Der in seiner Heimat verehrte und gefeierte amerikanische Dichter Robert Frost wäre am 26. März 150 Jahre alt geworden. Im Werk des uns wenig bekannten Lyrikers spiegelt sich ein lebenslanges Ringen mit existenziellen menschlichen Fragen und ein Jahrhundert US-amerikanischer Geschichte.
Frosts langes Leben vollzog sich im Schatten epochaler dramatischer Ereignisse wie den beiden Weltkriegen, der ‹Great Depression›, dem Abwurf der Atombombe oder der Kubakrise. Er nahm regen Anteil an der Politik, fand sich gegen Ende seines Lebens gar als Akteur inmitten weltgeschichtlicher Vorgänge und blieb doch immer ein Dichter intimster Innerlichkeit auf der Suche nach Spiritualität und Glaubenswahrheit. Frost wurde 1874 in San Francisco geboren und kam nach dem frühen Tod seines Vaters als Elfjähriger nach Neuengland im Nordosten der USA. Seine Mutter erzog ihn und seine Schwester in traditionell-religiöser Frömmigkeit. Früh stand für ihn fest, dass die Welt nicht nur aus Materie besteht. Bezeichnend dafür ist ein Gedicht, dessen Ursprünge bis in Frosts Highschoolzeit zurückreichen. Familiäre Nöte hatten ihn veranlasst nachzusinnen, warum es menschliches Unglück gab. Er zweifelte, ob Leid und Schmerz sich in einen höheren Plan einfügten und alles zum Guten gewendet würde, wie es die Religionen und vor allem seine Mutter immer wieder betonten. Seine Erkenntnis: Kommen Seelen auf die Erde, müsse jede einzelne freiwillig beschlossen haben, sich der Prüfung, die die menschliche Existenz darstellt, zu unterziehen. Nach langer Reifung entstand aus diesen Überlegungen 1906 das Gedicht ‹The Trial by Existence›. Darin malt Frost ein Bild der Seelen «im Paradies», die entgegen ihrer Erwartung, «ewig auf weiten Feldern mit Asphodelen» zu verweilen[noote] Die Asphodelenfelder waren in antiker Vorstellung eine jenseitigen Welt zwischen dem paradieshaften Elysium und der Unterwelt des Tartaros. Frost war mit Dichtung und Gedankenwelt der Antike sehr vertraut. [/note], auf ein neues Erdenleben eingestimmt werden, nicht um einer Belohnung willen, denn die Wiedergeburt ist bereits Belohnung: «[…] And where they sought without the sword / Wide fields of asphodel fore‘er, / To find that the utmost reward / Of daring should be still to dare […]».1
Hier führt ein junger Dichter den Reinkarnationsgedanken und die Verantwortung des Einzelnen für sein Geborenwerden vor. Gott tritt als handelnde Figur auf, er lenkt das Geschehen aus dem Hintergrund und begründet, warum man sich nicht an seine Wahl erinnert: « […] But the pure fate to which you go / Admits no memory of choice, / Or the woe were not earthly woe / To which you give the assenting voice.». Das Gedicht endet: «Tis of the essence of life here, / Though we choose greatly, still to lack / The lasting memory at all clear, / That life has for us on the wrack / Nothing but what we somehow chose; / Thus are we wholly stripped of pride / In the pain that has but one close, / Bearing it crushed and mystified.».2 Die Erinnerung wird gelöscht, damit wir das irdische Leid als schicksalhaft und nicht als selbstverschuldet oder gar gewollt betrachten.
Von dieser Vision ausgehend, spannt sich ein weiter Bogen religiöser, spiritueller, philosophischer und theologischer Fragen durch Frosts Leben und Werk. Dass er dennoch oft als Atheist angesehen wurde, zeigt, wie sehr er seine Überzeugungen und sein Erkenntnisstreben für sich behielt. Neben der Vieldeutigkeit seiner Verse wurden auch gelegentlicher Sarkasmus und Spott typisch für ihn, so etwa in dem Zweizeiler von 1956, in dem er Gott direkt anspricht: «Forgive, O Lord, my little jokes on Thee / And I’ll forgive Thy great big one on me».3 Nur wenn man um die harten Schicksalsschläge in Frosts Leben weiß, kann man die Tiefe dieses so leicht daherkommenden Satzes nachempfinden. Von kirchlich organisierter Religiosität hielt er zunehmend Abstand, wandte sich aber existenziellen Themen zu, wie der Rolle des Menschen in einer göttlichen Schöpfungsordnung. Frosts Gott, so einer seiner Biografen, sei dabei «fast immer der heftige Jehova des Buches Hiob und nicht der mildere Elohim, dem Adam und Eva im Paradies begegneten.»4
Ein Problem, das Frost beständig bewegte, war der Geist-Materie-Dualismus. Menschlicher Geist war für ihn göttlichen Ursprungs. Die Materie immer tiefer geistig zu durchdringen, sah er als Aufgabe des Menschen an. Zuletzt thematisierte er dies in dem Langgedicht ‹Kitty Hawk›. Seiner letzten Gedichtsammlung ‹In the Clearing› (1962) stellte er 18 (von 471) Zeilen daraus als Motto voran: «But God’s own descent / Into flesh was meant / As a demonstration / That the supreme merit / Lay in risking spirit / In substantiation. / Spirit enters flesh / And for all it’s worth / Charges into earth / In birth after birth / Ever fresh and fresh. / We may take the view / That its derring-do / Thought of in the large / Was one mighty charge / On our human part / Of the soul’s ethereal / Into the material.»5 Gott geht also das Risiko ein, im Schöpfungsprozess den Geist aufs Spiel zu setzen. Die Fleischwerdung des Geistes ist die Manifestation dieser Großtat.
