Wenn wir versuchen, Organisationen zu strukturieren, zu lenken, dann haben wir zwei Prinzipien: als Pyramide symbolisiert, die Kultur der Empfindungsseele und die Kultur der Verstandesseele. Seit der beginnenden Neuzeit leben wir in der Kultur der Bewusstseinsseele, und so ist zu fragen, was die angemessenen Formen des Arbeitens heute sind, die den neuen Fähigkeiten der Seele entsprechen.
Dem Prinzip der Empfindungsseele ordne ich die Wirksamkeit von Autoritäten von Vorbildern zu, während die Verstandesseele Regeln und Konzepten des Zusammenlebens folgt. Auf der dritten Stufe der Bewusstseinsseele ist es die Einsicht des einzelnen Menschen, aus der sich das Miteinander ergibt.
Wie muss eine Organisation geführt und strukturiert werden, sodass die einzelnen handelnden Menschen aus ihrem Ich heraus ihre Handlungen gestalten können? Das ist die große Frage, die heute alle Organisationen – zumindest unbewusst – bewegt. Schon 1905 sagt Rudolf Steiner, es müsse ermöglicht werden, dass ein jeder freiwillig tut, wozu er berufen ist nach dem Maß seiner Fähigkeiten und Kräfte.
Drei Entwicklungen und drei Krisen möchte ich hierzu skizzieren. Erstens die Krise und die Entwicklung der Führung, zweitens die Entwicklung der Zusammenarbeit zwischen den Menschen im Arbeitsalltag und drittens die Entwicklung der Gemeinschaft.
Traditionellerweise vollzieht sich Führung häufig so, dass Menschen gegen ihren Willen oder ohne ihr Einverständnis zu etwas verpflichtet werden, entweder von Autoritäten oder durch Regeln. Natürlich spielen Autoritäten und auch Regeln und Konzepte eine wertvolle Rolle in Organisationen. Das heißt, die Führung hat ein Ziel im Auge und greift direkt in das Handeln der Menschen ein, damit das Ziel verwirklicht wird. Zeitgemäße Führung hingegen richtet sich an das Bewusstsein der Menschen. Das Ziel soll den Menschen führen, nicht der Chef! Die Führungskraft hat die Aufgabe, eine dialogische Verständigung auf Augenhöhe zu führen, und die Mitarbeitenden haben das Recht auf Selbstverpflichtung im Sinne Kants. Würde ist das Recht auf Selbstverpflichtung. Der Einfluss der Führungskräfte richtet sich dabei auf das Denken der Menschen. In erster Linie muss sie die Mission der Einrichtung bewusst halten. Die Gesamtheit, so Rudolf Steiner, sollte von einem wirklichen Geist erfüllt sein, an dem ein jeder Anteil nimmt.
Haben wir den Mut, uns von der Mission leiten zu lassen?
Die Gesamtheit muss eine geistige Mission haben, und jeder Einzelne muss beitragen wollen, dass diese Mission erfüllt werde, so Steiner. Heute sprechen wir von Purpose. Viele Organisationen bemühen sich um diesen Purpose. Sie wissen, wie wichtig er ist. Hier entstehen Konflikte mit den traditionellen Formen. Wenn Autoritäten und Regeln bestimmend sind, dann kann diese Mission nicht wirksam werden. Hier liegt die Frage: Haben wir den Mut, uns von der Mission leiten zu lassen im Handeln?
Zwei Beispiele, aus dem Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe und dem Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke, die diese Mission verdeutlichen: Für beide Krankenhäuser bestimmt zunächst die mündige Patientin, der mündige Patient die Mission, daraus leitet sich dann die Zusammenarbeit ab. Havelhöhe: «Die Anerkennung der Patienten als mündige Partner setzt voraus, dass die Mitarbeiter Arbeitsformen entwickeln, in denen sie selbst als mündige Partner zusammenarbeiten.» Im Leitbild von Herdecke: «Die zielgerichtete Arbeit an den alltäglichen Aufgaben und Zukunftsprojekten entspringt vorrangig der Einsicht und Eigeninitiative der Verantwortlichen.»
Zeitgemäße Führung richtet sich an das Bewusstsein der Menschen. Das Ziel soll den Menschen führen, nicht der Chef!
