Den Grundsteinspruch der Anthroposophischen Gesellschaft hat Rudolf Steiner während der Weihnachtstagung 1923/24 gegeben. Am Dienstag, 25. Dezember, stellte er ihn den Mitgliedern vor und vom darauffolgenden Tag bis zum Dienstag, Neujahr 1924, brachte er ihnen die Inhalte näher. Dazu griff er die einzelnen Rhythmen des Spruches heraus, um jeden Tag etwas in der Seele zu bewegen, was einen Aspekt dieser Worte zum Ausdruck bringt. Am 13. Januar 1924 gab er den Mitgliedern die schriftliche Fassung des Spruches bekannt.
Es gibt viele Aspekte, unter denen diese einzelnen Rhythmen betrachtet werden können. Das zeigt sich in verschiedenen Publikationen, von denen ich hier zwei erwähnen möchte. Willem Zeylmans van Emmichoven hat in dem Büchlein ‹Der Grundstein› von 1956 auf eine innere Aktivierung des Ich in den verschiedenen Stufen des Bewusstseins hingedeutet, die dadurch eine neue Geistleiblichkeit im Menschen hervorruft. Sergej Prokofieff hat im Buch ‹Rudolf Steiner und die Grundlegung der neuen Mysterien› beschrieben, dass mit diesen Rhythmen die Stufen eines neuen christlich-rosenkreuzerischen Einweihungsweges im nachtodlichen Leben charakterisiert werden.
Es ist wichtig, zu bedenken, dass Rudolf Steiner während der Weihnachtstagung sagt, dass die Anthroposophische Gesellschaft, die während der Tagung begründet wurde, die modernste Gesellschaft sein soll. Es geht dabei nicht mehr um die Zustimmung zu Prinzipien, sondern um das rein Menschliche. Menschen haben Anschauungen und Auffassungen, die miteinander geteilt werden und so zu einem Erkenntnisgewinn beitragen können. Mein Eindruck ist, dass die Rhythmen des Grundsteinspruches uns helfen können, mehr Mensch und damit gesellschaftsfähiger zu werden; und dies nicht im konventionellen Sinne, sondern als Fähigkeit, die modernste Gesellschaft zu bilden. Die Rhythmen ermöglichen eine besondere Art von Selbsterkenntnis, die uns dazu befähigen kann. In dieser Hinsicht habe ich versucht, mit den Rhythmen zu leben. Wie sind sie zu verstehen und zu üben, damit sie uns helfen, mehr Mensch und damit gesellschaftsfähiger zu werden?
Mittwoch, 26.12.1923:
Rudolf Steiner gibt hier folgende Einführung: «Meine lieben Freunde! […] Ich möchte, nachdem ich diese Andeutungen, die ich in den nächsten Tagen vervollständigen werde, gesagt habe, auch heute vor Ihnen wiederholen wenigstens einen Teil der Worte, die mit dem Willen der geistigen Welt gestern zu Ihnen gesprochen worden sind, damit wir sie als Introduktion auch heute in unserer Seele haben, indem wir auf die Verhandlungen dann eingehen.»
