100 Jahre ‹Landwirtschaftlicher Kurs› und 10 000 Jahre Landwirtschaft. Ein Interview mit Ueli Hurter zur Landwirtschaftlichen Tagung 2023. Die Fragen stellte Wolfgang Held.
Wolfgang Held ‹Ein Rückblick als Vorblick›, so untertitelt ihr die kommende Tagung der Sektion für Landwirtschaft. Was ist damit gemeint?
Ueli Hurter Wir planen eine Trilogie. Wir wollen 2024, wenn wir 100 Jahre ‹Landwirtschaftlicher Kurs› feiern, nicht alles in eine Tagung, einen Moment drängen. Wir nehmen uns vor, uns 2024 auf die Impulse des ‹Landwirtschaftlichen Kurses› zu konzentrieren und die Frage zu beantworten, wie diese Impulse heute leben oder leben sollten. Das geht umso besser, je mehr es uns gelingt, jetzt, an der kommenden Tagung unserer Bewegung, zurückzublicken. Wir haben verstanden, dass unsere Landwirtschaft nicht mit Koberwitz 1924 begonnen hat. Der Anfang der Geschichte ragt weiter in die Vergangenheit. Deshalb nehmen wir jetzt die Geschichte, die Genese der Landwirtschaft seit ihren Anfängen vor vielleicht 10 000 Jahren hinzu.
Der Rückblick ist also doppelt: auf die Geschichte der biologisch-dynamischen Landwirtschaft und auf die Geschichte der Landwirtschaft an sich.
Der Begriff ‹Kulturimpuls› ist für uns ein Schlüssel und gehört seit 12 000 Jahren zur Landwirtschaft. Die Landwirtschaft hat die ganze menschliche Kultur geprägt. Dieser Griff spiegelt sich im Tagungsprogramm. Wir beginnen mit sieben, acht kurzen Beiträgen aus dem 100-jährigen Leben der biologisch-dynamischen Landwirtschaft, von der Pflanzenzucht über die Forschung bis zur Betriebsentwicklung. Dann folgt der weite Blick bis zum Göbekli Tepe, der ersten Stadtsiedlung der Menschheit 11 000 v. Chr. Arzu Duran, Pionierin der türkischen biologisch-dynamischen Landwirtschaft, und Martin von Mackensen (Dottenfelder Hof) spannen diesen Bogen zu den Ursprüngen des Ackerbaus. Ich bin sehr froh, dass wir Vandana Shiva erneut gewinnen konnten. Die mit dem alternativen Nobelpreis ausgezeichnete Ökoaktivistin spricht über die Wiederentdeckung des Heiligen in der Landwirtschaft. Dieser Blick führt uns dann erneut zurück, anthroposophisch können wir sagen: in die urpersische Kultur. Seit da lebt der Kulturimpuls Landwirtschaft in vielen Variationen und wurde dann schrittweise entheiligt und utilitarisiert, um in unserer Zeit in die Gentechnik einzumünden. Mit diesem weiten Blick zurück können wir in die Zukunft gerichtet sagen, es geht um ein Heilung der Erde, aber auch um eine erneute Heiligung der Erde.
Vermutlich trägt die Landwirtschaft mehr als andere Lebensfelder noch heute Vergangenheit in sich.
Ja, und dennoch hatten wir diesen weiten Griff in die Urzeit nicht geplant. Das ist uns in den Gesprächen im Vertreterkreis, wo wir das Thema bearbeitet haben, so deutlich geworden. Tatsächlich arbeitet die Landwirtschaft mit langen Zyklen. Da ist die Vergangenheit noch lebendig. In drei Kurzbeiträgen erweitern wir das Thema um die drei räumlichen Dimensionen der Landwirtschaft, indem wir nach den kosmischen, den irdischen und den atmosphärischen Quellen der Landwirtschaft fragen. Auch hier werden die Vortragenden mal über 100 Jahre, mal über 100 mal 100, also 10 000 Jahre sprechen.
Was erhoffst du dir von der Tagung?
