Der Riss, der durch die Gesellschaft geht, beginnt auch die Öffentlichkeit zu beunruhigen. Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander. Der Motor der Spaltungsdynamik wird allerdings noch wenig durchschaut. Als ein Schlüssel erweist sich, dass Rudolf Steiner davon spricht, dass die Menschheit an der Schwelle steht und dass dabei die Seelenkräfte von Denken, Fühlen und Wollen sich zu verselbständigen beginnen.
Doch nicht nur untereinander lösen sich die Seelenkräfte voneinander, auch das Verhältnis zu den morphologischen Grundlagen ist in Veränderung begriffen. Denken, Fühlen und Wollen gründen leiblich im Nerven-Sinnes-System (Denken), im Gliedmaßen-Stoffwechsel-System (Wille) und im rhythmischen System (Fühlen). Wir haben in der Welt außerhalb von uns etwas geschaffen und aus uns herausgesetzt, was sich in uns auf die anatomischen Grundlagen der Seelenkräfte stützt. Wir haben ‹Elektronengehirne› geschaffen, die uns die logischen Denkprozesse abnehmen. Es sind erst 80 Jahre her, seitdem im Jahre 1938 Konrad Zuse mit dem Z1 (dem «mechanischen Gehirn», wie er es damals nannte) den ersten Computer geschaffen hat. Seitdem hat die ‹künstliche Intelligenz› zunehmend Einzug in unser Leben gehalten. Zu den Apparaten, die das Denken ersetzen wollen, kommen solche, welche die Sinne erweitern wie Sensoren, Kameras und Mikrofone. Das heißt, etwas, was in uns als Seelenfähigkeit lebt, die Sinneswahrnehmung und das Denken, kommt uns jetzt von außen, als vom Menschen geschaffen, entgegen. Das bleibt natürlich nicht ohne Auswirkung auf das Verhältnis der Seelenkräfte untereinander.
Aber auch etwas, das mit dem Willen zu tun hat, haben wir aus uns herausgesetzt: Mithilfe der Gesetze der Mechanik haben wir Maschinen geschaffen, die uns die Anstrengungen der Vielzahl körperlicher Arbeiten abnehmen. Maschinen ersetzen uns die Bewegungen der Gliedmaßen. Das begann vor etwas über 200 Jahren mit der Entwicklung der ersten Dampflokomotive in Großbritannien und geht immer weiter, bis zu den unzähligen Hilfsmitteln, die unser tägliches Leben erleichtern. Die Elektronik imitiert unseren Denkapparat und erlaubt uns ein erweitertes sinnliches Wahrnehmen, und die in den Maschinen eingebaute Technik ist ein Ersatz körperlicher Tätigkeit. Unser Fühlen wird hingegen von der Unterhaltungsindustrie betreut, in der sich Technik und Elektronik die Hand reichen.
Beide Welten, die der Elektronik und die der Maschinen, haben das Seelenleben verändert und in verstärktem Maße auch unser soziales Leben, insbesondere das der Wirtschaft. Die Veränderungen des Wirtschaftslebens bleiben natürlich nicht ohne Auswirkung auf die anderen Glieder des sozialen Organismus: das Geistesleben und das Rechtsleben. Seit etwa 200 Jahren wächst dank der Maschinen und der Elektronik die Produktivität der Menschheit. In der Mitte des 20. Jahrhunderts wuchs die Produktivität zeitweise um 2,5 Prozent pro Jahr, in jüngster Zeit hat sich das Wachstum etwa auf 1,4 Prozent pro Jahr verlangsamt. Während die Produktivität wuchs, hat sich das Verhältnis zur Arbeitsleistung (Geistesleben) und zur Rechtsordnung nicht in der entsprechenden Weise entwickelt. Auf diese Tatsache weist Rudolf Steiner hin, wenn er anhand der Produktionssteigerung der Eisenindustrie zum Schluss kommt: «Die Dreigliederung vollzieht sich in den Tatsachen, nur passen sich die Menschen der Verwirklichung nicht an.» Wer diesen Satz etwas in sich bewegt, wird bemerken, dass die Dreigliederung an erster Stelle eine Frage des Bewusstseins ist. Sie muss gemäß dieser Aussage nicht eingeführt werden, sie findet statt im Prozess der Abspaltung der Wirtschaft. Man kann höchstens in der Weise davon sprechen, dass sie ‹eingeführt› werden muss, sodass die Prozesse nachvollzogen und vom Bewusstsein durchschaut werden müssen. Doch was heißt das?
