Bis zum 11. August ist in Düsseldorf in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen eine Ausstellung zu sehen, die Hilma af Klint und Wassily Kandinsky nebeneinanderstellt.
Kandinsky gilt als der bahnbrechende Pionier der abstrakten Malerei. Als am Ende des 20. und erst recht am Anfang des 21. Jahrhunderts das Werk Hilma af Klints bekannt wurde, stellte man jedoch mit Erstaunen fest, dass ihre großen abstrakten Bilder schon 1907 entstanden waren und damit drei Jahre vor Kandinskys Schritt in die Abstraktion. Die müßige Frage, wer das erste abstrakte Bild gemalt habe, steht in dieser Ausstellung aber nicht zur Debatte. Es geht um Spiritualität und beider erstaunlich parallel verlaufende Entwicklung. Entsprechend ihrem Altersunterschied (af Klint 1862, Kandinsky 1866) ist ihr Schritt in die Abstraktion um vier Jahre versetzt – 1906 bzw. 1910 –, anderes geschieht gleichzeitig. Dazu gehört ihr Bezug zu Rudolf Steiner. Auf der großen Zeittafel im Eingangsbereich ist unter 1908 verzeichnet: Sie hört Vorlesungen Rudolf Steiners in Stockholm, er in München. Es ging darum, für eine erweiterte Realitätserfahrung entsprechende Ausdrucksformen zu finden. Abstraktion war kein für sich bestehender Wert. Erst als im nachrevolutionären Russland die Abstraktion selbstverständlich wurde, beanspruchte Kandinsky die Priorität. Im Übrigen erlaubt die Ausstellung aber, die fast unvereinbare Verschiedenheit der jeweiligen Ansätze wahrzunehmen. Immer wieder kommt es zu Irritationen. Kandinskys Bilder, auch seine großen, wirken neben den großzügig und in leuchtenden Farben gemalten Bildern af Klints klein, ja kleinlich und wirr, und umgekehrt wirken neben seinen sorgfältig und delikat durchgearbeiteten Werken die Bilder af Klints plakativ und als nur eben mal locker und fröhlich hingemalt. Jeder künstlerische Ansatz fordert einen ihm gemäßen Blick, den es gilt, auch in diesem Fall auszumachen. – Zu sehen sind von af Klint der vollständige Zyklus ‹Die zehn Größten› von 1907 (so genannt, aber auch tatsächlich ihre größten Bilder mit den Maßen 320 x 240 cm), ergänzt durch kleinere und viel kleinere Zyklen aus den 1910er-Jahren, und von Kandinsky die drei großen Schlüsselwerke von 1911, 1923 und 1939 aus eigenem Besitz und zahlreiche weitere aus zum Teil entlegener Provenienz.
Heraus aus der Gegenstandswelt
Die Übergänge auf Kandinskys Weg in die Abstraktion sind nicht Thema der Ausstellung. Auf ein paar Beispiele aus Murnau von 1908 folgen direkt sog. ‹Improvisationen› von 1910 und 1911, die sich vom Gegenstand nicht gänzlich verabschieden, die aber kein in der äußeren Welt vorhandenes Vorbild mehr haben. Die Gemeinsamkeit der beiden Entwicklungsstadien wird dabei aber umso deutlicher: farbige Striche und Flecke von geballter Kraft, die die Tendenz besitzen, sich vom Nachzeichnen eines fertig Gegebenen loszureißen. Die bildnerischen Mittel Kandinskys verselbstständigen sich. Seine Farbe entwickelt eine Dynamik, die die Folie der abbildenden Darstellungsweise zerreißt und den Blick in eine Welt jenseits des dreidimensionalen Raumes freigibt. Sie zeigt ihre ursprüngliche, ihr selbst innewohnende Potenz, die sich in Gestalt der für Kandinsky so typischen Flecke als ein Schieben und Drängen bemerkbar macht. Von daher sein Zug zum Kleinteiligen und Chaotischen, der neben den Bildern af Klints so sehr auffällt, der aus der Wahrnehmung aber verschwindet, sobald man entdeckt, dass die Teile des Bildes durch Gleichgewicht aufeinander bezogen sind. Jedes der vielen Elemente findet seinen Platz, indem es die Gewichte der anderen Elemente auswiegt. Das Bild wird zu einem Kosmos dynamisch aufeinander bezogener Elemente, der auch uns als Betrachtende aus unserer Verhaftung an die geronnene Form des Gegenstandes befreit und in eine schöpferische Verfassung versetzt. Kandinskys Weg heraus aus der Gegenstandswelt wird zur eigenen Erfahrung.
