Walter Harlan (Dresden, 25. Dezember 1867–14. April 1931, Berlin), deutscher Dramaturg und Schriftsteller, ist heute weitgehend vergessen. Bekannter sind seine Nachfahren, zum Beispiel sein Sohn Veit Harlan, berühmt-berüchtigter Regisseur nationalsozialistischer Propagandafilme wie ‹Jud Süß›, der u. a. das Schauspiel seines Vaters ‹Das Nürnbergisch Ei› 1939 verfilmt hat (‹Das unsterbliche Herz›), oder seine Enkelin, die Schauspielerin und Malerin Christiane Harlan-Kubrick, Frau des amerikanischen Filmemachers Stanley Kubrick.
Rudolf Steiner war in seiner Zeit als Redakteur des ‹Magazins für Literatur› mit Walter Harlan befreundet – er bedenkt ihn in ‹Mein Lebensgang› mit warmen Worten: «Eine Persönlichkeit war allerdings in dem Kreise da, die sich nicht als Literat, sondern im vollsten Sinne als Mensch darlebte, W. Harlan. Aber der sprach wenig und saß eigentlich immer wie ein stiller Beobachter da. Wenn er aber sprach, so war es immer entweder im besten Sinne geistreich oder echt witzig. Er schrieb eigentlich viel, aber eben nicht als Literat, sondern als ein Mensch, der aussprechen musste, was er auf der Seele hatte. Damals war von ihm gerade die ‹Dichterbörse› (Berlin 1899) erschienen, eine Lebensdarstellung voll köstlichen Humors. Ich hatte es immer gern, wenn ich etwas früher in das Versammlungslokal des Kreises kam und erst Harlan ganz allein dasaß. Man kam sich dann nahe. Ihn nehme ich also aus, wenn ich davon spreche, dass ich in diesem Kreise nur Literaten und keine ‹Menschen› gefunden habe. Und ich glaube, er verstand, dass ich den Kreis so ansehen musste. Die ganz verschiedenen Lebenswege haben uns bald weit auseinandergeführt.» (GA 28, S. 351)
Zusammen mit Otto Erich Hartleben, Richard Dehmel, John Henry Mackay, Paul Scheerbart u. a. gehörte Walter Harlan zum ‹Verbrechertisch›, einem Stammtisch, der sich so nannte, weil man hoffte, «die Philister damit zu ärgern» (17.11.1918, GA 185a). Im Vortrag vom 27. Oktober 1918 (GA 185) erwähnt Rudolf Steiner, dass gerade «eines der Mitglieder dieser Gesellschaft» – nämlich Walter Harlan – «einen Artikel in der ‹Vossischen Zeitung› geschrieben» hätte, «worin er mit einer gewissen Pedanterie zu beweisen versucht, dass ich allerdings in diese Gesellschaft nicht hineingepasst hätte und mich ausgenommen hätte wie ein ‹freischweifender unbesoldeter Gottesgelehrter› innerhalb von Leuten, die eben allerdings nicht freischweifende unbesoldete Gottesgelehrte waren, aber die wenigstens junge Literaten waren».
In besagtem Artikel erzählt Walter Harlan, wie ihn Otto Erich Hartleben zweimal trickreich dazu brachte, die letzte Stadtbahn nach Hause zu verpassen. Beim zweiten Mal saßen sie zu dritt am Tisch – Harlan, Hartleben und Rudolf Steiner – und Walter Harlan fühlte von Hartleben schon eine gewisse ‹Gefährdung› ausgehen in Bezug darauf, die ganze Nacht durchzumachen. Er spürte, dass er stärker gefährdet war als sein Mitgenosse: «Steiner eignete sich für Morgensitzungen im ‹Strammen Hund› sicher noch weniger als ich. Er war sechs Jahre älter als Hartleben, hatte damals eben ‹Goethes Weltanschauung› in einem innigen Buch geschildert, die Weltanschauung, die Goethe niemals ausgesprochen, wohl aber ‹dargelegt› hätte. Steiner – war ein freischweifender und unbesoldeter Gottesgelehrter. Auf einer naturwissenschaftlichen Grundlage. Und hatte ein mildleuchtendes Gesicht mit schwarzen Locken. Er liebte Hartleben bis zur Kritiklosigkeit, wahrscheinlich liebte er ihn als ein wandelndes gottlob noch sichtbares Beispiel des genialen Menschen.» (Hannoverscher Kurier, Literarische Beilage vom 31.10.1920)
Da Walter Harlan namentlich in ‹Mein Lebensgang› erwähnt wird, schrieb ihn Carlo Septimus Picht (1887–1954) – der unermüdliche Sucher nach Dokumenten zu Rudolf Steiners Werk und Leben – bereits 1925 mit der Frage an, ob er sonst noch «etwas über Rudolf Steiner ‹gebracht› habe». Harlan antwortet am 10. September 1925: «Eigentlich nein. Wenigstens sicher nicht mit Nennung seines mir lieben Namens.» Aber dann erwähnt er doch etwas: «So manches von ihm ist wohl in meinen Friedrich Stoß gerutscht, den Helden meiner ‹Sünde an den Kindern›. Dies Buch ist gegen Ende von Steiners Berliner Zeit geschrieben, erzählt Leben, Taten und Himmelfahrt eines mit uns geborenen Propheten.»
