Der Konfliktforscher Friedrich Glasl zeigt in seinem Buch anhand der Krisen und Wendepunkte im Leben der Kunstschaffenden Paul Gauguin und Gabriele Münter die Gesetzmäßigkeiten menschlicher Entwicklung.
«Mir war es ein besonderes Anliegen, tiefer auf die von anthroposophisch orientierten Forscherinnen und Forschern gewonnenen Erkenntnisse einzugehen, weil sie mich selbst zu überraschenden Ergebnissen geführt haben.» Im ersten Teil setzt sich Glasl mit entwicklungspsychologischen Schilderungen der Jahrsiebte und ihrer jeweiligen Qualitäten und Entwicklungsmöglichkeiten auseinander und zeigt, wie jedes Leben auf einer Serie von Metamorphosen aufbaut. Planetenkräfte bilden den Hintergrund des jeweiligen Jahrsiebts, aber es wirken auch die sogenannten Mondknoten in entscheidenden Krisen und führen Wenden herbei. «Ich verstehe unter Entwicklung den Wandel eines Wesens und seiner Gleichgewichtszustände in einer zeitlichen unumkehrbar fortschreitenden Folge, in der sich die manifeste Gestalt des Wesens und seine gestaltbildenden Prinzipien so verändern, dass es seine Potenziale entfaltet und dadurch mehr und mehr fähig wird zur eigenständigen Bewältigung höherer endogener und exogener Komplexität.»
Im zweiten Teil taucht Glasl in Gauguins männliche Biografie ein, vor dem Hintergrund der Gesetzmäßigkeiten der Jahrsiebte und Mondknoten. Man folgt diesem Menschen in all seinen Lebenssituationen, Freundschaften, Enttäuschungen, Brüchen und Durchbrüchen. Das Zusammenwirken dieser biografischen Erfahrungen, vorangetrieben durch seine spirituell-mystische Suche, führte Gauguin zu seiner eigentlichen Entfaltung. Indem Glasl die Betrachtung der Werke laufend einbezieht, werden die Entwicklungsschritte trotz aller biografischer Widrigkeiten sichtbar. Gauguin arbeitet seinen eigenen Kern malend aus den Gegebenheiten heraus und es wird sehr gut nachvollziehbar, wie er dazu kommt, seinen Beitrag zur Überwindung des bloß Impressionistischen zu leisten und wie er immer mehr expressionistische Ausdrucksmittel entdeckt und damit zu einem Wegbereiter der Moderne wird.
Im dritten Teil untersucht Glasl auf die gleiche Art die Biografie einer Frau. Gabriele Münter geht mit einer gewissen Geradlinigkeit durch ihre Lebenssituationen hindurch, aber entscheidend wurden die Begegnungen und Auseinandersetzungen mit den kreativen Freunden, die zur Geburt der ‹klassischen Moderne› beitrugen. Die Frage nach der Spiritualität prägte sie genauso wie das Werk Rudolf Steiners, das Münter zusammen mit Wassily Kandinsky entdeckte. Mit Kandinsky lebte sie eine intimere, persönliche Beziehung, er versprach die Heirat. In Russland heiratete er heimlich hinter ihrem Rücken. Münter erlebte dies als Verrat und hinderte Kandinsky später daran, die Bilder, die er in München deponiert hatte, zurückzufordern. Erst nachdem dieses Spannungsfeld 1924 geordnet wurde, fühlte sich Gabriele Münter frei, eine neue und tiefere Beziehung einzugehen. Kandinsky war in gewissem Sinne ihr Karma. «Trotz der tiefen seelischen Verwundungen, die ihr der Mensch Wassily zugefügt hatte und die sie aus eigener Kraft wieder hatte ausheilen können, blieb ihre Anerkennung für die Pionierleistungen des Künstlers Kandinsky ungebrochen.» Dennoch zeigt sich ihre menschliche Größe darin, dass sie kompromisslos durch die Hölle der Diffamierung unter den Nazis hindurchschritt. Ihr ist es zu verdanken, dass das Lenbachhaus in München nach der Nazizeit viele und entscheidende ihrer Kandinsky-Bilder zum ‹Blauen Reiter› bekam.
Friedrich Glasls Buch öffnet einem die Augen für die Gesetze der Entwicklungspsychologie, und man ‹sieht›, wie die kosmischen Gesetzmäßigkeiten einen Grund bilden, auf dem sich das Individuelle entwickelt. Die Biografie selbst ist wie der Rahmen eines bestimmten Lebens, die Jahrsiebte und die Mondknoten fördern durch ihren Einfluss bestimmte Möglichkeiten. Ebenso die Inkarnation als Mann oder Frau. Im Zusammenwirken aller Faktoren spielen sich in der Chronik die Dramatik und die Zwistigkeiten der sich begegnenden Individualitäten ab. Es wird aber auch sichtbar, dass dieses Drama fast notwendig ist, um die Individualität voll zur Geburt zu bringen, damit sie ihren entscheidenden Beitrag zum geschichtlichen Werden der Menschheit leisten kann. Man ahnt durch die biografische Beschreibung hindurch das Lebensmotiv. Im Falle der beiden hier beschriebenen Kunstschaffenden wird durch die künstlerischen Äußerungen die Auseinandersetzung des wachsenden Ich mit den Lebensumständen hautnah erleb- und erspürbar.
Buch Krisen, Konflikte, Sternstunden, Eine Einführung in die Entwicklungspsychologie anhand der Lebensläufe und Werke von Paul Gauguin und Gabriele Münter. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2022
Grafik: Fabian Roschka