Solche Missionen zu formulieren, verlangt Mut! Natürlich gibt es immer eine Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Aber wenn man solche Aussagen trifft, dann macht man sich verletzbar. Man sagt, wie man arbeiten möchte. Es ist leicht, zu sagen, ihr werdet diesem Anspruch nicht gerecht. Das stimmt. Aber dieses Öffnen eines Dialograumes ist eine mutige Tat und wenige Leitbilder formulieren solch klare Sätze, die sich an den Willen der Menschen richten. Es gibt natürlich noch andere Ebenen und Ausformungen dieses Einsichtschaffens, dieser dialogischen Verständigung. Die große Krise der Führung, die Jahrzehnte andauert, ist die zwischen Appellieren an die Einsicht des freien Menschen und Fremdverpflichtung durch Autoritäten und Regeln. Damit diese Entwicklung der Führungskultur voranschreiten kann, muss zugleich eine zweite Entwicklung stattfinden: die Entwicklung der Zusammenarbeit. Zu ihr gehört auch die Fehlbarkeit des Menschen. Jeder Mensch ist fehlbar, auch der erfahrenste. Deshalb brauchen wir Rückmeldungen. Wir brauchen Kritik von unseren Kolleginnen und Kollegen in der Zusammenarbeit, sonst geschieht keine Entwicklung. Auch das ist eine Mutfrage, uns gegenseitig rückzumelden, wie wir unsere Arbeiten erleben zwischen den Berufsgruppen, zwischen den Abteilungen. Diese Entwicklung muss vorangetrieben werden, sonst kann die Führung die Macht nicht loslassen.
Sich voreinander verantworten
Wie soll eine Organisation funktionieren, wenn die Menschen frei handeln? Es geht um viel: Es steht die Wirtschaftlichkeit auf dem Spiel, das soziale Klima. Es steht auch die Mission selbst auf dem Spiel. Wird die Leistung qualitativ hochwertig erbracht oder sinkt sie, wenn alle freiwillig handeln? Das Beste ist natürlich, darauf zu vertrauen, dass alle Menschen in ihrer Zusammenarbeit das Beste wollen. Aber die Fehlbarkeit macht uns einen Strich durch die Rechnung. Und die Fehlbarkeit bezieht sich vor allem auf Unbewusstes, unbewusste Unfähigkeiten, unbewusste Egoismen. Es geht darum, dass sich die Menschen in der Zusammenarbeit kollegial voreinander verantworten. Erfahrungsgemäß ist es für viele Menschen noch schwieriger, sich vor Kolleginnen und Kollegen zu verantworten als vor Führungskräften. Wir sind traditionellerweise gewohnt, uns vor Führungskräften verantworten zu müssen, aber jetzt sind es Kolleginnen und Kollegen unabhängig von Hierarchie, denen gegenüber wir uns verantworten. Können wir uns auch kritische Rückmeldungen zugestehen?
Was macht mir Sorgen in meiner Arbeit? Wie fühle ich mich? Es geht darum, ehrlich zu sein, aus der Seele zu sprechen, etwas von sich zu zeigen.
Ein Wort zur Freiheit: Freiheit heißt ja nicht, zu tun, was ich mag, sondern aus freiem Entschluss zu tun, was notwendig ist. Freiheit hängt also mit Verantwortung zusammen, sonst ist es keine Freiheit. Nur der freie Mensch kann für eine Handlung verantwortlich gemacht werden. Sonst kann sich ein Mensch immer auf eine Regel oder eine Autorität zurückziehen. Es kann sich also nur der freie Mensch verantworten und zugleich muss sich gerade der freie Mensch verantworten wegen seiner Fehlbarkeit. Ich habe für diese Entwicklungsarbeit in Organisationen im Dialog mit den Kunden ein Modell entwickelt. Ich nenne es das Modell der Verantwortungskultur. Die Kultur des Gehorsams funktioniert über Anordnungen und Regeln und deren Kontrolle. Wenn man das überwinden will, dann tritt an die Stelle von Anordnung und Regel die Eigeninitiative und aus Kontrolle wird gegenseitiges Verantworten.
Die Menschen haben aber darüber hinaus auch eigene Vorstellungen, manchmal ‹eigenmächtige› Vorstellungen. Sie weisen es zurück, sich verantworten zu müssen. Dann droht eine Kultur der Mutwilligkeit, der Beliebigkeit. Ich habe mir erlaubt, geistige Prinzipien zuzuordnen, nämlich der Gehorsamskultur das ahrimanische Prinzip, weil es mit Macht zu tun hat, und der Mutwilligkeitskultur das luziferische Prinzip, weil es mit Selbstüberhöhung zu tun hat, mit Anmaßung. Und die Kultur von Freiheit und Verantwortung ist die Verwirklichung einer christlichen Kultur im anthroposophischen Sinne.
