Gesellschaft, und wir befinden uns in einem neuen Kollektivismus: Man setzt ein kollektives Ziel fest, auf das hin der Staat alles regelt (Totalitarismus, auf dieses Ziel hin geschlossene Gesellschaft), ohne durch die Grundrechte der Bürger eingeschränkt zu sein. Im Gegenteil, diese werden nur gewährt, insofern sie mit diesem absolut gesetzten Ziel einhergehen. Natürlich gab es auch im Kommunismus und im Nationalsozialismus Grundrechte für die Mitglieder der richtigen Klasse, Rasse oder Partei. Es ist schon erstaunlich, wie heute manche Wissenschaftler, Politiker und Medien in einem Atemzug Bekenntnisse gegen Diskriminierung ablegen und zugleich bestimmte Gruppen (wie Ungeimpfte) diskriminieren, weil für diese die Menschenwürde offenbar nicht gilt – genauso wenig wie sie für diejenigen galt, die damals nicht Mitglieder der Partei (oder der richtigen Klasse oder Rasse) waren. Für die Ausgrenzung heute gibt es ebenso wenig eine Grundlage in Fakten wie für die Ausgrenzung damals. Es ist eine Diskriminierung, die das Zeichen eines neuen Kollektivismus und Totalitarismus ist, der Wissenschaft und Rechtsstaat mit Füßen tritt.

Die real existierende Postmoderne

Während sich die Moderne durch das beschriebene Duo von Wissenschaft und Rechtsstaat auszeichnet, ist das, was wir zur Zeit erleben, die real existierende Postmoderne: Es ist eine konstruierte, postfaktische Realität, die mit Gewalt durchgesetzt wird. Es ist nicht so, dass in der Postmoderne jeder oder jede soziale Gruppe für sich eine Realität konstruiert, in der er oder sie lebt. Es gibt vielmehr weiterhin eine Realität für alle. Aber sie besteht nicht in der Suche nach Fakten durch Wissenschaft und Evidenz, sondern in der Konstruktion von Fakten, die man dann mit Gewalt als die Realität durchsetzt: Die mediale Dauerbeschallung zur Coronapandemie soll das Bild einer für die Allgemeinbevölkerung lebensbedrohlichen Pandemie in die Köpfe der Menschen setzen, das von einer Elite aus Politik, Wirtschaft und vorgeblicher Wissenschaft gezeichnet wird, weil es dieser Gruppe eine Macht verschafft, die sie durch Wissenschaft und Rechtsstaat nie erlangen könnte – die Macht, die Gesellschaft zu lenken gegen Recht und Gesetz. Die Moderne ist hingegen der Versuch, durch den Einsatz von Vernunft – realisiert in wissenschaftlicher Erkenntnis und im Grundrechte sichernden Rechtsstaat – Macht zu begrenzen.

Diese konstruierte Realität wird irgendwann auf die Wirklichkeit treffen. Je dreister die Konstruktion ist, desto größer wird der dann folgende Schock sein. Wenn aber Wissenschaft und Rechtsstaat einmal zerstört sind, dann besteht die Gefahr, dass selbst dann, wenn die konstruierte Realität der allgemeingefährlichen Coronapandemie an den realen gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen dieser Konstruktion zusammengebrochen sein wird, die Postmoderne sich fortsetzt. Es besteht die Gefahr, dass an die Stelle dieser konstruierten Realität eine andere, ebenso konstruierte Realität tritt und durchgesetzt wird, von welcher Gruppe auch immer, die dann die Macht dazu hat. Kurz, die Postmoderne kann gekommen sein, um zu bleiben.

Die Zukunft der Aufklärung

Das muss nicht eintreten. Es liegt in unserer Hand, den Gebrauch der Vernunft wieder zu beleben, durch den das Duo von Wissenschaft und Rechtsstaat an die Stelle der Herrschaft nackter Gewalt tritt. Mit Kants berühmter Definition der Aufklärung gesprochen, ist dazu nicht mehr erforderlich, als aus der Unmündigkeit herauszutreten, die heute durch unsere wissenschaftlichen und medialen Vormünder befördert wird, und es zu wagen, den eigenen Verstand zu gebrauchen.

