Der Moderator Johannes Kronenberg stellt an der Tagung Charles Eisenstein als einen der einflussreichsten ökologischen Denker der USA vor, erinnert an seine Publikationen wie ‹Die Ökonomie der Verbundenheit› (englisch: Sacred Ecology) oder zuletzt ‹Wut, Mut, Liebe!›. Referiert von Wolfgang Held.
Im Strickpullover vor einem Wandteppich mit Motiven von Bäumen und Menschen, Bildern einer ‹natürlichen› Welt, ergreift Eisenstein das Wort. Es gehe nicht darum, im Umgang mit der Erde etwas gescheiter zu werden, sondern vielmehr darum, unser Verhältnis zur Erde grundsätzlich neu zu bestimmen – wie wir sie und uns selbst verstehen. «Wieso sind wir eigentlich hier? Was ist der Sinn der Menschheit?» Noch vor zwei Generationen sei die Antwort sehr einfach gewesen: Wir sind die Herrscher, die Herren der Erde. Wir müssen unsere Intelligenz über alle Grenzen tragen und in die Erde führen, weil sie ohne Intelligenz ist. Diese Haltung, die Natur zu erobern, schien ohne Probleme zu sein. Und an dieser Eroberung teilzunehmen, das sei, so Eisenstein, eine Frage des persönlichen Ehrgeizes gewesen. Ja, mehr noch, man habe aus dieser Dominanz die eigene Bedeutung erfahren. Jetzt entdecken wir, dass die Erde lebendig ist und dass der Sinn darin besteht, zu dieser Lebendigkeit, zu dieser Schönheit der Erde etwas beizutragen. Dieser Gedanke sei natürlich nicht neu, sondern in den Kulturen seit Jahrtausenden vorhanden. Eisenstein öffnet die Arme: «Auf der ganzen Welt gibt es Wesen, und die Erde selbst ist ein Wesen, die Pflanzen, die Tiere, der Wind, die Wolken. All das ist lebendig, hat Bewusstsein und ist heilig.» Die Würde von allen Wesen und Erscheinungen der Natur so einfach und elementar und zugleich frei von Pathos anzusprechen, ist eine Gabe von Charles Eisenstein.
Die Erde wird, wie wir sie denken
Es habe, so setzt er fort, immer wieder Persönlichkeiten gegeben, die an diese Lebendigkeit erinnerten. Rudolf Steiner gehöre dazu, und die von ihm begründete biologisch-dynamische Landwirtschaft verstehe die Erde als Wesen und ihre Praktiken tragen deshalb zur Lebendigkeit der Erde bei. Dem stehe die heutige naturwissenschaftliche Vorstellung einer toten Erde gegenüber. Diese Anschauung, dieser Mythos der modernen Wissenschaft, die wir uns über die Erde erzählen, ist außerordentlich mächtig. Lautet die Geschichte: ‹Die Erde ist tot!›, dann würden wir die Erde nach diesem Bilde formen und es brauche nicht viel, um die Zeichen einer solchen toten Welt heute zu sehen: Monokulturen veröden die Landschaft, das Essen wird in Fabriken produziert. Ein mechanistisches Weltbild ruft angesichts des Klimawandels danach, den CO2-Gehalt in der Atmosphäre zu senken. Ein Weltbild, das die Lebendigkeit der Erde im Blick hat, ruft danach, die Gesundheit des Klimas, die Gesundheit des Bodens, der Meere, der Wälder, aller Tiere zu steigern. Ein solches Weltbild erkennt, dass alle Wesen miteinander verbunden sind. Wenn wir lediglich die Emissionen der Treibhausgase auf null reduzieren und die Organe des Organismus Erde weiter schädigen und töten, indem wir Tiere behandeln, als seien sie die Pest, Sümpfe entwässern usw., dann werden die Organe versagen.