Weil diese Entwicklung hin zu einer Verantwortungskultur noch nicht so weit fortgeschritten ist, empfiehlt es sich, sie top down einzuführen in einer Organisation. Das heißt, die Führungskräfte, die ja auch Teil der Zusammenarbeit sind, sollen beginnen mit diesem gegenseitigen Verantworten. Was Führungskräfte entscheiden, hat große Wirkungen auf viele Menschen. Dazu ein Beispiel: Im Krankenhaus Havelhöhe wurde der Leitungskreis für fünf Jahre neu bestellt. Dafür hat sich dieser Kreis 60 bis 70 Menschen aus allen Bereichen und Berufsfeldern der Organisation, auch aus verschiedenen Hierarchiestufen gestellt. Da kam natürlich viel Dank zur Sprache, aber auch kritische Dinge von Menschen, die einem unterstellt sind. Es ist eine so ungewohnte seelische Bewegung und es handelt sich dabei nicht um Basisdemokratie. Der Leitungskreis wird hier also vom Stiftungsvorstand bestellt, aber auch auf Basis einer solchen Begegnung mit den verschiedenen Berufsgruppen und Hierarchiestufen der Klinik.
Dann komme ich auf die dritte Entwicklung zu sprechen. Ich nenne sie die Entwicklung der Gemeinschaft im engeren Sinne. Wie arbeiten wir gemeinsam? Was gelingt uns gut, was gelingt uns nicht so gut? Was könnten wir verändern? Diese Fragen in größeren Gemeinschaften zu bewegen, ist eine anspruchsvolle Sache. Viele traditionelle Organisationen schrecken vor dieser Idee zurück. Sie sagen: «Die Menschen sind nicht fähig dazu. Das müssen die Führungskräfte machen.» Ja, natürlich können Führungskräfte da eine maßgebliche Rolle spielen. Aber im Sinne der Dreigliederung kann man auch sagen, hier kommen Menschen zusammen, die in unterschiedlichen Berufen arbeiten und auch auf verschiedenen Ebenen. Und sie sprechen gemeinsam über ihre Arbeit, über ihre Rollen, über ihre Prozesse, über ihre Strukturen, über ihre Leiden und Nöte, über ihre Hoffnungen. Das würde ich als eine Entwicklungskonferenz bezeichnen, die am besten rhythmisch stattfindet. Also zum Beispiel monatlich oder auch zweimal im Jahr, für zwei Tage. Es gibt unterschiedliche Formen.
Jedenfalls ist das Wie der Gemeinschaftsbildung wichtig, nämlich dass sich dort eine besondere seelische Atmosphäre entfaltet. Rudolf Steiner: «Der Mensch möchte sich in der bewusstseinshellen Zeit heute durch das rein Menschliche an das rein Menschliche des anderen anschließen.» Eine bedeutungsvolle Aussage, die zu vertiefen sich lohnt. Dieses Bedürfnis der rein menschlichen Begegnung ist hoch. Und diese menschliche Begegnung vollzieht sich nicht ohne Weiteres ‹menschlich›. Gerade in komplexen Organisationen verstecken wir uns oft hinter Rollen und Masken.
Nun zum Was, zum Inhalt solcher Entwicklungskonferenzen. Nach meiner Überzeugung ist die Organisation der Bewusstseinsseele nicht vordefiniert. Es gibt keine Schablone. Die gängigen Modelle und Konzepte – das hat Bernhard Lievegood einmal deutlich geäußert – sind alle für die Verstandesseele gemacht. Das liegt im Wesen des Konzepts. Die Organisation der Bewusstseinsseele kann eben nicht geplant werden, sie entsteht durch schöpferisches Co-Kreieren. «Was ein Organismus ist, das organisiert man eben nicht, das wächst», sagt Rudolf Steiner. «Es ist das Wesen des Organismus, dass man ihn nicht zu organisieren hat, dass er sich selbst organisiert.»
