Jeder Tempel ist eine Brücke, eine Brücke zwischen Mensch und Gott, Menschheit und Göttlichkeit. Bei dem Isis-Tempel gilt dieses Brückesein auf einer Vielzahl von Ebenen. Er schlägt als Magnet für die Touristenströme die Brücke von der Antike in die Jetztzeit.
‹Perle des Nils› nennen viele Reisende den Isis-Tempel auf der Insel Philae ganz im Süden von Ägypten. Doch Anfang des 20. Jahrhunderts setzte der erste Nilstaudamm, der 1898 bis 1902 gebaut wurde, den Tempel unter Wasser. Unter Federführung der UNESCO sammelten 50 Nationen Know-how und Finanzen, um den Tempel in den 70er-Jahren zu retten. Aus der Perle des Nils wurde das größte Puzzle der Erde, denn die beauftragten Baufirmen zersägten die Tempel der Anlage in 37 363 einzelne 2 bis 25 Tonnen schwere Steinblöcke und bauten sie auf der benachbarten, höher gelegenen Insel Agilkia wieder auf. Dazu musste der Tempel zuerst durch eine Staumauer trockengelegt werden. Außerdem musste diese Insel ebenfalls aufgeschüttet und eingeebnet werden. Der Tempel steht somit heute auf künstlichem Grund. Nun mag man einwenden, dass ein so zerstückelter und von seinem ursprünglichen Ort verbannter Tempel nicht mehr das Heiligtum ist, das er war. Das ist natürlich richtig und zugleich spiegelt, ja steigert dieser steinerne Umzug, Ab- und Aufbau etwas von dem Geist des Tempels, denn Auf- und Umbau gehören hier zum Programm, wie auch, dass andere Völker beteiligt sind. Die Tempelanlage liegt am nördlichsten Katarakt des Nils, dort, wo Felsen und Stromschnellen den Strom nach Süden hin versperren und ein Tor zum inneren Afrika bilden. Dadurch wird die Tempelanlage zu einem Grenzort. Als ich kürzlich den Tempelvorhof betrat, standen alle paar Meter, geschützt vom Schatten des Säulengangs, Reisegruppen. Beim Vorbeigehen erklang jeweils eine Sprache, in der die Führerin oder der Führer das Heiligtum, den Mythos um Isis und Osiris und ihren Sohn Horus erklärte: auf Französisch, Chinesisch, Englisch, Niederländisch, Deutsch. Es werden hier nicht die zehn Millionen Besucher und Besucherinnen sein, die jährlich die Pyramiden besuchen, aber es sind auch hier nicht wenige und sie kommen aus der ganzen Welt. Mögen noch so viele Handys gezückt werden, um das Antlitz der kosmischen Göttin Hathor an den Säulen oder die Begegnung von Gott und Mensch auf den Reliefs zu bannen: Was all die Gäste auf die Insel geführt hat, sind tiefere Gründe. Das zeigen die Blicke der Angereisten und manches stille Nicken, wenn die Fremdenführer, die Kunsthistorikerinnen erklären, erzählen und deuten.
Ein Grenzstein in Raum und Zeit
Die Tempelanlage ist nicht nur räumlich Grenzstein, auch zeitlich ist sie eine Schwelle. Denn mit Nektanebos I ist ein Pharao der letzten ägyptischstämmigen Dynastie Gründer des Tempels. Ausbau und Erweiterung stammen dann von griechischer und römischer Hand. Die Generäle von Alexander dem Großen, die sogenannten Ptolemäer, haben hier gebaut, haben bauen lassen und überlebensgroß steht so der griechische Statthalter Ptolemaios XII auf dem Pylon am Eingang des Tempels, opfert den Gottheiten Isis und Horus und schützt das Land vor Feinden. Dabei folgt der Grieche dem ägyptischen Kanon. Er lässt keinen griechischen Tempel bauen, hellenisiert allerdings den ägyptischen Baustil, gibt den Reliefs Körperlichkeit. So geschieht nicht das, was heute vielleicht als ‹kulturelle Aneignung› befragt wird, es ist vielmehr die Würdigung dessen, was Griechen und Römer in Ägypten antreffen. Sie lassen den ägyptischen Mythos im griechischen und dann römischen Verstehen nachklingen. So sind die ptolemäischen Tempel ein Echo, ein Geschichtsbuch ägyptischer Spiritualität und machen auch das sichtbar, worüber die Ägypter geschwiegen haben. Dazu zählt die erste vollständige Abbildung der zwölf Tierkreisbilder im Hathor-Tempel von Dendera. Der Isis-Tempel zeigt somit den Wandel von der früheren Gewissheit göttlicher Gegenwart zum Manifest der menschlichen Persönlichkeit. Wer in den Reliefs ägyptische Geistigkeit sucht, spürt wohl, dass hier nur noch das Echo eines Echos zu fassen ist. Und wer in der architektonischen Komposition wie im griechischen Tempel Ausdruck des Menschlichen sucht, findet wenig – ein Tempel als Übergang. Im Allerheiligsten der Tempelanlage, dort, wo das Kultbild aufbewahrt wurde, findet man dann das Bildnis der Isis als Relief. Es zeigt, wie sie Horus als ihr Kind stillt. Das Relief weist auf mehr als nur die mütterliche Fruchtbarkeit. Isis als ‹Dea lactans› schenkt dem Göttersohn die himmlische Kraft, wie es der Ägyptologe Jan Assmann deutet. So weist der Isis-Tempel auf die vorchristlichen Wurzeln der christlichen Vorstellung der Mutterschaft von Maria hin. Interessant: Bis ins sechste nachchristliche Jahrhundert, länger als alle übrigen Tempel Ägyptens, pflegte die ägyptische Priesterschaft hier den Tempeldienst. Dies war möglich, weil die weiter südlich ansässigen Meruiten im Isis-Tempel die nubische Gottheit Mandulis als Sohn des Horus verehrten und so das Heiligtum auch wirtschaftlich förderten.
Jeder Tempel ist eine Brücke, eine Brücke zwischen Mensch und Gott, Menschheit und Göttlichkeit. Bei dem Isis-Tempel gilt dieses Brückesein auf einer Vielzahl von Ebenen. Der Tempel verbindet das antike Ägypten mit dem antiken Nubien. Der Tempel schlägt als Tempel im ausgehenden Ägypten die Brücke zu Griechenland und Rom und Christentum. Er schlägt als Magnet für die Touristenströme die Brücke von der Antike in die Jetztzeit.
Selfie mit dem Pharao
Die Gefühle mischen sich, wenn man sieht, wie Besucher und Besucherinnen ihre Handykamera auf sich richten und sich zusammen mit dem Pharao abbilden. Doch an die Stelle von Kopfschütteln tritt ein stilles Nicken, denn so hat sich die Zeit gewendet: Heute ist jede und jeder wie einst der Herrscher berufen, die ‹geheimen Reden der Nacht› zu hören. Galt es damals, himmlischen Willen auf die Erde zu bringen, so gilt es heute wohl, den irdischen Willen himmlisch werden zu lassen. Auch dafür ist der Tempel eine Brücke.