Zwischen Geist und Materie
Anders als Rudolf Steiner, der zu einer Ablehnung des Dualismus gelangte und Materie als direkten Ausdruck des Geistes ansah, hielt Frost am Gegensatz von Geist und Materie fest, ebenso wie dem zwischen gut und böse oder richtig und falsch. Indem er aber beide Seiten in den Blick nimmt und gelten lässt, überbrückt er die Kluft. Er sagt nicht, welche Seite die richtige sei, geht aber in seinen Aussagen auch nie so weit, die konträren Aspekte einer Erscheinung oder eines Geschehens ineinander aufzulösen und zur Einheit zu verschmelzen. Im Wissen um die Untrennbarkeit von Polaritäten macht er den Zwischenraum transparent, sodass sich jede Seite auch durch ihre Antithese offenbart. Sich auf eine Seite zu schlagen, aber verweigert er. Diese Haltung ist typisch für Frosts Werk, in dem sich zahllose Beispiele für den oft widersprüchlichen Facettenreichtum menschlicher Wahrheiten finden. Etwa in ‹Mending Wall› von 1913, in dem zwei Nachbarn ihre gemeinsame Grenze begehen: Welches ist die richtige Auffassung: «There where it is we do not need the wall» oder «Good fences make good neighbors?» Auf welcher Seite steht der Sprecher – will er Mauern errichten oder niederreißen? Hier stehen sich konträre Haltungen gegenüber. In einem Interview sagte Frost, er habe dabei nur an die Unmöglichkeit gedacht, scharfe Linien zu ziehen und exakte Unterscheidungen zwischen gut und schlecht oder zwei Abstraktionen zu machen. Es gäbe keine starre Trennung zwischen richtig und falsch. ‹Mending Wall› stelle nur zwei Menschentypen einander gegenüber, von denen der eine sagt: «Es gibt etwas, das Mauern gar nicht mag», während der andere der Ansicht ist: «Sind Zäune gut, sind Nachbarn gut.» Später bekannte Frost: «Vielleicht war ich beide Personen in diesem Gedicht.»
We dance round in a ring and suppose,
But the Secret sits in the middle and knows.
Wege wählen
Welchen Weg gilt es einzuschlagen in ‹The Road Not Taken› (1914/15), da doch einer wie der andere erscheint? In diesem wohl berühmtesten Gedicht von Robert Frost muss sich ein Wanderer zwischen zwei Wegen entscheiden und wählt denjenigen, den er in ferner Zukunft in seiner Erinnerung als den «weniger begangenen» empfinden wird: «[…] Two roads diverged in a wood, and I – / I took the one less traveled by, / And that has made all the difference.» Diese letzten Zeilen haben seither die Interpretation dieses Gedichts in dem Sinn beeinflusst, dass das lyrische Ich die lebensentscheidende Wahl getroffen hätte, seinen Weg abseits der Massen zu gehen. Das Gedicht ist aber so verfänglich gestaltet, dass Lesende, die mit der Frostschen Doppelbödigkeit nicht vertraut sind, leicht übersehen, wie im Text zuvor dreimal die Gleichartigkeit beider Wege und damit die Bedeutungslosigkeit der Wahl betont wird. Die «difference» ist Illusion. Scheinbar preist Frost hier unangepasstes Verhalten, doch er war kein Nonkonformist. Gerade dieses bekannte Gedicht ist ein subtiler, nicht leicht zu lesender Beleg für die lebenslange unaufgelöste Ambivalenz, in der er sich bewegte, zwischen Religion, Tradition und Konformismus einerseits und Zweifel, Neuerung und Aufbegehren andererseits. Diese Widersprüchlichkeit schuf fruchtbarsten Boden für Frosts vielschichtige Poesie. Zu seinem verlässlichsten Anker in den Stürmen des Zweifelns wurde die Überzeugung, die Welt folge einem metaphysischen Plan, den er nach eigener Aussage zuweilen wie offen vor sich ausgebreitet sah.
