Mit der Aufführung dreier Werke von Arvo Pärt wurde am Freitag, 16. Februar, im Berliner Konzerthaus das dreiwöchige Musikfestival ‹Der Klang des Baltikums› eröffnet. Der estnische Komponist war selbst zugegen und wirkte mit seinen 82 Jahren noch ganz jugendlich. Zu hören waren Pärts Werke ‹Como una cierva sedienta› für Sopran und Orchester, ‹Spiegel im Spiegel› für Violine und Klavier sowie ‹Te Deum› für Chor und Orchester. Ein Nachklang im Hinblick auf Ostern.
Am Anfang des 17. Jahrhunderts wurde ‹Die Chymische Hochzeit des Christian Rosenkreuz anno 1459› von Johann Valentin Andrea niedergeschrieben. Gegliedert in sieben Tage, schildert diese Schrift die Wanderung eines 80-Jährigen zur Einweihung in den Geist der Natur. Am Ende des ersten Tages und bevor der Erzähler sich aufmacht zur Wanderung, legt er sich schlafen und hat einen Traum. Im Traum findet er sich neben unzähligen anderen gefesselt in einem finsteren Turm. Die im Turm angeketteten Menschen können nichts sehen und krabbeln wie Bienen übereinander. Ähnlich ist die Lage der Menschheit, seit sie abgeschnitten wurde von jeglicher Geisterfahrung. Aber nur während der langen Epoche dieser oft bitteren Gefangenschaft im Turm kann die befreiende Kraft der Individualität heranwachsen. Die gefesselte Menschheit ist sich ihrer Lage kaum bewusst. Würde sie diese bewusst erleben und ihrer Not in Gesang Luft machen, könnte es so klingen wie das ‹Como una cierva sedienta›, der Vertonung einer altspanischen Psalmübersetzung für Sopran und Orchester.
Das zweite Stück wurde zauberhaft auf der Geige gespielt von Sayako Kusaka und auf dem Klavier vom Dirigenten Iván Fischer. Die Grundlage der Komposition ist einfach: Ein gebrochener F-Dur-Dreiklang wird vom Klavier in stetiger Wiederholung nur wenig variiert, während die Violine einen Mittelton umspielt. Es ist vielleicht das reinste Beispiel des von Pärt aus mittelalterlicher Einstimmigkeit abgeleiteten und von ihm selbst so genannten ‹Tintinnabuli-Stils›. «Ich habe entdeckt, dass es genügt, wenn ein einziger Ton schön gespielt wird», sagt er. «Ich baue aus primitivem Stoff, aus einem Dreiklang, einer bestimmten Tonqualität. Die drei Klänge eines Dreiklangs wirken glockenähnlich. So habe ich es ‹Tintinnabuli› genannt.» (Die in altrömischer Zeit gern bespielten Glocken wurden Tintinnabuli genannt.) Da sich die Melodielinien der Violine zweifach spiegeln, heißt die Komposition ‹Spiegel im Spiegel›. Das einfache Verfahren erzeugt eine unheimliche Spannung. Das Werk wurde daher in einem Dutzend Filmen eingesetzt und avancierte zu dem meistgespielten von Arvo Pärt.
Im Turmtraum der ‹Chymischen Hochzeit› bliesen die Menschen nur Trübsal, bis sie einst ein so kunstvolles Spiel von Trommeln und Trompeten hörten, «dass es uns dennoch in unserem Kreuz erquickte und erfreute. Unter solchem Getön wurde das Dach oben auf dem Turm hochgehoben und uns ein wenig Licht hereingelassen.» Auch beim Klagegesang ‹Como una cierva sedienta› hört man im Orchester Trommel und Trompeten. Im Traum wird in den geöffneten Turm sieben Mal ein Seil hinabgelassen, um Menschen, die es erhaschen können, hinaufzuziehen. Erst beim sechsten Mal gelingt es dem Wanderer, das Seil zu ergreifen. Er gehört zu den wenigen, die so befreit werden können.
Durch den Spiegel des physischen Leibes erwirbt der Mensch Selbstbewusstsein. Aber erst durch die Spiegelung dieses Vorgangs wird ihm der geistige Ursprung seines Bewusstseins selbst anschaulich. Der ‹Spiegel im Spiegel› ist das Seil, das die menschliche Seele aus dem Turm des Sinnenleibes ziehen könnte. Das Seil zu erfassen, erfordert die höchste Aufmerksamkeit und Aktivität. Aber einzig ein Baron von Münchhausen könnte sich selbst hochziehen. Aktives Ergreifen und Hingabe müssen verbunden werden. Während klassische Musik auch passiv genossen werden kann, erfordert zeitgenössische Musik innere Aktivität vom Zuhörer. Wie Arvo Pärts Musik, die viele Zuhörer anspricht, Aktivität mit erhöhter Hingabe vereint, verdeutlicht die Aussage einer Geigerin über ‹Spiegel im Spiegel›: «Man muss nichts mit der Musik machen, sie macht etwas mit einem.»
Das ‹Te Deum›, die lateinische Fassung einer der ältesten Hymnen der Christenheit, wurde oft vertont. Arvo Pärts ‹Te Deum› klingt anders. In den instrumental glockenartig bereitgestellten Klangraum singen drei Chöre den Lobgesang jeweils einstimmig in der von Pärt neu erfundenen Gregorianik. Manchmal verdichtet sich die Musik. Bei den sonst zumeist breit ausgeführten geheimnisvollsten Stellen wird sie besonders leise. Pärts ‹Te Deum› klingt, wie wenn durch das gehobene Turmdach der ‹Chymischen Hochzeit› der unaufhörliche Lobgesang der Himmelschöre hörbar würde.
Die Übersetzung der ersten Zeile des ‹Como una cierva sedienta› lautet: «Wie der Hirsch nach frischem Wasser, so lechzt meine Seele, Gott, nach dir.» Das ‹meine Seele› der Psalmen, sagt Arvo Pärt, «ist unser aller Seele, unser Lebensweg – ein Weg voller Leiden und Dramatik, zwischen Trost und Verzweiflung». Der Leidensweg des Menschen ist Thema der Oper ‹Adams Passion›, die Robert Wilson vor drei Jahren zu Musik von Arvo Pärt in Tallinn inszenierte. In der Karwoche wird ‹Adams Passion› in Berlin im Konzerthaus erneut aufgeführt.