Adrien Jutard, freischaffender Künstler und Grafiker des ‹Goetheanum›, besuchte 2014 mit einer Delegation von Kunstschaffenden die Ausstellung ‹Manifesta 10› in der Ermitage in St. Petersburg. Zu sehen waren Fotografien von den Protesten auf dem Maidan-Platz in Kiew und eine Installation von Thomas Hirschhorn. Kunst nimmt die Wirklichkeit vorweg, holt die Zukunft herein. Wie sehr das gilt, zeigt sich jetzt, aus der Perspektive acht Jahre später. Wolfgang Held im Gespräch mit Adrien Jutard.
Wie kam es zu dem Ausflug ins Herz der russischen Kunst?
2013 hat unsere Künstlergruppe die Biennale in Istanbul besucht und 2014 reisten wir an die Ausstellung ‹Manifesta›. Dieses herausragende Kunstevent findet alle paar Jahre an verschiedenen Orten statt. Jetzt war St. Petersburg dran.
Wie wirkt die Stadt auf dich?
Ein Bild ist mir in Erinnerung geblieben: In einem Park der Stadt sah ich eine Frau, die sich aus Akazienblättern eine Krone geflochten hatte und diese auf dem Kopf trug – schöne gelblich-rötliche Blätter um die Stirn. Was für eine interessante Inszenierung, die aber nicht zu dem slawischen ernsten Klang der Stadt passen wollte. So wirkt auch der berühmte Newski-Prospekt. Westliche Kultur und westliche Ökonomie standen einem ganz anderen inneren Lebensgefühl gegenüber. Es hatte etwas überaus Künstliches, dieses Nebeneinander dieser zwei Welten.
Und die Ermitage?
Das Museum, vielleicht das berühmteste in diesem unermesslichen Land, wurde in einem Flügel erneuert und dieser Teil beherbergte die Ausstellung ‹Manifesta›. Das ist ziemlich genau der Ort, an dem die Russische Revolution begonnen hat. Und wieder diese Diskrepanz: Da ist dieser wunderbare neue Museumsbau und gleichzeitig steht hinter dem Kontrolleur für die Tickets jemand, der nichts anderes zu tun hat, als ihn zu kontrollieren. Da scheint das Sowjetreich stehen geblieben zu sein. Uns interessierte nun die eigentliche Ausstellung, und das war schon eine merkwürdige Koinzidenz: Da waren die Fotografien von Boris Mikhailov über die Proteste vom Maidan-Platz von November 2013 und Februar 2014. Der ukrainische Fotograf hatte die protestierenden Menschen in ihrer Natürlichkeit und Alltäglichkeit auf das Papier gebannt. Da war nichts Heroisches, und gerade diese Nüchternheit hatte mich beeindruckt. Mikhailovs Bilder sind soziale Dokumente. Er verschönert, er romantisiert die Revolution nicht.
Dann war da das Kunstwerk ‹Abschlag› des schweizerischen Künstlers Thomas Hirschhorn zu sehen. Eine gewaltige Installation, oder?
Das Kunstwerk hat gewaltige Dimensionen, es geht über drei Stockwerke, über zehn Meter. Wir blieben lange vor dem Monument, und das ist es – stehen. Mit Karton und Pappe hat er eine aufgerissene Häuserfront inszeniert. Auch hier, eine Ästhetik, die nichts verschönert. ‹Abschlag› soll hier bedeuten, dass die Zerstörung dem Haus sein Gesicht nimmt und zugleich verborgene Räume, verborgene Zusammenhänge sichtbar macht. «Vergessene Teile der Geschichte kommen wieder ans Tageslicht», so schreibt er selbst. Ihm lag auch an den zwei Dimensionen der Zerstörung: die senkrechte durch das aufgerissene Haus und die horizontale durch die verstellten Wege am Boden.
Die Drohnenflüge über die Häuserruinen von Mariupol und Charkiw haben sich ins Weltbewusstsein eingeschrieben. Das hat Hirschhorn vorweggenommen?
Ja! Für uns im heilen Mitteleuropa ist ja Zerstörung, in all ihrer Trostlosigkeit und Hässlichkeit, ganz fremd. Hirschhorn hat es uns schon vor sieben Jahren künstlerisch übersteigert nahegebracht und noch mehr. Er ist mit den nun bloßliegenden Innenräumen ja besonders umgegangen. So wie jetzt in der Kriegsberichterstattung die Bilder von Teddybären im Häuserschutt uns nicht mehr loslassen, so ist es die Tapete der einstigen Innenräume, die durch die Zerstörung jetzt entäußert wird. Die Seele stülpt sich heraus. Doch nun folgt der künstlerische Griff von Hirschhorn: Er hängt Meisterwerke der russischen Malerei in die so sichtbar gewordenen Innenräume.
Was bedeutet das?
So zu fragen, heißt ja immer, die Kunst wieder zu verlassen. Es lässt das Höchste, das Größte der Kultur offenbar werden. Das Geistige überlebt die Katastrophe, es scheint immun zu sein gegenüber der Gewalt. Ja, es scheint so zu sein, dass die Verletzung das Geistige offenbart. Der Anschlag, der hier ein Abschlag ist, wird zur Apokalypse des Geistes. Das ist es, was Hirschhorn ins Bild bringt, meine ich. Da fällt, zerbricht die Fassade und ich sehe, was die Menschen, die hier gelebt haben, geliebt haben.
Es heißt ja, man bräuchte eine Billion Euro, um die zerbombten Städte wieder aufzubauen. Was kann das heißen, wenn du sagst, es gibt einen geretteten Geist? Was bedeutet es für den Aufbau?
Es bedeutet Hoffnung für den Aufbau. Hirschhorns Werk erzählt ja vom Zerfall Russlands (nach der Wende) und ist dabei vielleicht ein Plädoyer für einen Aufbau, der das Eigentliche dieser Kultur begreift. Die in den inszenierten Wohnungen hängenden Werke stammen aus der revolutionären Zeit, Anfang 20. Jh., sie illustrieren einen Moment der russischen Geschichte, einen hoffnungsvollen, utopischen Moment. Damit der Aufbau der Ukraine mehr als ‹nur› ein Wiederaufbau wird, geht es deshalb auch darum, solche Momente in der ukrainischen Geschichte zu finden, wo das Land sich selbst treu war.
Titelbild Thomas Hirschhorn, Installation ‹Abschlag›, 2014, ‹Manifesta 10›, General Staff Building, Hermitage Museum, St. Petersburg, 2014. Courtesy: the artist and Manifesta Foundation. Foto: Wikimedia