Die Erfahrung der eigenen Verwundbarkeit

Die Bewegung Black Lives matter enthält eine Signatur, die über die usa hinaus alle Menschen betrifft. Zudem steht dies im Zusammenhang mit anderen weltumspannenden Krisen. Als Echo zu dem Artikel von Daniel Hindes (‹Goetheanum› 24/2020), wirft hier Kai Hansen einen weiteren Blick auf die Rassismusfrage.


Die Strukturen sitzen tief. Rassismus macht einen Menschen aufgrund allgemeiner, äußerer oder nur vermuteter Merkmale zu Objekten der eigenen Vorstellung und beraubt sie ihrer Unvergleichbarkeit als handelnde Wesen.

Kolonialismus

Daniel Hindes nennt den Sklavenhandel als Grundlage des Reichtums der usa. Dieser Umstand, erweitert durch Zwangsarbeit und Landnahme, gilt jedoch für Europa ebenfalls. Die Kolonialgeschichte wirkt schmerzlich fort bis heute. Das ihr zugrunde liegende Menschenbild trägt bei zu den chaotischen Verhältnissen in vielen Teilen der Welt. In Deutschland gab und gibt es nicht nur Antisemitismus, es gab auch Menschenzoos, in denen Inder, Afrikaner usw. wie Tiere ausgestellt wurden. Auch in Europa basierte das Verhältnis zu den People of Colour nicht auf Respekt von gleich zu gleich. Gerechtfertigt wird das bis heute mit ‹qualitativen Unterschieden zwischen den Rassen›.(1) Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurde dies durch die Vererbungslehre einer Besonderheit des Blutes wissenschaftlich zugeordnet. Was zuvor zur Rechtfertigung der Privilegien des Adels diente, wurde im aufkommenden Bürgertum erweitert auf Menschen mit weißer Hautfarbe.(2) Der Zusammenhang zwischen Kolonialismus, Rassismus, Ausbeutung von Ressourcen und dem imperialistischen Kontrollanspruch kann deshalb auch als tragische Abirrung der europäischen Christenheit angesehen werden. Nicht zuletzt das von Thomas Hobbes (1679) vertretene Wort, der Mensch sei dem Menschen ein Wolf, markiert den moralisch-ethisch nie bewältigten Übergang eines dekadent gewordenen Absolutismus hin zu einem auf materialistisch-funktionsorientierten Fortschritt ausgerichteten Bürgertum. Die Rationalität des Einzelnen sieht ihren ‹Besitz› heute als persönliche Leistung an und lebt entsprechend auf Kosten des – durch Selbstbehauptung erzeugten – ‹Fremden›.

Protest von Black Lives Matter in London.

Was wachsen soll, ist materieller Reichtum, der das Andere, Fremde ausschließen will mittels patriarchaler und nationaler Absicherung. Die vielfältig auftretenden Katastrophen zeigen die Grenzen dieser Weltauffassung. Die Schattenseiten des global vernetzten Wirtschaftssystems liegen in der Abspaltung von Leben, das auch leben will. Es muss eine Fähigkeit erlernt werden zur gleichberechtigten, global geregelten Koexistenz und der «möglichsten Schonung alles Lebendigen» (Chr. Wagner, 1892), die «alles unter dem Himmel»(3) integriert.

Die Aufgabe des Anthropos

Daniel Hindes beschrieb die «Aufgabe und Fähigkeit der heutigen menschlichen Seele – [hin zur] Bewusstseinsseele –, sich sowohl der Muster als auch unserer eigenen Rolle bei deren Aufrechterhaltung bewusst zu werden». Das beschreibt eine Schwelle. Es ist diejenige zwischen Anthropos (Mensch) und Sophia (weltumspannender geistiger Weisheit). Das Menschenbild und die Weltanschauung rücken weltweit kritisch ins Bewusstsein. Was macht mich zum Menschen? Von was und wie lebe ich? Die Menschheit, Anthroposophen inbegriffen, leben noch weitgehend in Überzeugungen der Verstandesseele, wie Jörg Ewertowski darlegt.(4) Er führt aus, dass es erst einer seelischen Läuterung und Umschmelzung bedarf, die sich als Gefäß für das Geistige empfänglich macht.(5)

Die Aufgabe des Anthropos ist dabei, seelisch in eigener Einsicht das Trennende zu überwinden. Geisterinnernd im Handeln, geistbesinnend im Fühlen, geisterschauend im Denken, damit er die Sophia, die kosmische Weisheit des grundlegend Anderen in menschlicher Weise in sich finden kann. Es taucht die Einsicht auf, dass ‹das Andere› und ich gleichen Ursprungs sind.

