In der Pandemie steckt zweierlei an: der Virus und die Angst vor ihm und vor den wirtschaftlichen Folgen seiner Eindämmung. Wo liegt hier die Aufgabe der Anthroposophie?
Das Selbst und die Gemeinschaft
Neben der Coronapandemie erleben wir zurzeit eine zweite Infektion, jene durch Angst. So wie die Coronakrankheit sich durch Infektion verbreitet, so verhält es sich auch mit der Angst. Und so wie die Coronakrankheit sehr unterschiedliche Formen annehmen kann, so geht uns auch die Angst auf sehr unterschiedliche Weise an. Die Unterschiede betreffen hier aber nicht nur Grade in der Schwere der Krankheitsverläufe, sondern auch grundlegend verschiedene, ja polar entgegengesetzte Ausrichtungen. Die einen ängstigen sich vor der Ansteckung durch das unsichtbar-allgegenwärtige Virus, die anderen vor einer dramatischen Wirtschaftskrise und einem neuen und womöglich globalen Totalitarismus.
Das Missverständnis der erstgenannten Angst, der Ansteckungsangst, wurzelt in der Selbstbezogenheit: Das persönliche Risiko der Menschen ohne Vorerkrankung oder hohes Lebensalter ist gar nicht so hoch, wie es die Sprache der gegenwärtig verhängten Maßnahmen suggeriert. Die drastischen Maßnahmen sollen in erster Linie dem Schutz des Gesundheitssystems und dem der besonders Gefährdeten dienen und in zweiter Linie dem aller einzelnen Menschen. Wer das jedoch nicht zugrunde legt, der muss aus der Radikalität der Maßnahmen entweder einen Fehlschluss auf eine ebenso drastische Virulenz und Tödlichkeit der neuen Krankheit ziehen oder die Maßnahmen selbst für völlig unverhältnismäßig halten. Im Extremfall stellt sich dann sogar die Frage nach deren Rechtmäßigkeit oder deren verborgenen Motiven. Und damit befinden wir uns im Einzugsbereich der zweiten Angst, die zwar infiziert, aber keine Furcht vor der Infektion ist. Aber gleich, ob wir uns vor einer Infektion mit der Coronakrankheit ängstigen oder vor einer beispiellos unheimlichen Beraubung unserer freiheitlichen Grundrechte, in beiden Fällen ziehen wir nicht in Erwägung, dass das Beispiellose der Coronakrise auch in der Herausforderung bestehen könnte, das Verhältnis zwischen der Freiheit des einzelnen Menschen, dem Wohl der Menschengemeinschaft und dem Schutz der besonders Gefährdeten neu zu greifen.
Die paradoxe Signatur
Die Pest hatte fast jedem, der mit ihr in Berührung kam, den Tod gebracht; die Spanische Grippe von 1918 forderte mehr Todesopfer als der Weltkrieg. Dennoch musste nicht jeder, der erkrankte, sterben. Die Corona-Lungenkrankheit hat hingegen allem Anschein nach zwei sehr eigenwillige Eigenschaften:
Sie hat eine lange Inkubationszeit und sie kann in derzeit unbekannt vielen Fällen auch harmlos verlaufen oder schon überwunden sein, vergleichbar einem ‹grippalen Infekt›. Deshalb ist nur schwer abzuschätzen, wie weit sie sich schon ausgebreitet hat und wie hoch die Sterblichkeit der Erkrankten wirklich ist. – Wegen der langen Inkubationszeit müssen Maßnahmen zum vorbeugenden Schutz frühzeitig getroffen werden. Ob diese Maßnahmen übertrieben oder ob sie schon zu spät gekommen sind, wird sich erst im Nachhinein zeigen.
Wer hier den Kurs bestimmen und verantworten muss, hat ein schweres Amt. Es kann nicht ‹auf Sicht› gesteuert oder beurteilt werden. Wenn es bei Nachbarn, Freunden oder Angehörigen ‹real› geworden ist und allen durch die unmittelbare Erfahrung einleuchtet, ist es – wegen beider Eigenschaften dieser neuen Krankheit – zu spät.
Das Phänomen ist darüber hinaus auch auf der Handlungsebene paradox: Es sind eigentlich soziale Gründe – es sollte zumindest vernunftgemäß nicht primär persönliche Sorge um das eigene Wohlergehen sein –, aus denen heraus wir uns vorübergehend physisch-sozial in kleinsten Gemeinschaften isolieren. Dabei steht auf beiden Seiten, auf der des Individuums und auf der des sozialen Ganzen jeweils ein schwieriger Balanceakt an:
• Als einzelne Menschen fällt es uns nicht leicht, die Grenze zwischen dem unsozialen Ego und dem sozialen Selbst in uns zu ziehen. Setze ich die OP-Maske denn wirklich nur deshalb auf, weil sie die anderen schützt und weil, wenn alle es tun, das Ganze und die Schwachen geschützt werden? Oder suche ich nicht doch Schutz für mich selbst? Und unterstelle ich dem anderen, der sie trägt, das eine oder das andere Motiv?