Dann kommt der erste Teil der drei Strophen, die mit dem Ruf ‹Menschenseele!› beginnen. Rudolf Steiner setzt fort: «Und wir kommen mit solchen aus dem Weltenworte heraus gehörten Sprüchen zurecht, wenn wir sie in unseren eigenen Seelen so gliedern, dass sie uns nicht verlassen können. Und sie werden sich gliedern können, wenn Sie herausheben zunächst aus dem, was erklungen hat, dasjenige, was Ihnen den Rhythmus geben kann. Ich schreibe vor Sie hin, meine lieben Freunde, zunächst einen Teil dessen, was den Rhythmus geben kann. In der ersten Strophe ‹Geist-Erinnern›, in der zweiten Strophe ‹Geist-Besinnen›, in der dritten Strophe ‹Geist-Erschauen›. Das betrachten Sie im rhythmischen Zusammenhange mit dem, was da wird in der von sich selbst angerufenen Menschenseele, wenn es heißt: ‹Das eigne Ich im Gottes-Ich erweset›. Betrachten Sie den zusammenhängenden Rhythmus von ‹Geist-Besinnen›, wenn es da heißt: ‹Das eigne Ich dem Welten-Ich vereinen›, und von ‹Geist-Erschauen›, wenn es da heißt: ‹Dem eignen Ich zu freiem Wollen schenken›. […] Nehmen Sie dasjenige, was aus dem Weltenrhythmus heraus rhythmisiert: ‹eigne Ich im Gottes-Ich›, ‹eigne Ich im Welten-Ich›, ‹eigne Ich im freien Wollen›. Und nehmen Sie das, was aufsteigt von ‹erweset› zu ‹vereinen›, zu ‹schenken›, wo es übergeht in die moralische Empfindung. Empfinden Sie den Zusammenhang mit dem ‹Geist-Erinnern›, ‹Geist-Besinnen› und ‹Geist-Erschauen›: dann werden Sie in dem inneren Rhythmus dasjenige haben, was in diesen Tagen die geistige Welt wirklich zu uns bringt zur Erhebung unserer Herzen, zur Erleuchtung unseres Denkens, zur Beflügelung und Enthusiasmierung unseres Wollens.»
Heinz Zimmermann hat darauf hingewiesen, dass Rudolf Steiner, wenn er an die Tafel schreibt, bei der dritten Strophe nicht schreibt ‹dem eigenen Ich›, sondern ‹das eigene Ich zu freiem Wollen schenken›. Grammatisch müsste hier eigentlich ein Dativ sein. Aber laut Heinz Zimmermann ist es Rudolf Steiner wichtig, dass dreimal ‹das eigene Ich› angesprochen wird.
Es ist wichtig, dass wir uns am Eingang dieses Mittwochsrhythmus auf ‹Geist-Erinnern›, ‹Geist-Besinnen›, ‹Geist-Erschauen› beschränken und ‹Übe› weglassen. Damit wird auf drei Bereiche in der Menschenseele hingewiesen: den Bereich des ‹Geist-Erinnerns› in Seelentiefen, den Bereich des ‹Geist-Besinnens› im Seelengleichgewichte, und den Bereich des ‹Geist-Erschauens› in Gedankenruhe.
In unserer heutigen Inkarnation können wir diese Bereiche in der Seele entdecken. Sie sind ein Geschenk des Inkarniertseins. Jeden Morgen können wir diese Bereiche in der Seele entdecken: die Seelentiefen, das Seelengleichgewicht und die Gedankenruhe – um dann zu empfinden, dass das eigene Ich im Gottes-Ich erweset, die wogenden Welten-Werde-Taten das eigene Ich dem Welten-Ich vereinen und dem eigenen Ich Welten-Wesens-Licht zu freiem Wollen geschenkt wird. Das sind die Schicksalsgegebenheiten dieser Inkarnation. Die Gotteswelt hat es so weit gebracht in der Schöpfung, dass wir das eigene Ich im Gottes-Ich erleben können. Durch die Tat Christi ist es unserem Schicksal gegeben, das eigene Ich mit dem Welten-Ich zu vereinen. Und durch das große Geschehen, das Rudolf Steiner im Karmavortrag vom 28. Juli 1924 andeutet, sind wir wie in einem Weltengewitter von Herzmenschen zu Kopfmenschen geworden. So konnte die kosmische Intelligenz zur eigenen Intelligenz werden. So kann uns Wesenslicht zu freiem Wollen geschenkt werden. Das ist die Grundlage der ‹Philosophie der Freiheit›, dass wir Eigenwollen und -verantwortung entwickeln können aus dem Licht, das wir geschenkt bekommen. Es scheint mir, dass wir durch den Mittwochsrhythmus aufgerufen werden, unsere Inkarnationsgegebenheit zu vergegenwärtigen: Was heißt es, als Menschen-Ich in einem physischen Leib inkarniert zu sein? Welche Möglichkeiten sind dem Menschen-Ich dadurch gegeben?
