Dem vielschichtigen Thema ‹Rudolf Steiner als Landschaftsarchitekt› und der von ihm entworfenen Geländegestaltung um das Goetheanum wurde bisher wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Dieses Buch schließt diese Lücke.
Die Landschaftsarchitektin Marianne Schubert, die von 2014 bis 2019 Leiterin der Sektion für Bildende Künste am Goetheanum war, beschäftigt sich schon seit den 1990er-Jahren intensiv mit dem Gelände und der Erforschung des Gartenparks am Goetheanum. Gemeinsam mit dem Biologen und Kulturwissenschaftler Stephan Stockmar durchforschte sie die Archive, um spannende Details über Entstehung, Geschichte und Hintergründe der Geländegestaltung um das Goetheanum zu entdecken. Überraschend ist, dass nur wenige Äußerungen von Steiner selbst zu finden und überliefert sind. Auch gibt es interessanterweise nur wenige Fotos und Dokumente aus der Entstehungszeit. Die beiden Autoren nehmen dies als wunderbare Herausforderung, die den vielfältigen Gestaltungen zugrunde liegenden Intentionen zu erkunden und dies in eine lebendig geschriebene und äußerst ästhetisch gestaltete Veröffentlichung zu gießen.
Das Buch ist in zwei Teile geteilt: Im ersten Teil wird der Leser eingeladen, sich auf den Dornacher Hügel zu begeben, um in den Erlebnisraum dieses Landschaftskunstwerks vor Ort einzutauchen. Der zweite Teil versammelt wichtige, sehr gut recherchierte Hintergrundinformationen, viele Dokumente und eine Chronologie zur Entstehungszeit sowie eine ausführliche Literaturübersicht mit Anmerkungen.
Um die besondere künstlerische Gestaltung des Landschaftsgartens näher kennenzulernen, wird die Leserin auf einen Geländerundgang im Südwestbereich geführt. Die Texte inspirieren, mit aufmerksamem Blick die vielfältigen, atmenden Kräftebeziehungen zwischen den einzelnen Bauten und der Landschaft wahrzunehmen und im eigenen Seelenraum erlebbar zu machen. Das Goetheanumgelände wird zum Erfahrungsraum nach dem Motto des Buches ‹Man schaue was geschieht›.
Immer deutlicher tritt hervor: Die Geländegestaltung ist ein lebendiges Ganzes, das zusammenklingt. Die von Steiner für das Erste Goetheanum konzipierte und realisierte Landschaftsgestaltung ergänzt so harmonisch das Zweite Goetheanum, als wäre sie für dieses geplant worden. Während sich die Nebenbauten in ihrer Gestaltung vor allem auf die nahe Umgebung beziehen, wie in kleinen ‹Seitenlandschaften› stehen, bezieht sich der Goetheanumbau selbst, besonders der zweite, auf die Gesamtlandschaft.
Nach und nach wird man zu Steiners organischem Baustil hingeführt, der keine direkten Vorbilder hat: Alle Gebäude auf dem Goetheanumgelände, wie auch der Hauptbau selbst, entspringen dem künstlerischen Baumotiv des Doppelkuppelraumes. Auch bestimmte Elemente der Geländegestaltung nehmen dieses Motiv in verwandelter Form auf. Marianne Schubert dazu: «Steiner überträgt den Gedanken der Metamorphose, wie ihn Goethe an der Pflanze entdeckt hat, auf die Formensprache der Architektur und lässt die einzelnen Kunstwerke je nach Lage und Funktion aus dem Grundmotiv (bei Goethe aus dem Urmotiv) der Doppelkuppel entstehen und sich verwandeln. Auch die Land-Art-Objekte im Außenraum folgen dieser Geste, sodass ein Gesamtkunstwerk entsteht, das sich mit den Jahren immer weiter entwickelt. Die Grundriss-Kreise der Doppelkuppeln des Hauptbaus sind mehr oder weniger deutlich in diesen Gestaltungen zu erkennen und ziehen sich mal näher zusammen, mal weiter auseinander.» Steiner eröffnete damit ein neues Kapitel der Gartengeschichte.
Äußerst wertvoll ist, dass Stephan Stockmar im zweiten Teil eine sehr gut dokumentierte Zusammenschau der geografischen, geschichtlichen und biografischen Gegebenheiten schafft. Damit zeigt er auf, wie es «Rudolf Steiner nicht nur innerhalb des Goetheanum-Areals auf die Beziehungen der einzelnen Gestaltungen auf den Goetheanumbau als Voraussetzung für die Entstehung eines Ganzen ankam, sondern auch auf die konkreten Beziehungen zu Orten der näheren (Arlesheim, Basel) und weiteren Umgebung (Odilienberg).» Hierdurch wird nachvollziehbar, welche geistesgeschichtlichen Aspekte eine wesentliche Rolle gespielt haben, genau an diesem Ort das Goetheanum zu erbauen.
Diesem Buch wünsche ich viele begeisterte Leserinnen und Leser, die sich auf das Goetheanumgelände als Erlebnisraum einlassen und mit frischem unverstelltem Blick neue Zusammenhänge kennenlernen und zu eigenen Beobachtungen angeregt werden wollen.
Diese Rezension möchte ich zwei im letzten Jahr verstorbenen Menschen widmen, die eng mit dieser Thematik verbunden waren und denen ich viele intensive Gespräche zum Goetheanumbau und -gelände verdanke: dem Schauspieler Christiaan Stuten (verstorben 28. Juli 2022) und dem Goetheanumgärtner Jörg Mensens (verstorben 30. September 2022).
Buch Marianne Schubert, Stephan Stockmar: Man schaue was geschieht. Rudolf Steiner als Landschaftsarchitekt am Goetheanum. Verlag am Goetheanum, Dornach 2022.