Zwischen Gebundenheit und Freiheit
In einem seiner schönsten Sonette, ‹The Silken Tent› von 1938, thematisiert Frost ebenfalls einen Kontrast. Er zeichnet das idealisierte Bild einer Frau und setzt ihr Wesen gleichnishaft mit dem eines Zelts aus Seide in Beziehung: «She is as in a field a silken tent / At midday when the sunny summer breeze / Has dried the dew and all its ropes relent, / So that in guys it gently sways at ease, / And its supporting central cedar pole, / That is its pinnacle to heavenward / And signifies the sureness of the soul, / Seems to owe naught to any single cord […]» Der Gegensatz, der das Bild prägt, ist der zwischen Gebundenheit und Freiheit. Der Mittelpfosten, der die Zeltbahnen hält, verweist laut der Frost-Übersetzerin Ingeborg Schimonski «auf die Mitte und die Stärke der Person, die sich freiwillig und aus sich selbst heraus bindet, sodass die Integration der beiden scheinbar gegensätzlichen Bestrebungen gelingen kann.»6 Das Sonett, aus einem einzigen Satz gebaut, endet: «But strictly held by none, is loosely bound / By countless silken ties of love and thought / To everything on earth the compass round, / And only by one’s going slightly taut / In the capriciousness of summer air / Is of the slightest bondage made aware.»7
Das Mittel der Mehrdeutigkeit ermöglichte Frost, seine innersten Überzeugungen vor neugierigen Augen und Ohren zu verbergen – und sie doch auszusprechen. Selten ließ er sich auf eine ‹Meinung› festlegen, aber man darf diese scheinbare Uneindeutigkeit – oder auch Undeutlichkeit – nicht mit Beliebigkeit oder gar einem Mangel an Haltung verwechseln. Meinungen, sagte Frost einmal, habe er immer verachtet, gesucht habe er stattdessen Ideen. An Frosts Dichtung wurde ich erinnert, als ich im Goetheanum Nr. 33-34/2023 in Wolfgang Ritters Artikel ‹Forschungen mit dem Seelenkalender› das Zitat von Michael Debus fand: «Wer an esoterischer Kraft gewinnen will, müsse gelernt haben, Polaritäten in sich zu vereinen, denn der Esoteriker, so Rudolf Steiner, denke oder spreche nie, ohne den entsprechenden Gegenpol wenigstens leise im Hintergrund anzuschlagen.» Und auch Martin Walser formulierte 1995 in einem Interviewgespräch: «Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.» Robert Frost hätte beide Aussagen wohl unterschrieben.
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Titelbild Robert Frost 1910. Av Ukjent/Library of Congress. Public Domain-Merket 1.0 Universal
Footnotes
- «[…] Und sie suchten ohne Schwert / im weiten Asphodelen-Feld, / sie fanden, Wagnisse sind’s wert, / wer wagt, dem gilt höchstes Entgelt.» Die Übertragungen ins Deutsche hier stammen von Ingeborg Schimonski (nicht veröffentlicht).
- «[…] Doch grad ’s Geschick, zu dem man geht, / erlaubt nicht solch’ Erinnerung. / Und Erdenweh auch weh nicht tät, / gäb man ihm seine Billigung […] Des Lebens Quintessenz, gerafft: / Groß wählen wir, jedoch es fehlt / Erinn’rung, klare, dauerhaft, / dass wir nichts anderes gewählt, / zum Leben auf dem Wrack bereit. / Vom Stolz werden wir gänzlich frei, / und eins nur liegt uns nah im Leid, / wir tragen’s, wirr, zermalmt dabei.»
- Vergib mir, Herr, die Scherzerei’n mit dir, / vergeb dir auch den Riesenscherz mit mir.»
- Jay Parini, Robert Frost – A Life. New York 2000, S. 365.
- «Gottes Selbst-Absteigen / In Fleisch will was zeigen, / Will uns damit sagen, / Höchstverdienst besteht / Darin, Geist zu wagen, / Dass er wird konkret. / Fleisch betritt der Geist / wird’s mit Kraft vollführen, / Bricht in die Erde ein, / Geburt, Geburt, das heißt / Neues, neues Sein / Komm uns in den Blick, / Dass sein Wagestück, / Weiträumig gedacht, / Einbruch ist mit Macht / Auf des Menschen Part. / Ätherhafte Seele / geht ins Materielle.»
- Ingeborg Schimonski, So nette Sonette – Die 28 Sonette Robert Frosts (engl./dt.), Nachwort (unveröffentlichtes Manuskript)
- 8 «Dem Seidenzelt im Feld gleicht sie genau, / wenn Sonnensommerluft der Mittag bringt, / gelöst die Seile und verweht der Tau, / sodass es in den Ankern locker schwingt, / und sein zentraler Zedernpfosten scheint, / indem die Spitze aufzeigt zum Zenit, / als ob die Seelensicherheit er meint, / und ist wohl auch mit allen Schnüren quitt, / obschon sie keine Leine zu straff hält, / und sie mit Pflicht- und Liebesseidenband / zu jedem Ding auf dieser runden Welt / lose gebunden ist, doch leicht gespannt, / sie sich im kapriziösen Sommerwind / beim Geh’n der leichten Fesselung entsinnt.»