Donnerstag, 27.12.1923:
Rudolf Steiner fängt mit dem ersten Teil der drei Strophen an und sagt dann weiter: «Wiederum wollen wir aus diesen Weltensprüchen einen Rhythmus uns vor die Seele schreiben, um allmählich geistig zur Struktur vorzudringen. Wir nehmen aus dem ersten Spruch die Worte ‹das eigene Ich im Gottes-Ich erweset› und wir nehmen aus dem zweiten Spruch, der einen zweiten Seelenprozess in sich enthält, ‹das eigene Ich dem Welten-Ich vereinen› und wir nehmen aus dem dritten Spruch ‹dem eigenen Ich zu freiem Wollen schenken›. Und wir vereinigen damit zu dem entsprechenden Rhythmus die Worte, an den diese Worte immer anklingen und die einen inneren Seelenzusammenhang immer haben mit demjenigen, was ich hier auf die Tafel geschrieben habe.»
Aus der ersten Strophe: ‹Und du wirst wahrhaft leben im Menschen-Welten-Wesen›. Aus der zweiten: ‹Und du wirst wahrhaft fühlen im Menschen-Seelen-Wirken›. Die dritte Strophe klingt aus: ‹Und du wirst wahrhaft denken in Menschen-Geistes-Gründe›. Er schreibt an die Tafel: ‹leben, fühlen, denken›, und dann: ‹Menschen-Welten-Wesen, Menschen-Seelen-Wirken, Menschen-Geistes-Gründen›.
«Sie werden finden, meine lieben Freunde, dass, wenn Sie auf die inneren Rhythmen achten, die in diesen Sprüchen liegen, wenn Sie diese inneren Rhythmen der Seele dann gegenwärtig machen und eine entsprechende Meditation, das heißt, ein gedankliches Ruhen darüber in sich selber anstellen, diese Aussprüche dann zu empfinden sind wie die Aussprüche der Weltengeheimnisse, insofern diese Weltengeheimnisse in der Menschenseele auferstehen als menschliche Selbsterkenntnis.» So dicht formuliert Rudolf Steiner das. An diesem Donnerstag werden zuerst drei Aspekte des Ich ausgesprochen: ‹das eigene Ich› im Nominativ. Dann ‹das eigene Ich› im Akkusativ: die wogenden Welten-Werde-Taten vereinen das eigene Ich mit dem Welten-Ich. Und dann ‹dem eigenen Ich› im Dativ: dem eigenen Ich wird Licht geschenkt. Es folgen die Verben: leben, fühlen, denken. Das eigene Ich wird in dreifacher Weise angesprochen, innerlich aktiv zu werden, und dadurch befähigt, wahrhaft zu leben, zu fühlen und zu denken.
Und dieses wahrhafte Leben, Fühlen und Denken des eigenen Ich kann sich ereignen, wenn es sich in Beziehung setzt mit seiner ätherischen Leiblichkeit. In dieser Leiblichkeit ist das Lebensätherische, das Ton- oder Klangätherische und das Lichtätherische wirksam. Sie tragen das wahrhafte Leben, Fühlen und Denken. Durch den Rhythmus wird dieses Ätherische aktiviert und wir fangen an, zu leben im Welten-Wesen, zu fühlen im Seelen-Wirken und zu denken in Geistes-Gründen. Es geht etwas vom Menschen aus und ist in der Umgebung wirksam.
