Im richtigen Moment, am Beginn einer neuen weltweiten Finanzkrise, einhundert Jahre nach dem Dreigliederungsimpuls und ein Jahr vor dem 100. Geburtstag von Steiners ‹Nationalökonomischem Kurs›, legt der Hochschullehrer Helmut Woll aus Bremen 14 Kommentare aus dogmengeschichtlicher Perspektive zu diesem Kurs vor.
Helmut Woll besteht darauf, dass es höchste Zeit dafür ist, da die bisherige Fachwissenschaft diese geisteswissenschaftliche Grundlegung der Weltwirtschaftslehre bisher komplett ignoriert habe. Wolls Resümee: Rudolf Steiner löst vollständig und methodisch das Wertproblem der Ökonomie, zu dem so viele Denkende Anlauf genommen haben. Wolls Arbeit ist ein fruchtbares Unterfangen, um diese Vorlesungen und Seminare neu zu lesen und tiefer zu verstehen. Hierfür ist der Kontext hilfreich, in dem die Kommentare stehen: Sie erscheinen im Buch zusammen mit Aufsätzen zu ‹Ivan Illich und Rudolf Steiner›, ‹In soziale Verantwortung (Schweppenhäusers Lebensleistung)›, ‹Die Kardinalfrage des Wirtschaftslebens›, ‹Alternative Denker mit lebenspraktischer Perspektive: Leopold Kohr, Ivan Illich und F. E. Schumacher› und anderen.
Besonders reizvoll ist, wie der Autor zur geistigen Grundlage der ökonomischen Fragestellungen in Kurzporträts die Leistungen von Karl Jaspers, Botho Strauß, Friedrich Georg Jünger und Seyyed Hossein Nasr mit heranzieht. Dadurch kann sichtbar werden, wie sich die geistesgeschichtliche Gretchenfrage nach der Religion in der modernen Wirtschaftswissenschaft durch die Entwicklung der höheren Erkenntnisformen von Imagination, Inspiration und Intuition erledigen kann. Schon drei Jahre nach der ‹Dreigliederungsbewegung› der Jahre 1919–1921 erwähnt Rudolf Steiner in sozialwissenschaftlichen Vorträgen: «[…] wenn wir so sprechen wie 1919, sind wir 100 Jahre zurück.» Das ist der Ausgangspunkt des volkswirtschaftlichen Kurses, um den ihn im Sommer 1922 Studierende dieser Disziplin und auch Praktikerinnen bitten, in dem der Vortragende mit ihnen um eine neue, umfassende und praktikable Weltwirtschaftserkenntnis ringt und die bisherige Nationalökonomie kritisch würdigt und erweitert.
Seither ist die Kluft zwischen herkömmlicher, sich methodisch beschränkender und der erkenntnismethodisch erweiterten Ökonomie nicht geringer geworden. Nur wenige Denker aus den Reihen anthroposophisch orientierter Wissenschaftstreibender haben sich in den vergangenen 100 Jahren um den Brückenschlag gekümmert. Helmut Woll orientiert sich selbst wissenschaftlich besonders an Hans Christoph Binswanger und dessen Kritik und Deutung der modernen Wissenschaft. Seine Ausarbeitung ist eine gelungene Einladung, den Kurs neu zu begutachten, und kommt zur rechten Zeit.
Helmut Woll, Kommentare zu Ökonomie und Religion. Books on Demand, Norderstedt 2021
Grafik: Fabian Roschka