Sich wandelnde Identität
Das ist bei den Bildern af Klints ganz anders. Sie befremden, weil ihnen die sublimen Gleichgewichtsverhältnisse Kandinskys oder vieler anderer Zeitgenossen fehlen. Sie erscheinen als ein Spiel mit Formen, mit Kreisen, Spiralen und verschnörkelten Linien, die zudem sicher wie Gegenstände auf der Fläche sitzen, indem sie vorgezeichnet und in leuchtenden Pastelltönen ausgemalt wurden. Es wundert nicht, dass Freundinnen beim Malen helfen konnten, wenn die Form einmal vorgezeichnet und der Farbton angegeben war. Sollten diese Bilder nichts als heitere Dekorationen sein oder verschlüsselte Darstellungen eines Inhalts, den man nicht kennt? Wenn man jedoch bemerkt, dass die Teile auch in diesem Fall miteinander verbunden sind, öffnet sich das Bild. Es geht um die prinzipielle Gleichartigkeit der Elemente bei dennoch vorhandener Verschiedenheit. Zwei Kreise nebeneinander, der eine orange, der andere indigofarben, verbunden durch eine Überschneidungszone in grünlichem Gold, darüber ein weiterer Kreis mit Blütenformen in Rosa und neben diesem um ein kleines Zentrum herum angeordnete Ellipsen, die auch ihrerseits unterschiedlich gefüllt sind. Immer wieder ein Rund, aber nicht dasselbe. Wir bemerken die Identität, die sich wiederholt, die aber einen neuen Akzent erhält. Das Nebeneinander zeigt oftmals Gegensätze, während der Weg hinauf mit Verwandlung zu tun hat. Selbstverständlich ist ein solches Nacheinander der Wahrnehmung unvermeidlich, es erhält aber eine unerwartete Funktion. Bei Kandinsky geht es um das Gewinnen eines Überblicks, aus dem heraus erst die Verwobenheit des Ganzen wahrnehmbar wird. Bei af Klint wird das Wesentliche dagegen schon durch jeden einzelnen Schritt berührt, was sich bei den ‹Zehn Größten› durch den Wechsel farbiger Gründe noch intensiviert. Die Reihe beginnt zweimal mit Blau, einem tiefen und einem aufgehellten – die obige Beschreibung galt diesem zweiten Bild – gefolgt zweimal von Orange und anschließend einem Violett, das sich schrittweise aufhellt, bis es von einem Rosa und einem weiteren, sich fast verflüchtigenden Rosa abgelöst wird. Nicht nur innerhalb des einzelnen Bildes, auch in der Abfolge der Sequenz zeigt sich ein Zusammenspiel von Identität und Verwandlung. Die Heiterkeit eines jeden Bildes erhält ihre eigene Stimmung, die von der Konfiguration der Formen aufgegriffen und in eine jeweils ganz unterschiedliche Dynamik umgesetzt wird. So scheint das fünfte Bild ein rein gestimmter Höhepunkt zu sein, dem der hoffnungsfrohe Anfang der blauen und die Aufbruchsstimmung der orangen Bilder vorausgeht und auf den neue strukturgebende Elemente folgen, zusammen mit einer wieder nach unten greifenden Dynamik, die in Separierungen mündet und in Kristallisationsprozessen ihren Abschluss findet. Wir erfahren vom Thema Evolution und genauer vom Thema der Lebensalter Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter und hohes Alter. Es lassen sich die zehn Jahrsiebente des Lebenslaufes vermuten. Das Hineintragen von vorgefassten Gedanken aber versagt. Vielmehr kann man sich vorstellen, dass sich über die Jahre die Fülle der Konstellationen weiter erschließt und die Bilder zu wesenhaften Begleitern werden.