Spüre deine Fußsohle
Solche Entwicklungskonferenzen sind also Organe, die der soziale Organismus sich schafft, um sich selbst wahrzunehmen, um Ideen und Impulse zu bekommen, wie er sich weiter formen will. Da spielen intuitive Fähigkeiten eine Rolle, und sie kommen aus unvermuteten Ecken. Ich leite in meinem Beruf häufig solche Organisationsentwicklungs-Workshops. Dann schaue ich, wie die Menschen sich verhalten. Man spürt, dass manche reserviert sind, andere offen, manche sich freuen, andere skeptisch sind. Manche fühlen sich unwohl, weil andere im Raum sind. Manche scheinen etwas traumatisiert von früheren solchen Ereignissen, die sie frustriert oder gelangweilt haben. Die Stimmung ist also alles andere als optimal – meistens. Deshalb habe ich begonnen, Vorübungen zu machen. Eine der einfachsten Übungen ist die, dass Sie die Menschen einladen, ihre Fußsohlen zu spüren, und dieses Spüren möglichst lange aufrechterhalten. Man bemerkt dann, dass man irgendwann aufgehört hat, zu spüren. Es ist so einfach, aber wahr: Wenn Menschen sich spüren, dann sind sie mehr in ihrer Mitte, dann ändert sich etwas zum Positiven. Das ist eine praktische Erfahrung.
Ein Körpertherapeut erklärte mir, dass das Großhirn die Fußsohlen nicht spüren kann, dass man mit dem Spüren andere Gehirnareale aktiviere und damit das Bewusstsein ganzheitlicher werde. Jedenfalls verbessert sich die Atmosphäre, wenn Menschen sich spüren, wenn sie einen Aufmerksamkeitsraum bilden, wenn sie sich ihrer selbst mehr bewusst werden.
Urteilskraft sollte einen selbstlosen Charakter bekommen, sodass die Gruppe zum Bewusstseinsorgan für den sozialen Organismus wird.
Ich versuche dann, auch solche Übungen zu praktizieren: In Paarübungen hört ein Mensch zu und spürt seine Fußsohlen. Und der andere Mensch sollte sich jetzt ganz einfach als Mensch zeigen. Fragestellungen zum Beispiel können sein: Was hat mich in der letzten Zeit stark beschäftigt in meiner Arbeit? Was macht mir Sorgen in meiner Arbeit? Wie fühle ich mich? Es geht darum, ehrlich zu sein, aus der Seele zu sprechen, etwas von sich zu zeigen. Und der andere Mensch hat diese Achtsamkeit, dieses Gewahrsein, dieses ruhige In-der-eigenen-Mitte-Sein. Und nach zehn Minuten kann man wechseln. Nach einer solchen Vorübung ist die Atmosphäre verbessert.
Ich empfehle dann auch, wenn wir im Kreis sitzen, dass das Spüren weiterhin sinnvoll ist. Manchmal bitte ich die Menschen, ans Fenster zu treten, das Sonnenlicht wahrzunehmen. Und ich bitte die Menschen dann zu schildern, was in ihrer Seele geschieht. Dann sagen die Menschen, dass es ihre Seele weite, es Ruhe und Frieden schenke. Und dann bitte ich die Menschen, dieses innere Licht mitzunehmen in die gemeinsame Arbeit. Manchmal muss ich die Arbeit wieder unterbrechen und erneut eine solche Übung machen. Es hat sich gezeigt, dass die Zeit sich rentiert, die man für solche Dinge investiert. Denn nachher ist die Gruppe ganz anders arbeitsfähig, weil diese Qualität der Begegnung von Mensch zu Mensch veranlagt ist. Dadurch verfügen die Menschen, verfügt die Gruppe über eine bessere Urteilskraft. Die Urteilskraft wendet sich entweder auf die Erkenntnisseite beim Verstehen von Dingen und Prozessen oder sie wendet sich auf die Willensseite. Welche Initiativen, welche Ideen wären hilfreich für die Weiterentwicklung? Diese Urteilskraft sollte einen selbstlosen Charakter bekommen, sodass die Gruppe zu einem Organ für den sozialen Organismus wird, zu einem Bewusstseinsorgan für den sozialen Organismus.