Wir erhoffen uns, dass alle, die im biologisch-dynamischen Landbau tätig sind, Rückschau halten. Sie können sich fragen: «Von wem habe ich eigentlich diesen biodynamischen Impuls bekommen?» «Und von wem hat er oder sie ihn bekommen?» Dann merkt man: Nach drei oder vier solcher Übergaben des Wissens und Tuns ist man am Ursprung in Koberwitz. Das heißt, er ist weit weg und zugleich ganz nahe. Ich wünsche mir, dass jeder und jede dieses Erlebnis hat: Ich bin Träger, Trägerin eines Impulses, der seinen Ausgangspunkt im fernen letzten Jahrhundert hatte. Aber ich bin diesem Impuls nahe, wenn ich in die Rückschau einsteige und nicht von Koberwitz aus denke, sondern von mir aus zurückgehe.1
Und diese Bewegung kann man jetzt hochskalieren?
Ja, dann werden aus Jahren Jahrhunderte und ich merke: Der Eintritt der modernen Naturwissenschaft in die Landwirtschaft um 1840 mit Justus von Liebig, das war ja erst gerade. Und dann gehe ich weiter zurück und komme zur Ablösung der Dreifelderwirtschaft durch die Einführung der Stallfütterung. Ich «reite» noch weiter zurück und komme zu den schottischen Mönchen, die nicht mehr Leibeigene, Tagelöhner waren, sondern Bauern, die Landwirtschaft betrieben und den Christusimpuls trugen. So einzusteigen, dass die Vergangenheit zum persönlichen Erlebnis wird, das ist das eine Ziel der Tagung, und diesem folgen jetzt auch die Organisationen, die Landesvereine, die Fachvereine. Wir haben eine Vergangenheit und unsere Verantwortung in der Zukunft fußt auf der biodynamischen und auf der gesamtgeschichtlichen Vergangenheit. So spannen wir eine Sprungfeder, die uns in die Zukunft führt. Die Zukunft ist nicht nur die Fortsetzung der Vergangenheit. Indem wir die Vergangenheit zu unserer Vergangenheit machen, können wir frei damit umgehen.
Und welche Klippe gibt es?
Die Herausforderung ist, dass man andere in ihrer Vergangenheit, die sich von der eigenen unterscheidet, wahrnimmt und ernst nimmt. In Deutschland denkt man zurück bis 1924. Das kannst du in Brasilien nicht. Auch in Tansania nicht. Wie ist es in Indien? Und wie ist es in Thailand, wo es vielleicht jetzt gerade mal eine knapp zehnjährige Geschichte gibt?
Wo ist die Wirklichkeit? Ist die am Anfang oder ist die durch das entstanden, was das Leben in 100 Jahren gebracht hat?
Es ist beides. Aber man sollte da nicht fixiert sein, sondern es in eine Gegenseitigkeit bringen. Ich bin interessiert an allem Ursprünglichen. Wir haben den ‹Landwirtschaftlichen Kurs› neu herausgegeben. Die Details interessieren mich. Aber nicht, weil ich denke, dass es eine relevante Wirklichkeit ist, sondern weil da Keime gelegt sind. Was ist daraus geworden und was ist das Potenzial, das noch daraus wird?
Habt ihr die Themen des ‹Landwirtschaftlichen Kurses› denn ‹ganz› durchgearbeitet?
Es ist wie im persönlichen Leben. Ich glaube, wir haben unsere Themen einmal durchgespielt, aber sie kommen dann von Neuem. Und so meine ich, dass es zum Beispiel um eine Gestaltung eines Betriebsorganismus geht, die in den ersten 100 Jahren geleistet wurde. Und ich würde sagen, wir haben es mit dem DOK-Versuch2 wissenschaftlich abgebildet.