Jenseits der Leibesempfindung
Die geometrische Einfachheit der die Identitätserfahrung gewährleistenden Elemente, die Kreise, Ellipsen und deren Abwandlungen, sorgen jedoch dafür, dass sich dieser Erfahrungsweg in kosmischen Höhen und jenseits der eigenen Leibeserfahrung abspielt. Wir fühlen uns nicht, wie bei Kandinsky, gehoben, sondern entrückt, was angesichts der Entstehung der Bilder nicht überrascht. Vor dem Hintergrund ihrer jahrelangen medialen Erfahrung betrachtete sich af Klint nur als ein Werkzeug höherer, ihr namentlich bekannter Wesen, die ihr die Hand führten und die Ideen eingaben. Auch die musikalische Reingestimmtheit der Bilder gehört dazu, die mir durch den Gegensatz zu Beispielen von anderer Hand besonders deutlich wurde. Die Ansatzpunkte von Kandinsky und af Klint liegen weit auseinander. Kandinsky arbeitet sich aus der Gegenständlichkeit heraus und erreicht damit eine Ebene, auf der das Ganze das Einzelne bestimmt. Af Klint holt ihre Formen dagegen herunter aus einer Sphäre, in der das Leibliche gar keine Rolle spielt, in der wir uns vielmehr leibbefreit in der sich wandelnden Ausrichtung unseres Identitätsempfindens angesprochen fühlen. Von entgegengesetzter Seite kommend suchen beide nach Ausdrucksformen des Geistes und finden sie in der Abstraktion.
Steiner, Kandinsky, af Klint
Um eine Wirksamkeit des Geistes im Sinnlichen – künstlerisch gesprochen: um Gestaltbildung – geht es bei beiden aber nicht. Das ist der Grundgedanke der Anthroposophie mit ihrem Anliegen, bis in konkrete Handlungsweisen hinein zu inspirieren. Soweit es die Farbe betrifft, heißt das, sie nicht nur aus ihrer Bindung an den Gegenstand, sondern auch an den Fleck oder andere, mit ihr zusammen vorgestellte Formen zu befreien. Dann kann sie, anstatt zu drängen, beginnen zu strömen und sich aus diesem Strömen heraus neu zu figurieren. Erst das Einbeziehen dieser Position zeigt die Vielschichtigkeit der damaligen Situation. Dieses Anliegen war in der Zeit um 1910 aber noch kaum wahrzunehmen. Für Kandinsky war wichtig, bei Steiner die Realität des Geistes bestätigt zu finden, und af Klint hoffte auf ein klärendes Gespräch. Sie suchte nach einem Verständnis für ihre unter enormem innerem Ansturm entstandenen Bilder, nach deren Vollendung eine vierjährige Pause eingetreten war. In diese Zeit fiel das Gespräch, in dem Steiner ihre Arbeiten «ausführlich erläuterte» (siehe das Interview mit Anne Weise in dieser Ausgabe). Gerne wüsste man, wovon gesprochen wurde und ob von Metamorphose die Rede war! Jedenfalls zeigen auch af Klints weitere Arbeiten ein Zusammenwirken von Gleichartigkeit und Verschiedenheit, nahmen dabei aber einen viel strengeren, geradezu asketischen Charakter an. Die Farbe spielte kaum noch eine Rolle. Erst 1922 kehrte sie zu dieser zurück, indem sie begann, in Aquarell zu arbeiten, was in der Ausstellung nicht gezeigt, aber von einem im Museumsshop ausliegenden Katalog gründlich dokumentiert wird. Die kleinen Arbeiten zeigen farbige Wolken, aus denen sich meist hell ausgesparte Figuren herausbilden. Manche Blätter erinnern an den späten Odilon Redon, andere an Steiner. Tatsächlich wird sie 1920 Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft und verbringt bis 1930 oft mehrere Monate im Jahr in Dornach. Die Härte der gezeichneten Form verschwindet. Es beginnt ein neues Atmen, eine vorsichtig tastende Offenheit, in der die Höhensphäre als ihre Heimat noch immer spürbar ist.
Mit af Klints Arbeiten der 1910er-Jahre tat ich mich schwer. Aber ‹Die zehn Größten› im Original zu sehen, sollte, wer es irgend einrichten kann, nicht verpassen!