Harlans Buch ‹Die Sünde an den Kindern. Eines Schulmeisters Leben, Sterben und Fahrt in das Allherz› (Berlin 1908) ist ein eigenartiger Roman. Er erzählt die Geschichte des klugen und beliebten Meißner Schulmeisters Friedrich Stoß, der vor einem großen ‹Sprung nach oben› steht, da er als Rektor an eine Leipziger Realschule berufen werden soll. Er fasst jedoch den Entschluss, seinen Sohn nicht konfirmieren zu lassen, da er den Konfirmationsvorgang – insbesondere das Sprechen des Glaubensbekenntnisses – als Heuchelei ansieht. Dass die jungen Menschen z. B. die «Auferstehung des Fleisches» bekräftigen müssen, worunter sie sich gar nichts vorstellen könnten, empfindet er als Zwang zur Lüge. – Schulmeister Stoß trägt diesen Entschluss, den er aufgrund innerster Überzeugung gefasst hat, mutig durch – auch wenn er damit gegen die Konvention verstößt und nach und nach von allen Seiten fallen gelassen wird. Er verliert schließlich seine Stelle und muss sein Leben als Vortragsredner und Schriftsteller dürftig fristen.
Interessant ist der Schluss des Romans, denn wie der Titel schon andeutet, endet das Buch nicht mit dem Tod des Protagonisten, sondern begleitet ihn noch ein Stück darüber hinaus. So hat der verstorbene Stoß zunächst eine Begegnung mit «Mutter Erde», die ihn für seinen Mut und seinen Gedankenreichtum zwar nicht mit einer Krone, aber immerhin mit einem «Krönlein» auszeichnet. Ihr «Gemahl» ist der Erdgeist, der sich selber «Rhythmus» nennt und Friedrich Stoß erlaubt, die tanzenden kosmischen Chöre zu schauen. Er beantwortet ihm damit im Anschauen die Frage, ob Menschendenken und Menschenwillen ewige Frucht trage. Stoß erkennt: «Logos ist Logos, in mir wie in Sternenseelen!» Er bittet den Logos – den Harlan auch Allwillen nennt –, ihn in das Allherz der Welt zu bringen. Er wird daraufhin an einen sprudelnden, dunklen Bergsee geführt, der aus «Wille» besteht, «der sich zum Weltsein noch nicht entschlossen hat» (S. 371). Beim Eintreten in den am See liegenden Kuppelbau gibt der Logos Stoß zu erkennen: «Dein Wille und sein Wille sind nicht zwei ähnliche Willen und nicht zwei gleiche Willen, sondern sie sind derselbe Wille. Mit einem armen, müden verbrauchten Worte heißt es Liebe, es ist aber die Einerleiheit mehrerer Willen. […] da ihr nun einerlei Willen seid und ein einziger Wille, – darum bist du er selber.» Und Stoß wusste, «was er schon in den leiblichen Zeiten wohl tausendmal gefühlt hatte: In seiner Seele schlägt ihm ein Puls, der ihn von hier aus, von dem Herzpunkte der Welt aus, mit den Welträndern, mit dem ringsflutenden, silbernen Steigen und Stürzen, fortwährend in ein wahrhaftiges Eins verbindet!» (S. 373)
In diese Romanfigur des gedankenreichen und willensfesten Friedrich Stoß also, der die Einheit von Mensch und Kosmos im Leben ahnend sucht und nachtodlich erkennt, soll laut Bekenntnis des Autors so manches von Rudolf Steiner «gerutscht» sein …
Titelbild: Walter Harlan