Ich komme gerade aus Sekem: Wie ist es mit dem biologisch-dynamischen Anbau in der Wüste? Zu diesen Fragen haben wir Antworten gefunden. Dasselbe bei den Präparaten, bei der Pflanzenzucht, bei der Nahrungsmittelqualität. All diese Fragen werden wir, wenn es an der Zeit ist, auf höherer Warte von Neuem stellen. Das gilt besonders für Fragen, die ungelöst scheinen, wie die sogenannte Veraschung.
Was ist für dich ein Höhepunkt der kommenden Tagung?
Das Panel am Freitag um 17 Uhr: Frauen als Pionierinnen in der Biodynamik. Wir machen eine Art Wiedergutmachungsgeste gegenüber allen Frauen, die dieses Jahrhundert und die Jahrtausende geprägt haben und von denen man nie spricht. Das sind weitgehend nur Frauen! Eine Frau wird das Gespräch moderieren. Ach, und ich hoffe, das Goetheanum, also alle Instanzen am Goetheanum, nehmen das wahr. Ich weiß nicht, ob es das je schon gegeben hat.
Ist der Generationenwechsel ähnlich ein Thema wie an Waldorfschulen?
Ja, aber wir sind ja nicht der erste Generationenwechsel, der eine Schwelle darstellt. Es kommt jetzt aber tatsächlich ein Wechsel. Ich gehöre jetzt zu den 60- bis 65-Jährigen, die in der Bewegung die Verantwortung tragen. Da beginnt die Stabübergabe, aber wir sind ja nicht ‹weg›. Ganz allgemein ist die Frage zu stellen: Wer wird in Zukunft noch Landwirtschaft machen? Ähnlich wie bei den Pflegeberufen findet man niemanden fürs Feld. Die von altersher überkommene Landwirtschaft stirbt aus. Auf dem Land gibt es wenig Nachwuchs. Zum Glück finden in jeder Generation auch junge Menschen aus der Stadt den Weg aufs Land. Sie suchen die Zukunft und in vielen Ländern begegenen sie dann uns Älteren und wir lernen zusammen die Biodynamik. Jedes Mal ist es neu und jedes Mal ist es eine große Freude. Gerade jetzt haben wir vier Ausbildungstagungen in vier Kontinenten durchgeführt, in Malaysia, in Zimbambwe, in der Schweiz und in Peru. Die biodynamische Bewegung wächst.
Auch einem weiteren Aspekt widmen wir uns an der Tagung: der Schicksalsfrage. Ich halte unter dem Titel ‹Was sind wir? Wer sind wir?› einen Vortrag, der sich um Schicksalsfragen in der biodynamischen Bewegung dreht. Rudolf Steiner hat gleichzeitig mit dem Koberwitzer Kurs auch Vorträge über karmische Zusammenhänge gehalten. Die Vorträge zur Landwirtschaft auf dem Gut Koberwitz fanden morgens um 11 Uhr statt, und am Abend sprach Rudolf Steiner in Breslau über Karma. Die gleichen Menschen, die ihm beim Thema Landwirtschaft zuhörten, folgten ihm dann wieder, als es um karmische Fragen ging. Beide Fragen, Schicksal und Landwirtschaft, sind miteinander verflochten. Das persönliche Schicksal und dasjenige des biodynamischen Impulses dürfen vielleicht in einem menschheitlichen Kontext gesehen werden: dass es weniger darum geht, die Erde um ihrer selbst willen zu retten, sondern weil sich weiterhin Menschen auf der Erde inkarnieren wollen, also um der kommenden Menschen willen. Sich für sie verantwortlich zu fühlen, bedeutet, den Karma-Ort Erde lebendig zu halten.
Veranstaltung Landwirtschaft als Kulturimpuls: Ein Rückblick als Vorblick auf 100 Jahre Biodynamik. Landwirtschaftliche Tagung 2023: 1.–4. Februar 2023
Mehr Landwirtschaftliche Tagung 2023
Bild Ueli Hurter, Foto: Lin Bautze
Footnotes
- Mehr zum Rückschauprozess im folgenden Beitrag «Den Kulturimpuls tragen» auf Landwirtschaftliche Tagung 2023.
- Vgl. FiBL.