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Die Methode Bockemühl lebt

Am 21. Januar 2018 wäre Michael Bockemühl 75 Jahre alt geworden. Wie sehr der 2009 verstorbene Wahrnehmungsforscher und leidenschaftliche Lehrer in der Gegenwart fehlt, in der mutwillig wichtige Trennschärfen zwischen realer und fiktiver Wirklichkeit aufs Spiel gesetzt werden, wird spätestens beim Thema Fake News deutlich. Aber auch in der Kunstwahrnehmung selbst, Bockemühls ureigenstem Feld, macht sich die Lücke, die er hinterlassen hat, bemerkbar.


Wie gern hätte man, um ein Beispiel herauszugreifen, mit Michael Bockemühl zusammen Leonardo da Vincis ‹Salvator Mundi› betrachtet. Das Gemälde trat im November 2017 für kurze Zeit ans Tageslicht und über die Medien unter unsere Augen, bevor es für eine Rekordsumme den Besitzer wechselte und wieder aus unserem Sichtfeld verschwand. Wie gern wäre man gerade in diesem Fall Bockemühls Fingerzeigen gefolgt, anstatt sich einzig mit den 450 Millionen Dollar zu beschäftigen, die das Gemälde einem Käufer aus Saudi-Arabien wert gewesen war.

Und Bockemühl selbst? Vielleicht hätte er als Erstes ausgerufen: «Das ist doch toll, dass sich das Bild in Erinnerung ruft!» Und wäre dann mit dem ihm eigenen Enthusiasmus fortgefahren, hätte Sätze gesagt wie: «Nun schauen Sie doch mal auf das Gebilde da in der Hand der Figur. Das sei eine Kugel aus Glas, sagen Sie, aber woher wissen Sie das überhaupt? Nehmen Sie es doch einmal ins Visier, verengen Sie Ihren Blick, stieren Sie, machen Sie Kuhaugen, so lange, bis Sie hinter das Glas dringen, in die Transparenz. Oder fixieren Sie die Figur selbst, die Züge eines Gesichtes, von dem Sie nicht sagen können, ob es männlich oder weiblich ist, aber woran liegt das denn? Lassen Sie Ihren Blick an diesen Haaren entlangwandern – was passiert dabei? Durch diese Bewegung? In Ihnen? Mit Ihnen? Und worauf haben Sie überhaupt zuerst geachtet, auf die Hand oder das Gesicht? Beobachten Sie sich, beobachten Sie sich selbst, wie ihr Geist arbeitet, während Ihre Augen schauen, schauen Sie sich selbst beim Schauen zu, produzieren Sie den ‹Salvator Mundi›, indem Sie ihn rezipieren, und tragen Sie dann das, was Sie gelernt haben über den Prozess Ihrer eigenen Wahrnehmung, in die Welt und in Ihr Leben!» In dieser Weise wirkte er. So war die ‹Methode Bockemühl›.

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Wahrnehmung und nicht Vorstellung ist die Voraussetzung für Gestaltung.

Götz Werner, den mit Michael Bockemühl eine zehn Jahre währende Siez-Freundschaft verband, gebrauchte diesen Begriff, als er am 21. Januar 2018 im Audimax der Universität Witten/Herdecke an den Weggefährten erinnerte, der für ihn und die von ihm gegründete dm-Drogeriemarkt-Kette so bedeutsam gewesen war. Der ihm vermittelt hatte, dass Wahrnehmung und nicht Vorstellung die Voraussetzung für Gestaltung ist. Was weitreichende Folgen hatte für sein Wirtschaftsunternehmen.

‹Bockemühl 75 und die Aktualität eigener Sinneserfahrung› hieß eine Veranstaltung, in deren Rahmen sich neben Götz Werner Studierende, Lehrende und Familienangehörige zu Ehren Bockemühls versammelt hatten. David Hornemann von Laer, der bei Bockemühl promoviert hatte, und den engagierten Studierenden war es zu verdanken, dass man als Gast durch praktische Wahrnehmungsübungen die Methode Bockemühl leibhaftig erprobte und ihre Wirkung erfuhr. Auf diese Weise bekam das zurückblickende Gedenken einen nach vorn schauenden Gestus – ein Impuls, der dem Tatmenschen Michael Bockemühl gemäß war. Von ihm durchdrungen zeigte sich auch das von Wittener Studierenden am Ende der Veranstaltung präsentierte Buchprojekt, mit dem die Universität ihren zweimaligen Dekan und Inhaber des 1990 eigens für ihn eingerichteten Lehrstuhls für Kunstwissenschaft, Ästhetik und Kunstvermittlung posthum würdigt. Vorgestellt wurden die ersten drei von insgesamt 17 geplanten Bänden der Reihe ‹Kunst sehen›. Die vom Info3-Verlag herausgegebenen Kunstfolianten enthalten die transkribierten öffentlichen Vorlesungen, die Bockemühl zwischen 1992 und 1994 im Wittener Saalbau gehalten und als sein eigentliches Hauptwerk bezeichnet hat. Die ersten Bände ließen bereits erkennen, was die Edition ausmacht: Sie reden Kunst nicht tot und machen sie nicht ‹fertig›. Schon gar nicht nehmen sie die Anstrengung der eigenen geistigen Arbeit ab. Dafür haben sie eine Stimme, deren Hinweisen man mit Gewinn nachgeht. In ihnen lebt die Methode Bockemühl weiter.


Bisher sind drei Bände in der Reihe ‹Kunst sehen› erschienen: Michael Bockemühl, ‹Die Malerei des 19. Jahrhunderts›, ‹Claude Monet› und ‹Paul Gauguin›, Info3-Verlag 2018.

Foto: www.kunst-sehen.com

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