Den Stier bei den Hörnern packen
Eine Kernfrage des Unternehmens, die dort besprochen werden kann, ist zum Beispiel: Wo wird im nächsten Jahr investiert und wo nicht? Da melden sich naturgemäß recht persönliche Eigeninteressen zu Wort. Hier wird zur Feuerprobe, ob man die Kraft und Selbstlosigkeit besitzt, auf den gesamten sozialen Organismus zu schauen und die verschiedenen, vielleicht polaren Stimmen hören zu wollen. Wo ist die Entwicklung jetzt wichtiger? Kann man vielleicht die eine vorantreiben und die andere zurückstellen? Wären die Menschen bereit, das zu verstehen? Wenn die Atmosphäre stimmt und diese Begegnung von Mensch zu Mensch veranlagt ist, dann sind erfahrungsgemäß die meisten Menschen bereit, selbstlos zu urteilen. Sie können es, sie wollen es, sie verstehen es. Es ist dann so eine Art gelebte Anthroposophie, praktische Anthroposophie, die nicht nur die Menschen erreicht, die eine innere Schulung durchmachen, sondern auch andere, die sich nicht explizit als Anthroposophen verstehen.
Wenn die Atmosphäre stimmt, dann sind die meisten Menschen bereit, selbstlos zu urteilen.
Ein Beispiel: Ich komme zu einer Entwicklungskonferenz und wir haben wirklich viel vor. Wir haben Entscheidungen zu treffen und ich sehe die Menschen im Raum und merke, da ist was passiert. Sie scheinen verschreckt und aufgeregt und nervös. Und dann erzählen sie mir: Ja, am Vorabend, sie waren schon im Hotel, da ist ein alter Streit aufgebrochen mit Tränen bei dem einen und Wut bei der anderen. Sie haben es eigentlich gut gemeint, aber es ist nicht gut gegangen. In solch einem Fall, wenn der Doppelgänger, dieser Schatten einer Gruppe, so an der Gemeinschaft haftet, dann packt man am besten den Stier bei den Hörnern. Und dann mache ich die Vorübungen so, dass ich die Menschen zum Austausch zu folgender Fragestellung einlade: Was habe ich in letzter Zeit getan oder nicht getan, was mir aus heutiger Sicht leidtut, was ich so nicht mehr tun würde, wofür ich mich schäme in der Organisation. Ich bitte dann die Menschen, einen Partner, eine Partnerin zu wählen, mit der sie entweder nicht so viel zu tun oder vielleicht sogar eine Differenz oder einen Konflikt haben. Wieder folgen die Übungen zur Fußsohle oder die Übungen zum Licht. Dann kann man in der großen Runde weitermachen und wenigstens einige stellen dieses ganz Persönliche, Fehlbare in die Runde. Und wenn man das macht und man offen über diese Doppelgängererfahrungen spricht, dann ist es, als hätte man einen Zauberstab in Händen. Der Konflikt in der Gruppe erscheint jetzt als ein Glücksfall, weil die Intensität der Begegnung durch den Streit auf ein hohes Niveau gehoben wird.
Wenn man offen über diese Doppelgängererfahrungen spricht, dann ist es, als hätte man einen Zauberstab in den Händen.
Das ist noch einmal ein wesentlicher Schritt, ob solch ein selbstoffenbarendes Gespräch unter vier Augen stattfindet oder man sich vor der großen Gruppe äußert. Wenn dann einzelne Menschen sich hier überwinden, dann verstehen andere Menschen: «Aha, ich leide unter diesem Menschen oder unter seinem Doppelgänger, aber er sieht ihn wenigstens.» Da gibt es eine Selbstdistanzierung. Er will gar nicht identifiziert sein mit dem. Vielleicht gelingt es ihm, vielleicht gelingt es nicht lange, aber es bildet Vertrauen, wenn man einen Menschen über seinen Doppelgänger sprechen hört. Das ist wieder eine praktische Übung, die ich aus der Not heraus entwickelt habe und die funktioniert.
Jetzt möchte ich noch zu einem Thema kommen, das mir persönlich ein Herzensanliegen ist und das ich noch nicht ausgelotet habe. Es geht darum, dass in anthroposophischen therapeutischen Gemeinschaften eben immer diejenigen sind, die der Anthroposophie explizit sehr nahestehen, und auch andere, die das nicht tun, die ja vielleicht hier und dort mal in Berührung mit ihr kamen und das ganz interessant finden, aber nicht näher im Kontakt, manchmal auch distanziert und manchmal auch skeptisch sind. Und ich habe bemerkt, dass diejenigen, die keine explizite Zugehörigkeit haben, manchmal seelisch still leiden, manchmal unbewusst, manchmal bewusst.