Um die konstruierte Realität der allgemeingefährlichen Coronapandemie zu durchschauen, braucht man nur elementare Kenntnisse in Statistik. Es genügt schon, den Alltagsverstand einzusetzen: Wenn ein gefährliches Virus heraufzieht, dann sieht man dessen Folgen und dann schützt jeder sich selbst, weil man dann sieht, wie diejenigen, die ihr Verhalten nicht anpassen, sich infizieren und krank werden. Staatlicher Zwang ist dann allenfalls erforderlich, um Menschen bestimmter Berufsgruppen dazu zu zwingen, trotz der Gefahr ihrer Arbeit nachzugehen, um die medizinische Versorgung und die Versorgung mit Lebensmitteln aufrechtzuerhalten. Wenn der Staat stattdessen Zwang ausübt, um die Menschen in ihren Häusern einzusperren und ihnen soziale Kontakte zu untersagen, dann weiß man, dass man es mit einer konstruierten Realität zu tun hat. Wenn dann ein Impfstoff zur Verfügung steht, ist staatliche Organisation erforderlich, um den Impfstoff zunächst den am meisten gefährdeten Personen zur Verfügung zu stellen. Wenn der Staat aber de facto Zwang einsetzen muss, um eine bestimmte Impfquote durchzudrücken, dann weiß man, dass man es mit einer konstruierten Realität eines allgemeingefährlichen Virus und einer den Ausweg weisenden Impfung zu tun hat.

Das Gleiche gilt für andere Bereiche, in denen durch angebliche Wissenschaft geleitete staatliche Bevormundung um sich greift. Jeder ist in der Lage, diese vorgeführte Realität zu prüfen. Wenn genügend Menschen es wagen, ihren Verstand wieder zu gebrauchen, dann hat die Moderne mit dem Einsatz von Vernunft zur Begrenzung von Macht noch eine Chance: «Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!», was Kant als den Wahlspruch der Aufklärung bezeichnete, ist heute von derselben Aktualität wie in den vergangenen 200 Jahren. Dabei geht es nicht um die Freiheit als solche selbst: Niemand soll zur Mündigkeit um der Mündigkeit willen gezwungen werden. Der republikanische Rechtsstaat fordert die Mündigkeit seiner Bürger ein, weil nur er in der Lage ist, die Lebensgrundlagen der Menschen zu sichern. Es geht also um die Grundlagen für Lebensqualität, was auch immer dann Einzelne und soziale Gemeinschaften als ihren Lebensinhalt bestimmen mögen. Das liegt in der Freiheit jedes Einzelnen. Diese Freiheit sollten wir aus Gründen der gesellschaftlichen Verantwortung – der Sorge um den wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt – wieder respektieren.


Illustration: Fabian Roschka

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Footnotes

  1.  Ich habe dies in ‹Wissenschaft und Freiheit. Das naturwissenschaftliche Weltbild und der Status von Personen› (Suhrkamp 2019) ausgeführt.
  2. Siehe dazu Manfred Horst, A closer look at US 2020 mortality data, Brownstone Institute, 2. September 2021
  3. Siehe zum Beispiel Eran Bendavid et al., Assessing mandatory stay-at-home and business closure effects on the spread of COVID-19, in: ‹European Journal of Clinical Investigation› 51 (2021), e 13484; Vincent Chin et al., Effect estimates of COVID-19 non-pharmaceutical interventions are non-robust and highly model-dependent, in: ‹Journal of Clinical Epidemiology› 136 (2021), S. 96–132; R. F. Savaris et al., Stay-at-home policy is a case of exception fallacy: an internet-based ecological study, in: ‹Nature Scientific Reports› 11 (2021), Artikel Nr. 5313.
  4. Siehe für eine umfassende Bilanz z. B. die Bücher von Gunter Frank, Der Staatsvirus, Berlin, Achgut Edition 2021, und Christoph Lütge und Michael Esfeld, Und die Freiheit? Wie die Corona-Politik und der Missbrauch der Wissenschaft unsere offene Gesellschaft bedrohen, München, RIVA 2021.
  5. Siehe John P. A. Ioannidis, Reconciling estimates of global spread and infection fatality rates of COVID-19: an overview of systematic evaluations, in: ‹European Journal of Clinical Investigation› 51 (2021), e 13554.
  6. Siehe Boris Augurzky et al., Analysen zum Leistungsgeschehen der Krankenhäuser und zur Ausgleichspauschale in der Corona-Krise, RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, Technische Universität Berlin, 30. April 2021.
  7. Siehe S. V. Subramanian und Akhil Kumar, Increases in COVID-19 are unrelated to levels of vaccination across 68 countries and 2947 counties in the United States, in: ‹European Journal of Epidemiology›, DOI: 10.1007/s10654-021-00808-7, veröffentlicht 9. September 2021.

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