Die Schere, die sich in der Gesellschaft auftut, die Trennung von Realwirtschaft und Finanzwirtschaft, die Übermacht des Kapitals etc. sind Symptome dafür, dass sich die Dreigliederung vollzieht. Die Hauptursache der Dominanz der Ökonomie über die anderen Glieder der Gesellschaft liegt darin, dass die Gewinne, die sich aus der Produktivitätssteigerung ergeben, nicht allen Menschen zugutekommen, sondern nur gewissen Kreisen. Es geht demnach darum, Maßnahmen zu ergreifen, welche die Produktivitätsgewinne einer möglichst breiten Bevölkerungsschicht zugutekommen lassen. Es wäre die Aufgabe der Assoziationen, hier für einen Ausgleich zu sorgen. Wenn tatsächlich neben den Produzenten auch das Interesse der Verbraucher genügend Gehör fände, gäbe es einen einfachen Weg: Da immer günstiger produziert wird, könnte man die Preise der diversen Produkte senken und die Differenz an die Verbraucher weitergeben. Das käme für diese einer Lohnerhöhung gleich. Doch dies ist nur in ungenügender Weise der Fall, wie die enormen Summen an Eigenkapital der Unternehmen und die extrem hohen Gehälter ihrer Vorstände zeigen. Ein Konzern wie zum Beispiel Volkswagen kann ohne Problem ein paar Milliarden an Strafe und Bußgeld zahlen. Einmal etabliert, hat ein Hersteller eines singulären Produktes eine große Marktmacht.
Eine weitere Möglichkeit zur Verteilung der Produktivitätsgewinne sind die Zinsen. Um hier an der Verteilung teilzunehmen, muss eine Voraussetzung erfüllt werden: Man muss selbst schon Geld besitzen. Erst ein eigenes Vermögen ermöglicht Einnahmen durch Zinsen, Aktien oder Immobilien. Zinsen haben etwas Unnatürliches, sie sind eigentlich «Unsinn», so Steiner. Durch Zinsen fließt das Geld von denen, die zu wenig haben, zu jenen, die genug haben. Zurzeit gibt es allerdings kaum Zinsen für Geldanlagen. Während bis vor dreißig, vierzig Jahren die Unternehmen Geld aufnehmen mussten, um sich zu finanzieren, und entsprechend den Banken Zinsen zahlten, haben die großen Unternehmen jetzt so viel Geld, dass sie sich selbst finanzieren können, dabei sind sie selbst teilweise zu bankartigen Institutionen geworden. In der Folge können auch die Banken mangels eigener Zinseinnahmen selbst keine Zinsen mehr weiterreichen. Nicht Mario Draghi, Chef der Europäischen Zentralbank (EZB), ist Schuld an den niedrigen Zinsen – in einer Zeitschrift wurde er jüngst Graf Draghila genannt, weil er den Sparern das Blut absauge –, sondern es sind rein von wirtschaftlichen Gesetzen bestimmte Prozesse.
Was man der EZB allerdings zuschreiben kann, ist, dass sie unentwegt enorme Geldsummen in Umlauf bringt, indem sie monatlich Staatsanleihen und Wertpapiere im Wert von ca. 60 Milliarden Euro kauft. Wenn mehr Geld im Umlauf ist, müsste es eigentlich zur Inflation (Teuerung) kommen. Dass dies nur partiell der Fall ist, kommt daher, dass wir gleichzeitig eine ‹Verbilligung› durch eine immer günstigere Produktion haben. Wenn zum Beispiel Milch über Jahre einen ähnlichen Preis hat, heißt das nicht, dass sie im Verhältnis zu anderen Produkten nicht immer billiger produziert worden ist. Erst an Werten wie zum Beispiel Grund und Boden, die sich nicht immer noch günstiger produzieren lassen, kommt die Teuerung zu Bewusstsein. Im Bereich der Wertpapiere und Immobilien macht sich die Teuerung bemerkbar, lässt Aktienkurse und den Preis von Immobilien und Mieten steigen und in großen Städten unerschwinglich werden für jene Menschen, die nur von ihrem Gehalt leben müssen. Der erwähnte Riss in der Gesellschaft hat da seinen Ursprung. Da wir keine Assoziationen haben, die einen Ausgleich schaffen, müssen noch andere Maßnahmen ergriffen werden.
Wir stehen an einer Schwelle. Wir haben mithilfe der Elektronik und der Mechanik unsere Fähigkeit zu produzieren enorm gesteigert und sind im Begriff, sie immer weiter zu steigern. Es gilt, dieser Tatsache Rechnung zu tragen und zu erkennen, dass nicht mehr die menschliche Leistung als entscheidender Produktionsfaktor der Garant für Wohlstand ist, sondern die Produktion der Automaten. Das fordert ein radikales Umdenken und Konsequenzen für das Rechtsleben. Die Dreigliederung als Tatsache zu erkennen, heißt, dass sich Leistung (Geistesleben) und Einkommen getrennt haben und somit Einkommen ohne entsprechende Leistungen möglich werden (wie zum Beispiel durch den erwähnten Besitz von Aktien und Immobilien) und dass zugleich auch die Situation eintritt, dass Leistungen erbracht werden, die zu Einkommen führen, die nicht vor Armut schützen (working poor). Müsste in Anbetracht dieser Tatsache die Trennung von Leistung und Einkommen nicht unter das Patronat des Rechtes gestellt werden? Das würde in der Konsequenz bedeuten, dass es darum geht, Mechanismen zu finden, um zum Beispiel durch eine Umverteilung mithilfe der Besteuerung des Verbrauchs – wie es Rudolf Steiner wiederholt vorgeschlagen hat – allen Menschen eines Wirtschaftsgebietes eine Teilhabe an den Produktivitätsgewinnen zu ermöglichen. Geschieht es nicht, sind Unruhen vorprogrammiert, die sich radikale Gruppierungen dann leicht zunutze machen können.
Zeichen von Philipp Tok