Anschließend vergleicht Eisenstein die Erde mit einem Tier, dem man Millionen kleine Schnitte im Leib zufügt. Dabei dürfe man nun nicht allein auf den Klimawandel fokussieren, sonst laufe man Gefahr, zufrieden zu sein, wenn die Klimaerwärmung sich verlangsame. Es gehe darum, zu verstehen, dass die Erde ein Wesen ist mit einer Physiologie, in der die heiligen Orte geschützt werden müssen. Eine solche Erzählung der Erde bringt uns dazu, die Erde, den Boden zu heilen, weil wir verstehen, dass wir mit der Erde verbunden sind. Was wir für den Boden tun, das kommt über uns. Die industrielle Landwirtschaft von heute erzeugt viele Kalorien, viele Nährstoffe. Oberflächlich betrachtet, scheint das erfolgreich zu sein. Wir entdecken jedoch, weil wir eben nicht von der Erde, von dem Boden getrennt sind, dass die Verarmung des Bodens unsere Gesellschaft, unsere Körper verarmen lässt. Mit Kultur und Meditation versuchen wir gegenzusteuern, aber das reicht nicht, solange wir das Leben der Erde schädigen.
Der erste Schritt ist niemals, eine ‹mächtige› Person zu bekehren, damit sie ihre Politik ändert.
Dann spricht Eisenstein über die biologisch-dynamische Landwirtschaft: Ihre Praktiken zeigten ihren Sinn erst, wenn man verstehe, dass die Erde ein Lebewesen ist. Erst unter dieser Voraussetzung könne man ihren Wert erfassen. In seiner Jugend und der seines Vaters habe man den Beruf des Landwirts als niedrigsten Stand empfunden, ‹Bauer› sei ein Schimpfwort gewesen. Folglich zielte alles darauf ab, dass die eigenen Kinder in den Städten studieren sollten, um als Rechtsanwalt oder Ingenieur die Hände nicht länger in den Dreck senken zu müssen und die Materialität hinter sich lassen zu können. Wenn jetzt mehr und mehr Menschen wieder eine Beziehung mit der Natur, mit dem Land suchen, dann zeigt sich darin ein neues Ziel der Menschheit, ein Ziel, das dem Leben gilt. Dieses gemeinschaftliche Ziel schenkt uns einen Sinn, ein Motiv dafür, warum wir auf der Erde sind. Mit diesem Wort beendet Eisenstein seinen Beitrag, es folgen Fragen:
Was ist deine Botschaft an die biologisch-dynamisch arbeitenden Landwirte?
Eure Arbeit ist wichtig! Manchmal hören wir in uns die Stimme, die uns zweifeln lässt: Was nützt es denn, wenn ich auf meinem kleinen Hof, meinem Garten biologisch arbeite? Aber: Ich spreche jetzt von der Erde als einem Wesen: Wie würde ich mich an der Stelle dieses Wesens fühlen? Wenn ich fortwährend geplagt und vergiftet würde, wenn ich so viel Last und Not erfahren müsste und dann sehen würde, dass mich jemand respektiert, meinen Leib als heilig erkennt? Dann würde ich sagen: «Vielleicht lieben sie mich doch! Vielleicht gibt es doch noch Hoffnung!» Deshalb trägt jeder kleine Dienst, jede kleine Tat zum Leben der Erde bei. Du selbst handelst aus einem Strom, einer Erzählung, die sagt, dass die Erde lebt. Man könnte gar keine biologisch-dynamische Landwirtschaft betreiben, wenn man nicht empfinden würde, dass die Erde lebendig ist. Ein mit Mist gefülltes Kuhhorn zu vergraben, das macht man nur für ein Wesen.
Wie bringen wir diese Einsichten zu den Entscheidungsträgern der Politik?
Das Wichtigste ist, dass wir uns als Gemeinschaft gegenseitig daran erinnern, dass wir nicht verrückt sind. Wir haben im Englischen die Redewendung, dass man nicht nur für den eigenen Chor predigen sollte, sondern für die ganze Gemeinde. Das ist richtig, aber gleichwohl sollten wir uns an den Chor wenden, damit wir unter uns das Leben steigern und verbessern, eine schöne Zeit miteinander haben. Denn das zieht andere außenstehende Menschen an. Der erste Schritt ist niemals, eine ‹mächtige› Person zu bekehren, damit sie ihre Politik ändert, denn sie wird dir etwas von Zwängen, EU-Richtlinien und Finanzmärkten erzählen. Der Wandel beginnt nicht dort, sondern da, wo wir die Kultur unter uns verändern, wo wir Essen servieren, das vitaler ist. Wer Demeter gegessen und schätzen gelernt hat, wird gegen die nächste EU-Verordnung Widerstand entwickeln.
