Die Frage aller Fragen

In der sehr sorgfältigen Neuausgabe von ‹Das Wesen des Menschen im Lichte der Geisteswissenschaft› (GA 68d) folgen wir Rudolf Steiner in 34 Vorträgen, die er in verschiedenen Städten zwischen 1905 und 1909 gehalten hat.


Steiner war damals zwischen 44 und 48 Jahre alt und noch Mitglied der Theosophischen Gesellschaft. Es war eine sehr unruhige Zeit und eine gewalttätige Weltlage mit dem Russisch-japanischen Krieg und der ersten Russischen Revolution (1905–1907). In seinen Vorträgen ging es ihm vor allem um den Menschen und um das soziale Zusammenleben. Man kann sie einen Friedensimpuls nennen. Die Frage aller Fragen dabei war die nach dem Wesen des Menschen. Im Vortrag am 2. Juli 1907 in Eisenach heißt es: «Alle Sicherheit, alle Hoffnung im Leben muss daraus entspringen, wie sich die menschliche Seele zu dieser Frage aller Fragen stellt. Sie schließt in sich das Geheimnis des Lebens und des Todes. Das Vergängliche und das Unvergängliche, das Zeitliche und das Ewige umschließt sie im Leben des Menschen.»1

In vielen Variationen spricht Rudolf Steiner über dieses Thema: die soziale Frage, die Frauenfrage, Bruderschaft und Daseinskampf, Erziehungsfragen, Ernährungsfragen, Gesundheitsfragen, das Geheimnis der menschlichen Temperamente. Besonders geht es ihm um das Wesen des Mannes, der Frau und des Kindes. Die Zuhörerschaft soll ein liebevolles Verständnis bekommen für die vielschichtige eigene Wesenheit in Bezug auf ihre männlichen und weiblichen Eigenschaften und Wesensglieder und ein Verständnis für die Mission des Kindes im Zusammenhang mit dessen Eltern entwickeln. Dabei richtet Steiner den Blick nicht nur auf die Gegenwart, sondern auch auf die nähere und weitere Zukunft. Für ihn ist das Patriarchat, das das frühere Matriarchat abgelöst hat, an sein Ende gekommen. «Manneskultur haben wir für Jahrtausende gehabt. Unsere ganze Kultur ist eine männliche Kultur. Unsere moderne Justiz, Theologie, Medizin und so weiter sind fast ausschließlich Erzeugnisse der männlichen Kultur. Wer tiefer an diese Sachen herantritt, wird leicht einen physiologischen Ausdruck der Mannesseele finden. Soll es jetzt aber anders kommen, dann ist es selbstverständlich, das der Anreger die Frau sein muss. […] ein Auflehnen gegen diese Manneskultur ist heute die Frauenbewegung, und durchaus berechtigt.» Rudolf Steiner sieht voraus, dass wir Institutionen und Kultureinrichtungen schaffen werden, die menschlich, also geschlechtsneutral sind. «Unsere äußeren Institutionen, die wir in die Welt bringen werden, werden wir in gleichem Maße aus dem Weibes- und Mannesgeist heraus schaffen. Sie werden selbst die Ursache sein für die späteren natürlichen Wirkungen. Das, was der Mensch schafft als ungeschlechtliche Kultur, wird später schaffen eine übergeschlechtliche Natur.» Und «wenn der Mensch sein Selbst finden wird in dem großen Universum, wenn er sich verbrüdert und verbunden fühlen wird dem ganzen großen Universum, das kein Geschlecht hat, und wenn er die Kultur durchdringen kann mit dem lebendigen Gedanken des über alles Geschlechtliche erhabenen höheren Menschen, dann ist die Sonne aufgegangen. Sie ist das, was Ihnen heute als Morgenrot einer neuen Kultur entgegenglänzt.»

Im schrillen Kontrast dazu steht der Materialismus unserer Zeit, wie ihn Rudolf Steiner in mehreren dieser Vorträge schildert. Er macht unseren astralischen und physischen Leib krank. «Seuchen und Epidemien können erscheinen durch Zunehmen des Materialismus.» Und Ahriman «möchte in seinem Gange aus der Zeit den Raum erobern», wie wir in seiner späteren Imagination von Ahriman über dessen Wirkung im Kosmos vernehmen können.2

Die Geisteswissenschaft ist dazu da, ein Erkenntnis-, Gesundungs- und Heilungsimpuls für Kultur und Menschheit zu sein. Rudolf Steiner formuliert dabei seine Antworten auf die Frage aller Fragen ständig ein bisschen anders. Das anthroposophische Menschenbild wird von ihm jedes Mal ganz lebendig geschildert, wie plastiziert, wodurch ich als Leser des umfangreichen Buches in einen Strom komme, der das Wesen meines eigenen Menschseins aufruft und kräftigt. Eine durchaus seelisch-geistige ernährende und vitalisierende Erfahrung!


Buch Rudolf Steiner: Das Wesen des Menschen im Lichte der Geisteswissenschaft (GA 68d). Rudolf-Steiner-Verlag, 2022

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Footnotes

  1. Alle Zitate aus dem Buch.
  2. Rudolf Steiner, Anthroposophische Leitsätze. Die Weltgedanken im Wirken Michaels und im Wirken Ahrimans, GA 26, Brief vom 16. November 1924, Dornach 1982.

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