Im Antlitz des Anderen tritt sich das Selbst als Mensch entgegen.

E. Levinas

Trennung kann überwunden werden, Verbundenheit aufleben, wenn Menschen sich als Tropfen im Meer der Menschheit verstehen. Eine Trennung in Rassen ist ein schädliches Konstrukt; ebenso das seelenleere Weltbild, das andere ausschließt zur Sicherung eigener Privilegien.

Ein Umschwung findet statt in jeder Begegnung, die, respektvoll einander ergänzend von gleich zu gleich, ein scheinbar Äußeres zur inneren Herzenssache macht. Junge Menschen und People of Colour weltweit fordern genau dies: Erkennt, was die von euch eingerichteten Strukturen und Verhaltensweisen für uns bedeuten. Sprecht miteinander über euren Rassismus, macht euch die Funktionsweisen des Ausschließens bewusst. Wir wollen nicht euer Mitleid, wir wollen eure Einsicht, in das, wodurch ihr Schmerz bereitet.

Ein erneuter Weckruf

Es braucht dazu eine kritische Selbsterkenntnis. Abstraktion macht die Welt beherrschbar und erzeugt Übersicht und Darüberstehen. Das darin Berechtigte steht hier nicht infrage. Wodurch aber entsteht Mitmenschlichkeit? Es bedarf der inneren Empfänglichkeit und Anerkennung für die unverwechselbare Eigenheit des anderen. Nur so kann das Nichtich als Du in mir erklingen. Die Anthroposophie beschreibt als höheres Ich, was die Welt in sich bewusst (mit-)trägt. Das andere bin ich auch.

Der Philosoph Emmanuel Levinas (1905–1995) wendet sich nach dem Holocaust gegen jeden Versuch, einen anderen Menschen nach eigenen Maßgaben zu vereinnahmen. Er schreibt: «Das Antlitz des Anderen ist wohl eine Hoheit, die es unmöglich macht, irgendetwas von der Beziehung dazu in die Macht des Eigenen zu übernehmen. Es ist die Erfahrung der eigenen Verwundbarkeit, durch die etwas einbricht, das [… nicht] beherrschbar ist. […] Im Antlitz des Anderen tritt sich das Selbst als Mensch entgegen».(6)

Die brutale Ermordung von George Floyd ist ein erneuter Weckruf, den weltweit Menschen als solchen auffassen. Es stehen bedeutende Änderungen an. In zunehmenden Teilen der Menschheit erwacht das Bewusstsein, dass jedes einzelne Menschenwesen ein eigener Kosmos ist und ein unverzichtbarer Teil der ganzen Menschheit. Noch dumpf, aber ebenfalls erwachend wird erkannt, dass das Respektieren von Lebensraum und Lebensweise für jedes Lebewesen der Erde durch den Menschen von entscheidender Bedeutung ist. «Der Mensch lebt im Geist, wenn er seinem Du zu antworten vermag. Er vermag es, wenn er in die Beziehung mit seinem ganzen Wesen eintritt. Vermöge seiner Beziehungskraft allein vermag der Mensch im Geist zu leben.»(7) In der Fähigkeit zur Koexistenz und Mitmenschlichkeit liegt der wahre Fortschritt und die wahre Zukunft menschlicher Intelligenz.


(1) Achill Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft. Suhrkamp, Berlin 2017, S. 125.
(2) Ebd.
(3) Zhao Thingyan, Alles unter dem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung, Suhrkamp, Berlin 2000.
(4) Jörg Ewertowski, Die Entdeckung der Bewusstseinsseele, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2007.
(5) Ebd., S. 88.
(6) Emmanuel Levinas, Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz. Verlag Alber, Freiburg u. München 1999.
(7) Martin Buber, Ich und Du. Verlag Lambert Schneider, Gerlingen 1983.

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