Freitag, 28.12.1923:
Nach dem Aussprechen des ersten und dem Anfang des zweiten Teils der drei Strophen fährt Rudolf Steiner fort: «Und nun, meine lieben Freunde, wollen wir uns wiederum den inneren Rhythmus in die Seele schreiben, der uns nahebringen kann, wie aus dem Weltenrhythmus heraus gerade diese Worte ertönen. Erster Spruch: ‹Übe Geist-Erinnern›. Es ist das die Tätigkeit, die in der eigenen Seele sich vollziehen kann. Sie entspricht draußen im großen Weltenall demjenigen, was zum Ausdrucke kommt mit den Worten: ‹Denn es waltet der Vatergeist der Höhen in den Weltentiefen Sein-erzeugend›. Das Zweite ist das ‹Übe Geist-Besinnen›, der Vorgang im Innern, dem da antwortet draußen im Weltenall: ‹Denn es waltet der Christuswille im Umkreis, in den Weltenrhythmen Seelen-begnadend›. Und das Dritte ist: ‹Übe Geist-Erschauen›, es antwortet draußen: ‹Denn es walten des Geistes Weltgedanken, im Weltenwesen Licht erflehend›.» Das wird an die Tafel geschrieben.
Was heißt ‹Übe Geist-Erinnern, ‹Übe Geist-Besinnen›, ‹Übe Geist-Erschauen›? Wie mache ich das? Ich bin jetzt aufgefordert, zu üben. Welche Erfahrung habe ich? Wie verstehe ich das ‹Geist-Erinnern›, ‹Geist-Besinnen›, ‹Geist-Erschauen›? Ich möchte einen Aspekt teilen: Das ‹Geist-Erinnern in Seelentiefen› hat meines Erachtens mit den mannigfaltigen Arten der Rückschau zu tun. Das ist eine Art des ‹Geist-Erinnerns›. Wir werden aufgefordert, dieses ‹Geist-Erinnern›, im Zusammenhang mit dem Makrokosmischen, zu üben und dies wiederholt, möglichst täglich, zu machen, sodass es zu einem inneren Bedürfnis wird.
Das ‹Geist-Besinnen im Seelengleichgewicht› hat meines Erachtens mit den sechs Nebenübungen zu tun. Die sind wichtig, um ein Seelengleichgewicht immer wieder neu zu erlangen. Als Menschheit sind wir unbewusst über die Schwelle gegangen – das hat zur Folge, dass das ‹normale Leben› nicht mehr selbstverständlich als das ‹gesunde Leben› betrachtet werden kann. Die Gesundheit des Menschen braucht die innere Aktivität des Sich-ins-Gleichgewicht-Bringens. Und die sechs Nebenübungen ermöglichen dieses Gleichgewicht. Fehlt mir dieses Seelengleichgewicht, dann fehlt mir auch der Innenraum, der Besinnungsraum des Innehaltens, des Sich-aussprechen-Lassens.
Im ‹Geist-Erschauen›, was auch jeden Tag geübt werden möchte, scheint mir die Aktivität des Meditierens direkt angesprochen zu sein. Rudolf Steiner beschreibt im ersten Kapitel des Büchleins ‹Die Schwelle der geistigen Welt› Schritt für Schritt, wie man meditiert, wie ich meine Seele so ergreife, dass sie meditationsreif wird und dadurch das ‹Geist-Erschauen› entstehen kann. Gedanken werden schau- und hörfähig, sodass sich in der Meditation ein unmittelbares Berührtwerden von der geistigen Welt vollziehen kann. Meines Erachtens sind das drei Elemente des Übens, des Geist-Erinnerns, des Geist-Besinnens und Geist-Erschauens, die sich ergänzen und sich wie ein Gestirn wechselseitig halten. Diese Wechselseitigkeit im Üben ermöglicht es uns, mehr Mensch zu werden.