Mir hat eine Führungskraft einmal mitgeteilt, wie sehr sie unter dieser Nichtzugehörigkeit leidet, die so zwischen den Zeilen an sie herandringt. Der Mensch versucht seine ganze Energie für die Organisation aufzubringen und ist identifiziert, möchte das Beste und bekommt dann signalisiert: «So ganz gehörst du nicht zu uns.» Solch eine Ausgrenzung kann zu Krisen führen, das kann zu tiefen Selbstzweifeln, auch zu unbewusstem Schmerz, vielleicht auch zu Somatisierungen führen.
Ich bin grundsätzlich beeindruckt, wie gut das Zusammenspiel dieser zwei Gruppen funktioniert. Denn ich erkenne oft nicht, wer ist wer. Ich frag auch nicht, ich will es auch gar nicht wissen. Also auf den ersten Blick machen das die therapeutischen Einrichtungen wunderbar. Auf den zweiten Blick glaube ich, da gibt es noch Leid, da gibt es Schmerz und da gibt es Entwicklungsmöglichkeiten. Und ich erlaube mir jetzt, aus der anthroposophischen Gemeinschaftsbildung aus dem Vortrag vom 3.3.1923 heraus einen Gedanken hier vorzubringen, den Rudolf Steiner auf Christengemeinschaft und Anthroposophische Gesellschaft bezogen hat. Ich würde ihn aber erweitern. Er hat gesagt: Jeder Mensch hat zwei gemeinschaftsbildende Sehnsüchte. Die eine ist die Sehnsucht nach der Herkunft. Normalerweise ist es die Sprache, es ist die Erinnerung, die gemeinsame Kindheit. Die Erinnerung kann sich auch auf das Vorgeburtliche beziehen. Also es gibt aus der Erinnerung ein Gemeinschaftsgefühl. Dann hat Rudolf Steiner mit einer gewissen Ernsthaftigkeit darauf hingewiesen, es gebe vor allem seit Ende des 19. Jahrhunderts eine zweite Form der Sehnsucht, und wichtig sei es, diese Sehnsucht auch ins Bewusstsein zu heben. Sie zeige sich im gemeinsamen Idealismus und in Idealen. Ideale sind ja die ordnenden Kräfte des Willenslebens, der Zukunftsimpulse. Ich setze mich stark dafür ein, diese Gemeinschaftsbildung in Richtung des gemeinsamen zukünftigen Wollens noch ernster zu nehmen. Meine Meinung ist, dass jede Arbeitsgemeinschaft eine Gemeinschaft des Idealismus ist, eine Gemeinschaft gemeinsamen Willens, gemeinsamer Zukunft.
Und das ist es vor allem, was in solchen Entwicklungskonferenzen, dem Herzorgan der Organisation, stattfinden sollte. «Die Veränderung der Arbeitswelt verlangt, dass der Horizont der Menschen vergrößert wird, dass die Menschen herausgerufen werden auf einen Plan, auf dem sie mit ihren Mitmenschen in großen Kreisen zusammentreffen werden, um als Mensch für den Menschen Interesse zu entwickeln. Das muss eintreten, dass selbst derjenige, der in dem verborgensten Winkel an einer einzelnen Schraube für einen großen Zusammenhang arbeitet, sich als ein würdiges Glied innerhalb des Kreises seiner Mitmenschen fühlt.» So beschreibt Rudolf Steiner diese Sehnsucht jedes einzelnen Menschen.
Zusammenfassend sind also die drei großen Krisen das Loslösen der Führung vom Machtprinzip hin zum Prinzip der freien Einsicht. In der Zusammenarbeit die Loslösung vom allzu persönlichen, antisozialen Gefangensein in sich selbst hin zu dem verstärkten Interesse am anderen Menschen und dabei die Bereitschaft, sich anzuhören, wie der andere Mensch meine Arbeit erlebt, was er sich wünscht. Und die dritte Krise ist das Loslösen von der Herkunftsgemeinschaft hin zu einem Gemeinschaftsgefühl gemeinsamer Ideale, gemeinsamer Vorhaben.
