In den Tagen nach dem Großbrand des Goetheanum an Silvester 1922/23 begannen unter Federführung des Gerichtspräsidenten Josef Haberthür umfangreiche Untersuchungen und Zeugenbefragungen zu den Abläufen der Brandnacht und den möglichen Ursachen.
Der Verdacht auf vorsätzliche Brandstiftung wurde früh und keinesfalls nur von anthroposophischer Seite geäußert. Ein elektrischer Kurzschluss oder eine Überwärmung der Heizungsanlagen waren noch in der Brandnacht ausgeschlossen worden. Spuren der Brandstiftung und der Brandherd waren an strategischer Stelle lokalisiert worden («Das Feuer muss von einer mit den Gebäulichkeiten und deren Konstruktion vertrauten Person gelegt worden sein», hielt der Oberleutnant der Basler Feuerwehr in seiner Expertise fest) – und die aggressiven Auseinandersetzungen um die Anthroposophie, das Goetheanum und Rudolf Steiner hatten vor dem Brand immer mehr an Schärfe gewonnen. An Drohungen hatte es nicht gefehlt.
Die Akten der gerichtlichen Untersuchung, die noch am 31. Januar 1924 vom Bruder des umgekommenen Arlesheimer Uhrmachers Jakob Ott – dem einzigen Opfer der Brandnacht – eingesehen worden waren, galten seither als verschollen. Erst 1974, ein halbes Jahrhundert nach Fritz Otts Lektüre, wurden sie im Haus eines ehemaligen kantonalen Feuerinspektors wieder aufgefunden, wiederum 40 Jahre später (2014) dann dem Staatsarchiv Solothurn übergeben. Im November 2022, kurz vor der Gedenknacht, erfolgte ihre Publikation in Buchform durch eine Gruppe anthroposophischer Historiker (Forschungskreis Angewandte Anthroposophie). Auch wenn der Anlass der gerichtlichen Untersuchung in erster Linie ökonomischer und rechtlicher Natur war – das Goetheanum war für 3,5 Millionen Schweizer Franken bei der staatlichen Solothurner Brandversicherung versichert –, sind die Zeugenaussagen und Expertenberichte ausgesprochen lesenswert. Sie geben originäre, nicht von einer längeren Erinnerung verzerrte oder überlagerte Einblicke in die Vorgänge der Brandnacht, in die Arbeit der Feuerwehren von Arlesheim, Dornach, Münchenstein und Basel, aber auch in die Löschversuche von anthroposophischer Seite, die innerhalb des Baues und nahe am Brandherd bis kurz vor dem Einsturz der Kuppeln unternommen wurden (vgl. den Bericht von Eugen Kolisko, S. 233 ff.). Sie geben weiter Kunde vom Verhör einiger Verdächtiger, die im Vorfeld des Brandes durch Reden oder Aktionen gegen das Goetheanum auffällig geworden waren – allerdings unter Schonung des Pfarrers von Arlesheim Max Kully, der nahezu kein Thema war, obwohl er das unumstrittene lokale Agitationszentrum gegen den Bau gebildet hatte und mit aggressiven, rassistischen und antisemitischen Polemiken gegen Rudolf Steiner seit 1920 hervorgetreten war (in Form von Kanzelpredigten, Artikeln, Broschüren und ‹seelsorgerischen› Gesprächen). Die Zeugnisse des Bandes thematisieren weiter die Suche nach Jakob Ott, dem 27-jährigen Uhrmacher von Arlesheim, der nach dem Brand des Goetheanum verschwunden war, nicht mehr auftauchte und ab dem 5. Januar 1923 als möglicher Brandstifter gehandelt wurde. Die Dokumente zeigen, wie schnell jemand unter Mitwirkung der Medien in eine verdächtige und verfolgte Position geraten kann – am 7. Januar 1923 wurde Otts Foto als geflohener Hauptverdächtiger in der ‹National-Zeitung› abgebildet. Am 10. Januar wurden dann seine sterblichen Überreste im Bühnenuntergeschoss des Ostteiles des zerstörten Baues gefunden, nahe dem Ort des Grundsteins, bedeckt vom Schiefer der eingefallenen kleinen Kuppel. Ott war seit Juli 1922 Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft und ein Gegner von Kully gewesen. Er galt als haltlos, hatte ständig Geldsorgen und lebte noch im Elternhaus, war nur 1,50 Meter groß und hatte einen Buckel, seit der Rückgratverkrümmung durch einen Schlittenunfall im dritten Lebensjahr. Vielleicht war er – eventuell zusammen mit Kolisko – bis zuletzt an den Löscharbeiten beteiligt gewesen und kam nicht mehr aus dem Bau. Auch Ott hatte vor einem möglichen Angriff an Silvester gewarnt, möglicherweise wusste oder hörte er etwas im Dorf, war in etwas einbezogen; sein Schicksal wurde nie aufgeklärt und seine Familie war von einem «Verbrechen gemeinster Art» durch den «Hass einer gewissen Partei» auf ihn überzeugt und beantragte noch im Juli 1923 eine Untersuchung. Diese Untersuchung, in deren Zentrum die Familie sehr wahrscheinlich Max Kully und die Schildwach-Bewegung sah, kam aber offenbar nie zustande – auch Gerichtspräsident Josef Haberthür gehörte der katholischen Fraktion und nationalkonservativ-klerikalen politischen Richtung an. Rudolf Steiner ging im Juli 1923 zu Jakob Otts Begräbnis, wie Christoph Lindenberg in seiner Chronik dokumentierte.
Es ist eindrucksvoll zu erleben, wie unkommentierte Augenzeugenberichte und zeitnahe Verhöre eine geschichtliche Vergegenwärtigung ermöglichen. Die Leserinnen und Leser der Publikation finden in ihr nicht die Antwort auf die Fragen, die der Brand aufwirft – sie finden weder den Täter noch das Bedingungsgefüge der Katastrophe. Dennoch kommen sie in ihrem lebendigen geschichtlichen Bewusstsein einen substanziellen Schritt voran.
Buch Motive. Dokumentationen. Zum Goetheanum-Brand 1922/1923. Die verschollenen behördlichen Brandakten. Verlag Angewandte Anthroposophie, Basel 2022, 348 S., 36 Euro.