Durch das Üben befähigen wir uns, uns mit den waltenden Kräften der Trinität – des Vatergottes, des Sohnesgottes und des Geistesgottes – ins Verhältnis zu setzen. Ich möchte hier den indirekten Weg erwähnen. Das heißt, dass ich, so gut ich es kann, diese Übungen während des Wachlebens mache und dann in den Schlaf hineingehe, also auch den Nachtmenschen in diese Tätigkeit einbeziehe. Im Schlaf können die Früchte der Übungen wirksam werden, die dann ins Tagesleben auf indirekte Weise hineinwirken können.
Die Beziehung zu den Kräften der Trinität ist ein inneres Bedürfnis des heutigen Menschen. Das beschreibt Rudolf Steiner in dem Vortrag ‹Wie finde ich den Christus?› (siehe GA 182, Vortrag vom 16. Oktober 1918). Wenn diese ‹Hinneigung› nicht wahrgenommen wird, ist das eine Art Krankheit dem Vatergott gegenüber oder ein Unglück dem Sohnesgott gegenüber oder eine Stumpfheit dem Geistesgott gegenüber. Diese ‹Hinneigung› lebt in uns. Deswegen sind wir aufgefordert, das Leben übend in die Hand zu nehmen, sodass in der Nacht die Berührung mit den Kräften der Trinität stattfinden kann. Rudolf Steiner beschreibt das in wunderbarer Weise. In der Nacht geht der Astralleib und das Ich aus dem Leib heraus. Da wird der astralische Mensch der ‹Richter der Seele› (siehe GA 208, Vortrag vom 13. November 1921). Alles, was wir hier im Leben erleben, was auf uns zukommt, was wir zu verarbeiten haben, bringen wir hinein in die ‹moralische Welt›. Und da wird es angeschaut aus den Kräften der Trinität. Dadurch entsteht auch eine gewisse Reinigung des Astralleibes. Wenn der Mensch aus seinem Ich heraus diese Übungen macht, kann er in der Nacht berührt werden von den Kräften der Trinität. Der Astralleib kann dadurch empfänglicher werden für die menschlichen Werte und Ideale.
Samstag, 29.12.1923:
Hier wird wiederum mit den Zeilen des ‹Übe› angefangen. Rudolf Steiner bemerkt dazu, dass «dasjenige, was in der Menschenseele stattfindet, […] seine Beziehungen zu allem Wesenhaften im Geist-, Seelen- und Leibes-Kosmos» hat. So werden dann die Hierarchien angerufen. «Seraphim, Cherubin, Throne, lasset aus den Höhen erklingen, was in den Tiefen das Echo findet.» Als Zweites: «Kyriotetes, Dynamis, Exusiai, lasset vom Osten befeuern, was durch den Westen sich gestaltet.» Und als Drittes: «Archai, Archangeloi, Angeloi, lasset aus den Tiefen erbitten, was in den Höhen erhöret wird.»
Nun ist es bemerkenswert, dass Rudolf Steiner an der Tafel die Namen der Hierarchien nicht ausschreibt, sondern nur als Initialen notiert. Als er dann am 13. Januar 1924 den Grundsteinspruch schriftlich an die Mitglieder herausgibt, kommen die Namen überhaupt nicht mehr vor. Dann heißt es ‹Kräfte-Geister, Lichtes-Geister, Seelen-Geister›. In dieser Behandlung der Namen der Hierarchien scheint mir etwas Unausgesprochenes und zugleich Bewegendes zu liegen. Ähnlich spricht Rudolf Steiner über das Ich des Menschen. Ich kann nur zu mir selbst ‹ich› sagen. Wenn wir einem Kind einen Namen geben, sollte es aus einer Wesenserkenntnis heraus geschehen. Diese Art von Wesenserkenntnis wird meines Erachtens im Samstagsrhythmus angesprochen. Wenn die Übungen ernsthaft gemacht werden, kann im Schlaf eine Wesensbegegnung mit den Wesen der Hierarchien stattfinden. Dadurch befähigen wir uns, ihr Wirken innerlich mitzuvollziehen: Sie lassen aus den Höhen erklingen, was in den Tiefen das Echo findet, sie lassen vom Osten befeuern, was durch den Westen sich gestaltet, sie lassen aus den Tiefen erbitten, was in den Höhen erhöret wird. Wenn wir als Tagesmenschen die Übungen machen, dann dürfen wir im Schlaf als Nachtmenschen diese Begegnung mit den Hierarchien und ihren Tätigkeiten haben. Und diese Wesensbegegnung kann umso mehr stattfinden, je mehr das Ich das Opfer seiner selbst, das Opfer des im Leibe wirkenden Geistes wird (siehe GA 208, Vortrag vom 13.11.1921). Hier kommen wir zu einer Dimension des Ich, wo das Ich nicht mehr selbstbehauptend ist, sondern sich so viel aus den Übungen angeeignet hat, dass es opferfähig wird. Ein Opfer ist kein Opfer, wenn es nicht aus dem Innersten heraukommt. Das scheint mir die Qualität des Samstagsrhythmus zu sein: diese Übungen sich so zu eigen machen, dass eine Wesensbeziehung zu den Wesen der Hierarchien stattfinden kann. Eine Wesensbegegnung, die dadurch ermöglicht wird, dass das Christuswesen sich verbindet mit dem menschlichen Ich, das menschliche Ich durchdringt.
Sonntag, 30.12.1923:
Rudolf Steiner schreibt erneut die drei Übungen an die Tafel, und zwar wie ein Gewölbe im Zusammenhang (so wie auf der Tafelzeichnung sichtbar). Dann folgen die Worte: «Und fassen wir heute, meine lieben Freunde, zusammen dasjenige, was dreifach beim Menschen sprechen kann: ‹Übe Geist-Erinnern›, ‹Übe Geist-Besinnen›, ‹Übe Geist-Erschauen›. Recht zusammenschließen wird dieses im Menschenherzen doch nur dasjenige, was wirklich in der Zeitenwende erschienen ist und in dessen Geiste wir hier wirken und weiterstreben wollen.» Dann wird die vierte Strophe: ‹In der Zeitenwende …› gesprochen. Und Rudolf Steiner schreibt an die Tafel, ‹dass gut werde, was wir aus Herzen gründen, aus Häuptern zielvoll führen wollen›. Mit diesem Rhythmus am Sonntag, dem fünften Rhythmus, wird das übende Element Grundlage für dasjenige, was wir wollen, und dafür, dass das gut werde. Was wir wollen, braucht die Grundlage des Übens, damit es gut werde. Damit wird die ganze menschliche Seelenverfassung angesprochen. Das ist das Wunderbare am letzten Teil. Das Herz, das Haupt und das gemeinsame Wollen. Hier scheint mir eine Qualität des Menschen angesprochen zu werden, von der Rudolf Steiner sagt, dass eine Zeit kommen wird, wo das Menschen-Ich nicht mehr so sehr im Innern des Menschen zu finden ist, sondern sich viel mehr im anderen Menschen ausspricht. Das sagt er nach Ende des Ersten Weltkrieges (siehe GA 187, Vortrag vom 27. Dezember 1918).
