Die Anschauung des Lebendigen und die aktuelle Philosophie der Biologie

Goethe verwendet den Ausdruck ‹Sehen mit Geistesaugen›, um seine imaginative Anschauung des lebendigen Organismus zu charakterisieren. Rudolf Steiners Darstellungen und Erfahrungen helfen, sie zu beschreiben und zu praktizieren. Auch außerhalb anthroposophischer Kreise ist die Frage nach der Anschauung des Lebendigen heute aktuell. Dazu hier einige Hintergründe.


In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schien die Frage nach dem Wesen und der Evolution des Lebendigen weitgehend gelöst: Zufällig aus Materie entstanden, sollten sich Organismen als gengesteuerte Überlebensmaschinen durch blinde Selektion allmählich zur heutigen Artenfülle entwickelt haben. Obwohl diese materialistisch-reduktionistische Auffassung immer noch die Lehrpläne der Schulen und Universitäten dominiert, gibt es seit der Jahrtausendwende sowohl unter Biologinnen als auch unter Naturphilosophen eine zunehmend breitere und tiefere Diskussion über die Frage nach dem Wesen des Lebens und seiner Evolution. Im Zentrum steht der Begriff des lebendigen Organismus, der von vielen als ein komplexes, sich selbst erzeugendes, autonomes und in aktiver Anpassung an seine Lebensbedingungen erhaltendes ‹System› verstanden wird1, wobei die spezifischen Eigenschaften des Lebendigen umfassend phänomenologisch beschrieben werden2. Tatsächlich gibt es an vielen Universitäten auf der ganzen Welt vorwiegend junge Philosophierende, die zu diesen Problemen forschen.

Viele Naturphilosophen beziehen sich auf Immanuel Kant, der das Problem des lebendigen Organismus in seiner ‹Kritik der Urteilskraft› so präzise beschrieb, dass seine Analyse heute immer noch die Grundlage entsprechender Forschung liefert3. Nach Kant können wir nämlich den Begriff des Lebendigen nicht mit unserem Verständnis einer toten, mechanisch wirkenden Natur vereinbaren. Man versucht deshalb – und hat seit alters her versucht – diesem Dilemma auf zwei verschiedenen Wegen zu entkommen. Entweder wird der lebendige Organismus als, wenn auch komplizierte, Maschine beschrieben, oder man nimmt zu übersinnlichen Lebenskräften Zuflucht, die jedoch spekulativ, das heißt nicht wissenschaftlich (empirisch) erforschbar sind. Von vielen Forschenden wird der oben beschriebene phänomenologische ‹Organizismus› als dritter Ausweg gesehen, der aber letztlich um die Frage nach der Entstehung und dem – übersinnlichen – Wesen des Lebendigen doch nicht herumkommt.

Man sieht aus all dem, wie nah die gegenwärtige Forschung in der Philosophie der Biologie an Goethes Zugang zur lebendigen Natur herankommt. Tatsächlich werden auch die Ansätze des deutschen Idealismus wieder in die Diskussion eingebracht4, und neben vereinzelten Beiträgen5 erschien vor Kurzem eine ausführliche fachphilosophische Monografie über Goethes Beitrag zu einem lebendigen Organismusverständnis6.

Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zu Rudolf Steiners Darstellungen von Goethes Organismus-Verständnis in den ‹Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften›, den ‹Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung› und in ‹Goethes Weltanschauung›.

Abenteuer der Vernunft

Die Beschäftigung mit Immanuel Kants Analyse des Erkenntnisvorgangs und des Organismusbegriffs zeigt, wie stark sich Rudolf Steiner in seinen erkenntnistheoretischen Schriften auf Kant bezogen und auf dessen Gedankengestaltungen und erkenntnistheoretischen Sprachformen aufgebaut hat (hier gäbe es – zusätzlich zu der ausgezeichneten Analyse von Dietrich Rapp zu Rudolf Steiners lebenslanger Kritik an Kant7– einiges zu entdecken). Kant hat jedoch erklärt, dass wir lebendige Organismen zwar beschreiben, aber nicht erklären könnten, weil wir keinen sinnlichen, empirischen Zugang zu den sie organisierenden und gestaltenden Lebenskräften haben. Goethe hat dieses Problem, das berühmte ‹Abenteuer der Vernunft›, durch seine ausführliche und hingebende Naturbetrachtung imaginativ gelöst («Das kann mir sehr lieb sein, dass ich Ideen habe, ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe»). Aber ohne Rudolf Steiners Erklärung der Tat und Bedeutung Goethes wären wir uns dessen heute wohl kaum mehr bewusst. Insofern führt eine aufsteigende Linie von Kant zu Goethe, und es erscheint als historisch symptomatisch, dass die ‹Kritik der Urteilskraft› und Goethes ‹Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären› beide an Ostern 1790 erschienen. Diese Linie wird in der Naturphilosophie immer mehr entdeckt. Von dort ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zu Rudolf Steiners Goethe-Interpretation, zu seiner Erkenntnistheorie und schließlich zu seinen Anleitungen in ‹Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten›, um zur eigenen Anschauung der gestaltenden Lebenskräfte zu kommen.


Veranstaltung
Vom 10. bis 13. Oktober 2024 veranstaltet die Naturwissenschaftliche Sektion am Goetheanum die Tagung Evolving Science 2024 – Diversität stärkt Identität. Christoph Hueck bietet dort eine Arbeitsgruppe zu diesem Thema an.
Kontakt c.hueck@yahoo.de


Mehr Evolving Science 2024

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Footnotes

  1. Alvaro Moreno, Matteo Mossio, Biological autonomy. A philosophical and theoretical enquiry. Dordrecht 2015. Matteo Mossio, Organization in Biology. Cham 2024.
  2. Bernd Rosslenbroich, Properties of life. Toward a theory of organismic biology. Cambridge 2023.
  3. Andreas Weber, Francisco J. Varela, Life after Kant: Natural purposes and the autopoietic foundations of biological individuality. In: Phenomenology and the Cognitive Sciences, 2002, S. 97–125. John Zammito, Teleology then and now: The question of Kant’s relevance for contemporary controversies over function in biology. In: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences, 2006, S. 748–770. Ina Goy, Eric Watkins, Kant’s theory of biology. Berlin, Boston 2014.
  4. Luca Illetterati, Andrea Gambarotto, The realism of purposes: Schelling and Hegel on Kant’s critique of teleological judgement. In: Rivista di Estetica, 2020, S. 106–118. Dalia Nassar, Romantic empiricism. Nature, art, and ecology from Herder to Humboldt. Oxford 2022.
  5. Steigerwald, Joan: Goethe’s Morphology: Urphänomene and Aesthetic Appraisal. In: Journal of the History of Biology, 2002, S. 291–328. Astrida O. Tantillo, The Will To Create. Goethe’s Philosophy of Nature. Pittsburgh 2002; Lukas Bauer, Ecological selfhood and Goethe’s third way between Erfahrung and Idee. In: Monatshefte, 2023, S. 42–64.
  6. Gregory Rupik, Remapping biology with Goethe, Schelling, and Herder. Romanticizing evolution. Milton Park, Abingdon, Oxon, New York 2024.
  7. Dietrich Rapp, Tatort Erkenntnisgrenze. Die Kritik Rudolf Steiners an Immanuel Kant; Protokoll eines Forschungsprojektes. Heidelberg 2012.

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