• Auch auf der Seite des Ganzen gibt es eine schwer zu bestimmende Grenze: Wo handelt es sich um persönliche Einschränkung zugunsten eines berechtigten gemeinschaftlich-sozialen Handelns und wo beginnt der unterjochende Totalitarismus, der nur vorgeblich ‹vernünftig› mit dem Gemeinwohl argumentiert? Dass ein solcher Totalitarismus im Nachhinein durch die Hintertüre Eingang nehmen könnte, ist zumindest keine unberechtigte Sorge.
Sorge oder Angst?
Sorge oder Furcht sind etwas grundlegend anderes als Angst. Angst hat ihrem Wesen nach keinen Gegenstand, kein Wovor. Sie ist ein Abgrund, der sich selbst hinter jeder Menge an Rationalisierung verbirgt. Viele Menschen, die von der eigentlichen Angst befallen sind, wissen gar nicht davon. Das macht die Angst auch so virulent. Furcht und Sorge hingegen haben jeweils ein bestimmbares und korrigierbares Wovor und wissen um sich selbst. Den Unterschied erkennen wir auch an unserer Möglichkeitsfähigkeit. Solange wir noch unterschiedliche Möglichkeiten gegeneinander abwägen und wissen, dass wir uns fürchten, sind wir noch frei. Sobald wir uns aber in einer Situation wie der jetzt aufgekommenen ganz sicher im Besitz der Wahrheit wähnen, sind wir unfrei und bereits Bürger des Angsttotalitarismus, selbst dann, wenn wir den ins Visier genommenen Machttotalitarismus scheinbar mutig bekämpfen.
Die Prüfung in der Anthroposophie
Was ist in dieser Situation, die sich am Ende der Passionszeit des Jahres allgemein zuspitzt, die Prüfung innerhalb der Anthroposophie? Es gehört zu den Einsichten, die wir aus der Anthroposophie nicht wegdenken können, dass alle Versuchungen und Abwege jeweils einander polar entgegengesetzt sind und sich gegenseitig aufschaukeln können. Es gibt einen luziferischen und einen ahrimanischen Abweg, und diese Tatsache ist als solche nicht fatal, sondern eine der Konstitutionsbedingungen des menschlichen Ichbewusstseins. Zwischen luziferischem und ahrimanischem Abweg gibt es zudem keine statische Mitte, die man an bestimmten Kriterien dingfest machen könnte. Wir leben als ichbewusste Wesen in einer grundsätzlichen Unwägbarkeit, mit der Aufgabe, das immer wieder neu entstehende Ungleichgewicht auszugleichen. Diese Einsicht zu realisieren ist die erste und grundlegende Aufgabe. Und dann gehört es ebenfalls elementar zur Anthroposophie, dass sie ein Schwellenbewusstsein besitzt, genauer, dass sie darum weiß, dass die Gesetzmäßigkeiten der irdischen Welt und die der geistigen Welt sich voneinander unterscheiden, auch wenn beide Welten in Wechselwirkung zueinander stehen und ohne die jeweils andere nicht zureichend verstanden werden können. Es gibt kein ‹Himmelreich auf Erden› außer dem Reich, das der Totalitarismus errichtet, und das ist ja nichts anderes als die Hölle, die sich als Himmelreich tarnt. Das Himmelreich hingegen, das der auferstandene Christus gebracht hat, besteht in einer neuen Beziehung zwischen der irdischen und der geistigen Welt. Mit der Entwicklung von Schwellenbewusstsein entsprechen wir diesem Reich.
Karmaverständnis und Infektionsketten
In der irdischen Welt gehen wir durchaus mit rein physikalischen Phänomenen wie Infektionsketten und der Frage nach vorbeugenden hygienischen und anderen Maßnahmen um, kennen aber gleichzeitig von der geistigen Welt aus gesehen noch andere Gesichtspunkte als ausschließlich diese. Die Infektionstheorie ist keine Alternative oder Rivalin für ein tieferes Krankheitsverständnis oder ein Karmaverständnis. Materialismusschelte ist deshalb jetzt auch nicht angesagt, sondern als eine luziferische Versuchung zu überwinden. Die Aufgabe besteht darin, die Kraft zu entwickeln, das Wesen und den Sinn einer Krankheit oder gegebenenfalls auch einer Pandemie verstehen zu lernen, aber auf der anderen Seite dennoch alles Sinnvoll-Menschenmögliche zu tun, um diese Krankheit einzudämmen oder durch hygienische Maßnahmen im Vorhinein zu verhindern. Ohne ein Schwellenbewusstsein wäre das eine schizophrene Situation. Deshalb braucht es die Anthroposophie: Das Schwellenbewusstsein, das es kaum woanders als in der Anthroposophie gibt, sollte jetzt in dieser Krisensituation geübt werden – auch wenn es wehtut. Karmaverständnis fordert primär den Willen zur Selbstveränderung und nicht den zur Selbstverteidigung heraus. Nur so können wir das Unsere tun, um die Chance auf positive Erneuerung, die in jeder Krise enthalten ist, zu stärken.
Zeichnung: Jörg Ewertowski von Sofia Lismont