Wie kommt man zu Land, wenn es doch wenigen gehört?
Ich kenne mich nur in den USA gut aus. Dort ist das Durchschnittsalter eines Landwirts 70 Jahre. Die Kinder gehen in die Städte. Wer also soll das Land übernehmen? Dem Land ist es egal, ob man es besitzt oder nicht. Wenn man sich engagiert, dann ergeben sich die Möglichkeiten.
‹Zurück aufs Land› ist ein Privileg weniger – oder?
Da müssen wir fragen, warum die ökonomischen Möglichkeiten nur in der Stadt liegen? Weil, um es kurz zu fassen, das ökonomische System und die Freihandelsabkommen nichts anderes als Kolonialismus und Imperialismus sind. Sie machen die Landwirtschaft im globalen Süden unmöglich, sie zwingen die Landarbeiterinnen und Landarbeiter dazu, ihr Land zu verlassen und in die Städte zu gehen. Beispielsweise versucht die Bill Gates Foundation eine Art Flurbereinigung, wodurch das Land zu Privatbesitz wird und diejenigen vertrieben werden, die es ursprünglich bewirtschaftet haben. Die landwirtschaftlichen Programme mit gentechnisch veränderten Organismen lassen die Preise fallen, sodass die Bauern in Schuld geraten. Auf Höfen, die über 20 Generationen einer Familie gehörten, begehen die Bauern Suizid. Wenn es um Privilegien geht, muss man sich anschauen, wie wir den Reichtum aus den Entwicklungsländern holen und in den Westen schaffen und dort die Urbanisierung vorantreiben. Die Landflucht begann im Westen übrigens schon im 17. Jahrhundert, und jetzt hat sie die ganze Erde erfasst. In China waren vor 30 Jahren 80 Prozent der Bevölkerung Bauern und Bäuerinnen, jetzt sind es nur noch 40 Prozent. In den USA sind es nur noch 1 Prozent. Diese Entwicklung müssen wir umkehren. Die Landwirtschaft braucht mehr Aufmerksamkeit und ein Bewusstsein, dass es hier nicht um industrielle Produktion geht, sondern um die Lebendigkeit der Erde. Dann erkennt man, dass das, was an einem Ort gültig ist, in 100 Meilen Entfernung nicht mehr gelten muss. Die industrielle Revolution hat uns lernen lassen, dass alle Vorgänge, die viel Arbeit kosten, schlecht sind. Wie geht es mit weniger Arbeit? Das wurde zur Kernfrage. Aber wieso soll landwirtschaftliche Arbeit schlecht sein? Monokulturen zu bewirtschaften, das ist natürlich langweilig. Mein Bruder hat einen Hof, auf dem ich auch arbeitete. Dort zählt die Diversität, die Vielfalt der Natur. Als Gesellschaft sollten wir anstreben, dass aus den 1 Prozent, die in der Landwirtschaft arbeiten, wieder 10 Prozent werden. Und mindestens 50 Prozent sollten einen Garten haben!
Was wir als Privileg empfinden, hängt mit unseren Werten zusammen, die ein Privileg erst begründen. Ein solches Privileg ist es, alles, was man braucht, über den Computer zu bestellen und das Haus nicht mehr zu verlassen. Macht so etwas glücklich? Ist das Erfüllung, Freude? – Nein!
Wo fangen wir an, eine neue Geschichte des Landwirtschaftens zu erzählen?
Ein Teil dieser Geschichte ist die Klimafrage. Der einzige Weg, das Kohlendioxid aus der Atmosphäre zu holen, ist, es durch Landwirtschaft wieder an den Boden zu binden. Sehr wichtig ist, die noch lebendigen Systeme am Leben zu erhalten: das Amazonasgebiet, das Kongobecken, diese Organe der Erde, die noch gesund sind. Genauso wichtig ist es, die beschädigten Organe zu heilen. Was die Welt verändert, das sind nicht die Zahlen, sondern die Erzählungen, die das berühren, was in den Mitmenschen lebt, gerade in jenen Mitmenschen, die sich selbst für das Leben engagieren.
Foto: Paul Stender