Auch schon am 9. Oktober 1918 sagt er im Vortrag ‹Was tut der Engel in unserem Astralleib?›, dass der Engel anfängt, wirksam zu werden in dem gereinigten Astralleib. Wir können an drei Idealen erwachen, denen wir als Menschen im Leben nachgehen können. Im Jahre 1915 sagt er noch, dass sie für die nächste Kulturperiode wichtig seien. Im Jahre 1916 geht es um die Seelische Not der Gegenwart. Und im Jahre 1918 geht es darum, was der Engel in unserem Astralleib tut. Mir scheint, dass das ‹Übe Geist-Erinnern› mit dem ersten Ideal der Geschwisterlichkeit, der Solidarität, zu tun hat. Wenn ich in meinen Seelentiefen ‹Geist-Erinnern› übe, dann befähige ich mich, ein Bruder, eine Schwester für meine Mitmenschen zu sein. Und durch das ‹Übe Geist-Besinnen› kann ich ein Seelengleichgewicht finden, das mich befähigt, in mir selbst und in dem anderen Menschen ‹ein verborgenes Göttliches› zu sehen und dadurch einen Freiheitsraum zu bilden, in dem die Menschenwürde leben kann. Das ‹Übe Geist-Erschauen› kann sich in der Meditation so öffnen, dass der Sinn der Dinge sich manifestieren kann. Das Leben kann somit eine Sinnorientierung bekommen. Gedankenkräfte vertiefen sich, um den Geist der Dinge, den Sinn zu erschauen. Das sind die drei Ideale, die wir heute brauchen. Unbewusst als Menschheit über die Schwelle zur geistigen Welt gegangen, ist es jetzt an der Zeit, uns als Menschen zu befähigen, bewusst an der Schwelle zu stehen; bewusst die drei Ideale der heutigen Zeit zu leben und dadurch das Geistselbst im Menschen zu entwickeln und zu stärken.
Montag, 31.12.1923:
Das Auffällige beim Montagsrhythmus ist, dass er mit dem Anfang des zweiten Teils der vierten Strophe beginnt: ‹Göttliches Licht, Christus-Sonne›, und Rudolf Steiner dann zurückkehrt zu den letzten zwei Zeilen der ersten drei Strophen, also ein Rückbezug auf das Makrokosmische, verbunden mit dem Wunsch, dass Menschen es hören mögen. Rudolf Steiner: «Und wir prägen uns dieses ‹Göttliches Licht, Christus-Sonne› so ein, dass wir insbesondere die Schlussworte, die morgen wiederum dreigliedrig gesprochen werden sollen, darauf beziehen: wie dieses göttliche Licht, diese Christus-Sonne leuchten, sodass sie wie die leuchtenden Sonnen gehört werden können von Osten, Westen, Norden, Süden.»
Die Christus-Sonne fängt an, in der Äthersphäre zu tönen. Das hören die Elementargeister. Der Wunsch ist dann: ‹Menschen mögen es hören!› Licht, das gehört wird! Das ist etwas Besonderes. In die Äthersphäre tritt das göttliche Licht ein. Die Christuswesenheit tritt in die Äthersphäre ein, und dem Menschen wird zugesprochen, das auch zu hören. So wird im Menschen etwas Lichthaftes angeregt und gebildet: das Wesensglied des Lebensgeistes. Dieses Wesensglied bildet sich durch eine Verwandlung der Äthersphäre, in der dann das Licht gehört werden kann. Eine Sphäre, in der der Auferstandene erlebt werden kann.
Dienstag, 1.1.1924:
Die ersten drei Strophen werden bis zu den Rosenkreuzerworten ausgesprochen. Dann sagt Rudolf Steiner: «Einen einfachen Rhythmus schreiben wir heute in unsere Seelen ein: ‹Du lebest in den Gliedern, denn es waltet der Vatergeist der Höhen in den Weltentiefen Sein-erzeugend. Du lebest im Herzens-Lungen-Schlage, denn es waltet der Christuswille im Umkreis in den Weltenrhythmen Seelen-begnadend. Du lebest im ruhenden Haupte, denn es walten des Geistes Weltgedanken im Weltenwesen Licht-erflehend.› Wenn ich Ihnen so die Rhythmen im Zusammenklange aufschreibe, so ist es, weil darin wirklich ein Abbild liegt von den Stern-Konstellationen. Man sagt: Saturn steht im Löwen, Saturn steht im Skorpion. Davon hängen Rhythmen ab, die durch die Welt gehen. Geistiges Ursprungsbild liegt in solchen Rhythmen, wie ich sie aus unseren Sprüchen, die durchaus innerlich geistig-seelisch organisiert sind, im Laufe dieser Tage aufgeschrieben habe.»