Drei Krisen als eine Herausforderung
Diese drei Entwicklungen sollten also im sozialen Organismus zusammenwirken. Die Führung erwartet – man könnte auch sagen, verlangt – die Verantwortlichkeit in der Zusammenarbeit, dieses gemeinsame sich voreinander Verantworten. Im Gegenzug leistet die Zusammenarbeit dann etwas, das bisher die Führung geleistet hat. Also sie unterstützt die Führung, sie entlastet die Führung aus der Zusammenarbeit heraus. Da entstehen aber natürlich viele Probleme und Fragen, gerade wie man so als freie Menschen zusammenarbeitet. Diese Fragen können in die Entwicklungskonferenzen eingebracht werden, und dort entstehen Lösungen und dort entsteht Vertrauen, was in die Zusammenarbeit zurückwirkt. Diese Entwicklungskonferenzen sollten wiederum von der Führung gewollt werden. Es muss Raum dafür geschaffen werden, es müssen Ressourcen frei gemacht werden, damit die Menschen auch die Zeit miteinander lernend verbringen können. Die Führung ermöglicht also diese Gemeinschaft. Und wiederum aus der Gemeinschaft gibt es diesen Rückfluss von Vertrauen und von Ideen, der der Führung wieder hilft. Es sind nur einige exemplarische Verbindungen, so wie im menschlichen Organismus auch das Nervensystem verbunden ist mit dem Herzsystem und mit dem vegetativen System.
Jede Arbeitsgemeinschaft ist eine Gemeinschaft gemeinsamen Willens, gemeinsamer Zukunft.
Von der Gemeinschaft zur Gemeinschaft der Gemeinschaften
Es gibt eine Entwicklung, die ich nicht angesprochen habe, weil sie meiner Ansicht nach eine Überforderung dargestellt hätte, nämlich diese Kultur der Bewusstseinsseele über die Organisation hinauszutragen. Mein Kollege Friedrich Glasl hat sie die Kultur der Assoziation genannt. Er hat eine vierte Phase neben die drei gestellt. Ich habe auch manchmal ein wenig damit zu tun im Dachverband Anthroposophische Medizin in Deutschland oder bei der Anthromed. Da wirken verschiedene Organisationen zusammen und könnten noch viel stärker zusammenwirken. Sie könnten viel mehr Verbindlichkeiten eingehen, viel mehr Absprachen treffen, koordinierter handeln. Diese Zukunftsentwicklungen sind nochmals ein eigenes Thema.
Alle Zeichnungen von Adrien Jutard, Kohlezeichnung, 2022
Habe leider nichts vernommen über die an der Weihnachtstagung 1923 erneuerten Anthroposophischen Gesellschaft als das Urbild zukünftiger Gemeinschaftsbildung, ohne deren wir nicht weiter Richtung 6. Kulturepoche kommen können wie dies Herbert Witzenmann dies in seiner sozialästhetischen Studien so meisterhaft auseinandergesetzt hat. Liegt es vielleicht daran, dass Jack Moens, von dem der Autor u.a. ausgebildet worden ist, aus der Ecke von der NPI von Bernard Lievegoed herkommt, der sich nie um diese Sichtweise gekümmert hat, obwohl er mal Erster Vorsitzender der Anthroposophischen Gesellschaft in den Niederlanden gewesen ist?
Oder liegt es auch an der Organisationsform der damals erneurten AG, die nicht verstanden und realisiert wurde, heute schwer beschädigt ist und selbst Wiederherstellt werden soll?
Die Gemeinschaft der durch die Geisteswissenschaft verbundenen Menschen muss sich mit aller Kraft und allem Mut den Aufgaben einer Überwindung der gegenwärtigen Weltkatastrophen zuwenden. Sie kann dies mit der Befreiung von dem eigenen Egoismus beginnen.
Alles Arbeiten für Geld und die Unfähigkeit der Gemeinschaftzur Wahrnehmung ihres Versorgungsauftrages gegenüber jedem ihrer Mitglieder, ist nach wie vor die Ursache für alle Not, Armut und das Elend und der sich daran anschließenden Zerstörung und Gewalt in der Welt. Dieses beginnt im Kleinen und gilt für das große Weltganze.
Die Bereitschaft zu einer Umverteilung und Neuverteilung des individuellen Einkommens und Vermögens wird der vorrangige Weg, hinter dem alle psychologischen Maßnahmen und Betrachtungen seelischer Hygiene in der Gemeinschaftsbildung und Selbsterziehung zurückstehen können und müssen. Es geht nach wie vor allein darum, dem Egoismus des Einzelnen auf demokratischem Wege zu begegnen und das Ideal der Brüderlichkeit, mit einer Willensentscheidung im privaten wirtschaftlichen Lebens zu beginnen, das Ich und die Menschheit als Einheit zu denken.
Will ich nicht schreiben