Das Mikrokosmische wird verbunden mit dem Makrokosmischen. ‹Du lebest in den Gliedern, denn es waltet …›. In diesem Dienstagsrhythmus kann eine Entsprechung zwischen dem mikrokosmischen und dem makrokosmischen Menschen meditiert werden. Diese zwei Seiten des Menschen werden vollständig in Einklang miteinander gebracht. Hier bildet sich der Ansatz zum Geistesmenschen. Der Mensch baut seinen Geistkörper, das heißt das Wesensglied des Geistesmenschen, innerhalb der Geistwelt auf.
Wenn wir so die Rhythmen meditieren, werden wir jede Woche durch die Wesensglieder des Menschen geführt. Am Mittwoch: Das Ich vergegenwärtigt sich, wie es im physischen Leib inkarniert ist. Am Donnerstag: Das Ich wird im Ätherleib tätig und befähigt sich dadurch, wahrhaft zu leben, zu fühlen und zu denken. Am Freitag: Das Ich ergreift die Übungen und setzt sich dadurch auf indirekterem Wege in Beziehung zum Astralleib; in der Nacht wird der astralische Leib gereinigt. Am Samstag: Das Ich wird durch die Übungen so verstärkt, dass es in der Nacht opferfähig und dadurch eine Wesensbegegnung mit den Hierarchien ermöglicht wird. Durch diese Aktivierung des Ich, die zu einer ichhaften Opferfähigkeit führt, können dann in dem Sonntags-, Montags- und Dienstagsrhythmus die höheren Wesensglieder des Menschen (Geistselbst, Lebensgeist und Geistesmensch) angesprochen und in Entwicklung gebracht werden.
Die Rhythmen sind uns als Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft gegeben. Wir feiern unsere Gesellschaft als modernste Gesellschaft, das heißt als eine Gesellschaft, die dem Zeitgeist, Michael dienen möchte. Das Leben mit den Rhythmen ermöglicht es uns, immer mehr Mensch und dadurch gesellschaftsfähiger zu werden!
Vortrag, gehalten während der Weihnachtstagung 2018 am Goetheanum.
Titelbild: Du lebest in den Gliedern,
Die dich durch die Raumeswelt
In das Geistesmeereswesen tragen …
Zu den Vignetten: Sie sind entstanden in dem Versuch, aus den Gesten und Richtungen des Spruchs eine seelische Architektur entstehen zu lassen, die etwas gemeinsam mit den Formkräften des Zweiten Goetheanum hat. Meine Frage: Welches seelische Gebäude entsteht aus den Gesten des Spruchs? Ich habe mich von den Raumesrichtungen (Höhen, Tiefen, …) und den Tätigkeiten im Spruch leiten lassen.
Ella Lapointe Malerin und Illustratorin. Sie lebt und arbeitet in Ghent, New York.
Der hier veröffentliche Grundsteinspruch ist leider fehlerhaft. Es muss heißen:
im 1. Teil Weltenschöpfer-Sein (nicht Weltschöpfer-Sein).
und im 3. Teil Weltgedanken. ( nicht Weltengedanken ). Bite überprüfen Sie das und bitte
sobald wie möglich korrigieren.(seit 100 Jahren wurde richtig gemacht und jetzt plötzlich so?) Mit Dank vorab und freundlichen Grüßen und den Wünschen für ein neues Jahr ohne Druckfehler: Eckehart Ohler
Wie schön, das Sie noch auf dieses älteres (mittlerweile fast 5 Jahre alte) Artikel gestossen sind! Da hat sich tatsächlich ein Fehler reingeschlichen, und ist der letzte Silbe bei Weltenschöpfer-Sein weggefallen. Es ist jetzt korrigiert (sowie die Formatierungsproblemen). Weltgedanken findet sich schon so im Text, da brauchte ich nichts mehr zu machen.